G: rezensionen
Kurt Drawert, Wo es war. Gedichte (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996)
Zwei Jahre nach der Vereinigung Deutschlands bescheinigte Durs Grünbein
der jungen ostdeutschen Künstlergeneration in einem lyrischen Manifest
eine Haltung von "frischer Zuversicht..., Appetit auf Moden, Techniken, Konzepte,
... ein Rundumoffensein" ("Transit Berlin," 1992). Nur sechs Jahre trennen
diesen Lyriker altersmäßig von dem 1956 geborenen Autor Kurt Drawert.
Doch der Tenor der von Drawert nach der Wende publizierten Werke ist alles
andere als zuversichtlich. Zwar gesteht auch Drawert in seinem neuen Lyrikband
von 1996 ein, den materiellen Freuden und Sinnesreizen der neuen Gesellschaft
durchaus nicht abhold zu sein: "Ich gestehe, im Land der Verwöhnten/
lebe ich gern, gern nehme ich/ Verwöhnungen hin, ich wehre mich sehr
gerne// nicht mehr, doch mehr gestehe ich nicht" ("Geständnis"). Der
Akzent liegt auf dem "doch". Der gesamte Lyrikband mit seinen 58 Gedichten
- vorrangig Drei- und Vierzeiler - ist eine einzige variationsreiche Umspielung
dieser suggestiv entgegensetzenden Konjunktion , die Enttäuschungen,
Hoffnungslosigkeit und - wie Drawert es einmal in einem Interview faßte
- "permanente Zukunftslosigkeit" signalisiert. Erwartet der Leser nun allerdings
Stimmungen von Nostalgie/Ostalgie in dieser Gedichtsammlung, so sieht er
sich getäuscht. Beladen mit der quälenden Erblast DDR und der daraus
resultierenden Sprachskepsis, begreift sich Drawert unter den neuen
veränderten kommerziellen Bedingungen in einem gesellschaftlichen Leerraum,
der von der fortwährenden Erfahrung des radikalen Sinnverlustes und
Bedeutungswandels der Dinge und ihrer sprachlichen Zeichen geprägt
ist.
In seinem 1992 erschienenen Essayroman Spiegelland. Ein deutscher
Monolog stellte Drawert Sozialisierungserscheinungen seiner Herkunft
in den Mittelpunkt, wie er sie vor allem im Medium der Herrschaftssprache
erlebte. Das Buch ist eine Untersuchung seiner Sprachverweigerung, seiner
Sprachhinterfragung und einer tiefgehenden, lähmenden Sprachskepsis.
Es endet mit einem Essay, der den vielsagenden Titel "Kein Ende. Kein Anfang"
hat; damit ist der Ton für den vier Jahre später folgenden Lyrikband
Wo es war gesetzt. Spürte der Autor in den kommerziellen
Worthülsen und in der medialen Sprache der bundesdeutschen
Verbrauchergesellschaft nach der Wende sofort neue Formen von "Wortverbrechen",
so werden diese jetzt genauso intensiv empfunden und abgelehnt wie die
beschädigte, korrumpierende Sprache des realen Sozialismus. Die Sprachkrise
währt unter verändertem gesellschaftlichen Vorzeichen fort und
mit ihr jene existenzerschütternde Lähmung und Hoffnungslosigkeit,
die Drawert in seinen in der DDR entstandenen Texten gestaltete. Leitmotivisch
durchzieht das Thema des Fremdseins in der DDR und der BRD den neuen Lyrikband:
der Dichter als Nichtdazugehöriger ("Wo immer ich bin, bin ich fremd"
["Unterwegs"]), dessen "Ortswechsel" von Sachsen nach Niedersachsen - so
ein Gedicht -nichts Neues, bestenfalls andere Formen altbekannter
Kommunikationslosigkeit bringt: "Nirgendwo bin ich angekommen./ Nirgendwo
war ich zuhaus". Zahlreiche signalisierende Gedichttitel umkreisen den "Status
melancholicus" eines Heimat- und Wurzellosen, Titel wie u.a. "Unterwegs",
"Man kann nichts dagegen machen", "Warten", "Das bleibt nun so" oder -
resigniert-lakonisch - "Nichts". Der gesamte Band ist durchzogen von einem
bildlichen Instrumentarium, das Verlusterfahrungen, Vergeblichkeit und Leere
suggeriert. Sinkende Schiffe, Strandgut, Treibholz, Risse, Brüche, Staub
und Fäulnis dominieren, und immer wieder neue bildliche Formen der Figur
des Fremdlings tauchen auf, in deren Projektionen der lyrische Sprecher sich
mitbegreift. Ein Gedicht trägt den vielsagenden Titel "Kaspar Hauser",
eine Figur, die Drawert in einem anderen Gedicht in dem Versatzstück
"Kaspar-Hauser-Legion" zum Symbol einer Gruppenerfahrung Deplazierter verdichtet:
"daß wir am Wegrand/ der Geschichte ausgesetzt wurden/ und Findelkinder
sind, Bastarde,/ Waisen bei befleckter Empfängnis// und bei keinem Namen
zu nennen,/ eine Kaspar-Hauser-Legion,/ verschüttet in den Trümmern/
der Bau-auf-Konstrukteure, ..." ("Tauben in ortloser Landschaft").
