G:  interview


"poesie ist ja nichts angenehmes" — gespräch mit herta müller

folgendes gespräch zwischen wolfgang müller und der autorin, herta müller,  fand am 5. 7. 1996 in carlisle am dickinson college statt, wo herta müller im frühjahrssemester 1996 "writer in residence" war.

wm: Du bist im banat, in nitzkydorf aufgewachsen, hast in temeswar studiert und bist 1987 nach deutschland gekommen. Ist oder war die bundesrepublik ein exilland für dich?

hm: Wahrscheinlich solange, wie ceausesku an der macht war. Ich bin ja aus politischen gründen weg, ich durfte nicht zurück ins land. Da gab es todesdrohungen, da kriegte ich anonyme anrufe, und da mußte ich mich vor allen rumänen schützen, die ich nicht kannte, aber auch vor anderen. Ich mußte überlegen, ob ich die freunde, die in rumänien geblieben waren, telefonisch oder brieflich noch weiter "belästige", obwohl sie sich das gewünscht haben. Denn ich wußte, wenn ich sie kontaktiere, werden sie herumgezerrt, verhört und drangsaliert werden. Damals habe ich auch nicht gewußt, wie lange ceausesku noch an der macht sein wird. Ich dachte, er überlebt mich — bei diabolisierten gestalten meint man ja immer, daß sie übermächtig sind und einen überleben. Wenn man dazu noch so kaputt ist und sich fast am ende sieht, dann ist die vorstellung, die ich hatte, daß ich nie wieder zurück könnte, gar nicht übertrieben. Ich habe mich auch von meinen freunden so verabschiedet, als würden wir uns nicht mehr sehen. Aber danach ist die situation für mich nicht mehr die von exil gewesen. Außerdem gehörte ich in rumänien zur deutschen minderheit und habe letztendlich nach langem hin und her die deutsche staatsbürgerschaft erhalten, die rumänien-deutsche automatisch bekommen.

wm: Du gebrauchst den begriff heimat nicht gerne...

hm: Ich mag das wort nicht so. Ich bin bei dem wort immer skeptisch, weil es immer dann gebraucht wird, wenn irgend etwas nicht mehr vorhanden ist. Wenn die dinge stimmen, und wenn man in eine umgebung hineinschlüpfen kann, ohne daß einem ständig bewußt ist, daß man das tut, dann braucht man das wort nicht. Wenn aber die umgebung so ist, wie sie in meinem fall war, also einmal diese diktatur, dann auch noch diese minderheit, mit der ich ja den konflikt wegen der bücher hatte, dann stimmt das sowieso nicht mehr. Wenn diese umgebung mich überhaupt nicht akzeptiert, dann kann ich 100 jahre dort leben und die fußsohlen nie aus dieser gegend heben, und ich werde doch nie in einer sogenannten Heimat sein. Die ist dann fremder als alles andere, wo man hinkommt. Ich glaube, das wort wurde auch mißbraucht, das ist ja auch so ein wort, mit dem man alles anstellen kann. Das haben die nazis ja sehr deutlich gespürt. Auch in rumänien wucherte das durch die lyrik, durch die staatslyrik, durch die reden und auch durch die ansprüche des staates. Heimatliebe war etwas, was das system einem abverlangte. Natürlich war es staatsliebe und keine heimatliebe, denn wenn man das land als gegend und die menschen geliebt hätte, hätte man nicht mehr staatstreu sein können, weil der staat genau die kaputt gemacht hat.

wm: In deiner rede, anläßlich der verleihung des kleist-preises, sprichst du davon, daß es keinen durchblick auf das leben geben könne. Warum nicht?

hm: Weil immer alles anders kommt, als man es sich vorstellt. Daß ich das jetzt so allgemein sage, ist natürlich waghalsig. Bei mir kommt es daher, daß ich sozusagen "ideologiegeschädigt" bin. Ideologien haben ja immer den durchblick, oder haben immer vorgegeben, den durchblick zu haben. Wer diesen durchblick hat, muß eine projektion haben, die dann nicht verändert werden kann. Dann muß die realität diesem durchblick entsprechen, und sie wird mit allen mitteln an diesen durchblick angepaßt. Wenn alle konkreten dinge dagegen sprechen und anders sind, dann werden sie gebeugt, bis sie sich an diese linie anlehnen, und das heißt dann repression. Selbst in der familie, wenn wir das kleine nehmen, wenn jemand weiß, wie so ein kind aussieht, wenn es erwachsen ist, das geht auch nur durch repression. Im staatlichen modell läuft das genauso.