Wahlverwandtschaften zu Dichtern wie Trakl, Büchner, Heine und
Hölderlin sind offensichtlich, ebenfalls zu Uwe Johnson, über dessen
spezifische Form von Fremdheit und Heimatlosigkeit Drawert in einer dem Band
beigegebenen Rede ("Die Abschaffung der Wirklichkeit") berichtet, die er
beim Empfang des Uwe-Johnson-Preises 1994 gehalten hatte.
Die Gedichtsammlung Wo es war besteht aus drei Teilen mit den Untertiteln
"In dieser Lage", "Leer und sehr blau" und "Wo es war". Daß die
prägenden Grunderfahrungen von Leere und Sprachskepsis in jenem Teil
Deutschlands gemacht wurden, von dem jetzt nicht mehr existiert als "ein
Brandfleck", manifestiert sich in der emphatischen dreimaligen Wiederholung
des Satzfragments "Wo es war": als Titel des Gesamtbandes, als Titel eines
seiner drei Teile, als Gedichttitel. Der erste Teil, "In dieser Lage", handelt,
wie der Titel vorgibt, von Formen der Fremdheit im bundesdeutschen Land,
das weder Heimat ist noch Identifizierungspunkte gibt. Ein ironischer Päan
auf die Marktwirtschaft, genannt "Heimatgedicht, C-Dur", spricht für
sich selbst: "wir können doch stolz sein auf dieses/ mein Vaterland
mit so schönen Enten./ Und auf all deine Siege, Boris". Im zweiten Teil,
"Leer und sehr blau", verdichtet sich das Gefühl von Verlust und
Desorientierung zu einem umfassenden Vanitas-Erlebnis, das weit über
politisch Gesellschaftliches hinausgeht und alle vom Menschen erlebten
Erfahrungsbereiche einschließt: sterbende Natur, vergängliche
Liebe, nichtssagende schöne Künste, sinnentleerte Sprache,
bedeutungslose Freiheit, ein Gedächtnis, dem man nicht trauen kann.
Die Farbe Blau, in der mythologischen Überlieferung Symbol der Wahrheit
und Beständigkeit, erscheint bei Drawert vorrangig mit Verweis auf die
literarische Tradition der Romantik: als Chiffre von Unbeständigkeit,
dann in barocker Steigerung von Schemenhaftigkeit und Vergänglichkeit.
Auch die glänzende Scheinwelt und Substanzlosigkeit der bundesdeutschen
Konsumentengesellschaft ist dem unterworfen: "Ein anderer Himmel,/ zum Greifen
zu hoch/ und zum Sterben zu blau./ Das bleibt nun so" ("Das bleibt nun
so").
Daß die vorherrschende Stimmung von Trübsinn und Apathie dem Leser
nicht aufs Gemüt geht und er das Buch gelangweilt aus der Hand legt,
liegt - nach Meinung der Rezensentin - vor allem an den Gedichten des dritten
Teiles des Lyrikbandes, "Wo es war", die sich mit dem Verschwinden der DDR
und ihrer Entlarvung befassen. Diese Gedichte sind von ergreifender
Intensität, spiegeln die Zerrissenheit eines Menschen, der sich im
"Nirgendwo" bewegt. Im Zentrum steht der unlösbare Widerspruch, daß
Lüge Heimat und Gehaßtes vertraut sein können. Fast erschrocken
und verwundert über sich selbst, gestaltet der lyrische Sprecher auf
liedhafter Heinescher Folie das Unvereinbare: "Das Land, von dem die Rede
geht,/ es war einst nur in Mauern groß,/ dies Land, von Lüge
zugeweht,// ich glaubte schon, ich wär es los./ Ich glaubte schon, es
wär entschieden,/ daß wer nur geht, auch gut vergißt.//
Doch war nun auch ein Ort gemieden, / der tief ins Fleisch gedrungen ist./
Als fremder Brief mit sieben Siegeln// ist mir im Herzen fern das Land./
Doch hinter allen starken Riegeln/ ist mir sein Name eingebrannt" ("Mit Heine").
Der Gestus des Erstaunens über das Unversöhnliche,
Unverständliche durchzieht die zwanzig Gedichte dieses letzten Teiles.
Der Ton ist schlicht. Die Aussage überzeugend und ansprechend. Das macht
den Lyrikband zu empfehlenswerter Lektüre, zu einem deutsch-deutschen
Zeitdokument im sechsten Jahr nach der Vereinigung. Drawerts Psychogramm
deutet jedoch keineswegs auf lähmende Stagnation. Vielmehr spürt
man eine resignierte Entschlossenheit und nüchterne Akzeptanz: "und
so können wir/ gut ohne Hoffnung bleiben// und kommen voran ... // 'in
diesem anderen, sehr fremden Land'" ("Tauben in ortloser Landschaft").
Christine Cosentino
Rutgers University
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