wm: In deinem essay, "Die vorhandene Zeit — oder das Wort 'tatsächlich'", schreibst du sehr schön: "der aberglaube ist die poesie der ahnungslosen..." Könnte es auch umgekehrt stimmen: die poesie ist der aberglaube der ahnungsvollen?

hm: Der aberglaube wird ja von der institution kirche gefürchtet. Der glaube ist das, was die kirche vertritt und was berechenbar ist. Das ist ja vorgegeben, das ist ja ein muster. Der aberglaube hat kein muster. Er ist spontan. Er ist emotional, und er verändert sich auch, und er entsteht auch immer neu. Er ist etwas, was lebendig ist. Das ist etwas, was im glauben nicht möglich ist. Wenn man sich vorstellt, das "vater unser" könnte ständig verändert werden — an dieser angst würde der papst sterben, wenn das möglich wäre. Beim Aberglauben verändert sich alles. Die dimensionen sind nicht kalkulierbar. Und auch der ort — wenn ich jetzt in die kirche gehe, dann weiß ich, ich gehe hin, dann bete ich, und dann gehe ich nach Hause. Wenn mir aber eine schwarze katze über den weg läuft, dann weiß ich das vorher nicht. Es ist also immer dieser zufall. Wenn man daran glaubt, dann ist es in diesem moment ein unglaublich poetisches bild. Und was ist poesie anderes, als das sich in einem moment, durch etwas , was wir gar nicht genau begründen können, alles umstülpt. Das tut der aberglaube ständig. Ich bin nicht abergläubig, ich habe aber so viel im laufe der jahre über dieses phänomen gelernt, und ich habe es als kind natürlich auch praktiziert in einer welt, die in solchen dimensionen lebte, daß ich solche dinge weiß und sie wiedererkenne. Der unterschied ist, daß ich heute weiß, eine schwarze katze ist pech. Früher als kind wäre ich umgekehrt oder hätte die straßenseite gewechselt, heute mache ich das natürlich nicht mehr, aber einfallen tut es mir natürlich.

wm: Deine texte leben von der eindringlichkeit der bilder, von der schönen ungewöhnlichkeit vieler metaphern, vielleicht auch von diesem aberglauben. Entsteht dann nicht auch, wenn das so wäre, hinter der welt, die beschrieben wird, eine zweite welt der poesie, eine welt des aberglaubens, wenn man so will, in der es bedeutung gibt, sinn über den tod hinaus.

hm: Ich glaube es gibt nur eine welt. Das was du glaubst, daß da eine zweite dahinter entsteht, das gehört für mich in die erste welt hinein. Ich glaube, die poesie ist in der welt, nicht in der sprache. Die poesie der sprache ist ein nonsens, es gibt die poesie der welt. Welt, das klingt vielleicht sehr aufgeblasen. Es ist vielleicht der blick. Wenn es nicht im blick ist, dann kommt es nicht in die sprache. Wie soll es in die sprache kommen? Die sprache ist für mich eine geruch-, geschmack- und farblose sache, und es hängt ja immer individuell von jedem einzelnen ab, was er daraus macht. Die sprache transportiert ja nur. Sie ist ja nicht an sich inhalt, sie transportiert ja nur. Sinngebung — was hat einen sinn? Ich weiß nicht. Es ist wie mit allen anderen dingen auch, wir müssen uns damit abfinden, daß es einen sinn gibt, sonst können wir ja nicht leben. So ist es mit dem schreiben auch, aber ich glaube nicht, daß da ein anderer sinn ist als der, den ich mir jeden tag auch in den kopf setzen muß, wenn ich die augen öffne und sage, so jetzt ist es morgen, jetzt fängt ein tag an. Sinn jenseits des todes — es interessiert mich nicht. Also ich bin so egoistisch, es interessiert mich nicht, ob das, was ich mache, dann noch einen sinn hat oder ob er sich darüber hinaus verlängert. Der gedanke ist mir eher unerträglich, wenn ich mir das vorstelle, daß da dinge weiter herumgeistern und mich überleben. Das ist das gleiche problem wie mit gegenständen. Ein wasserglas, wenn es nicht zerbricht, überlebt hundert menschen. Ein auf papier gedrucktes werk ist auch ein gegenstand. Aber der text, wie ich ihn dann in meinem schädel habe, ist dann abgeschlossen für mich, wenn ich ihn im Schädel habe. So hat dieser keine chance, einen sinn zu kriegen jenseits von mir und länger zu dauern, als der augenblick, in dem ich mich mit ihm auseinandersetze. Das ist beruhigend. Ein schuster oder ein schneider oder jemand, der einen baum pflanzt, haben das gleiche problem, dass alles, was wir herstellen, uns überlebt. Und es hat keinen sinn. Ich meine, hat ein baum einen sinn? Er hat vielleicht einen sinn, weil er ein baum ist, dann hat aber ein text auch einen sinn, weil er ein text ist.

wm: Aber wenn der baum dir "unter die schreibfeder kommt", dann gibt es auf einmal bedeutung, die über den baum hinausgeht.

hm: Die ist schon in dem baum schon drin, woher hätte ich sie sonst?

wm: Aber dann gibt es eine welt, die dich überlebt, wenn die poesie in der welt, in dem baum selbst ist, dann überlebt sie dich, oder?

hm: Ja, aber nicht durch mein zutun. Der baum wird dann auch für die nächsten generationen eine bedeutung haben, die "poesie des baumes" wird im blick dieser generation entstehen. Dazu habe ich nicht beigetragen. Die ist dann schon in dieser welt.

wm: Aber ohne dich würde man das vielleicht nicht sehen.

hm: Sicherlich, ich lese ja auch bücher von anderen leuten, und diese redewendung "man sieht, was man weiß" — natürlich trifft sie zu, und nicht nur auf konkretes. Für mich entsteht diese sicht durch literatur. Man borgt sich dann eben den blick, oder man stiehlt ihn, und man gibt ihn auch nicht mehr zurück. Man muss ja nicht mehr zurückgeben, was man vom blick des anderen gestohlen hat. Es ist ja auch kein diebstahl. Es ist trotzdem eine art sich zu bedienen, von dem, was einem anderen schon einmal durch den kopf gegangen ist.

wm: Wen hast du "bestohlen"?

hm: Ich habe ja eben schon einmal thomas bernhard erwähnt. Für mich war er sehr wichtig. Für mich waren die frühen bücher von handke sehr wichtig. Ich betone die frühen bücher, weil ich mit den späteren nichts mehr anfangen konnte. Wo auf einmal die heile welt in die dinge hineinrutschte, da hatte ich für handke kein verständnis mehr. Ich glaube, handke hatte die kenntnis des details, die er als junger mensch wie kein anderer beherrschte, völlig zugeschüttet, verkleistert mit ideologie, sei es heimat oder obsessives suchen nach glück. Damit hat er seine eigenen details zugeschüttet. Darum sind seine ersten bücher ja auch so genau, bis in den atem genau, und die anderen sind eigentlich nur noch schwülstig für mich. Oder thomas bernhard — wenn man an dieses phänomen deutsche minderheit und banat-schwäbisches dorf oder, dann parallel dazu, diesen staat und diese diktatur denkt — habe ich aus thomas bernhards büchern über das banat-schwäbische dorf mehr erfahren als aus jedem anderen buch, das in der umgebung, in der ich gelebt habe, entstanden ist. Oder genauso von márquez mit seinem buch hundert jahre einsamkeit. Beim lesen hat auch immer bewußt oder unbewußt diese suche nach dem eigenen stattgefunden. Das ist für menschen, die in kontrollierten gesellschaften leben, typisch. Ich habe später das tagebuch von imre kertész gelesen, der im konzentrationslager gewesen war und auch den Stalinismus erlebt hatte. Er beschreibt diese suche nach lebenssinn in seinem tagebuch, und er sagt — letztendlich hat er nichts haltbares für das eigene leben bei den philosophen gefunden — alles was ihn bei den philosophen interessierte, hätte in den nebensätzen gestanden. Und dann war da plötzlich der satz: "alles wissen, das nicht mit uns zu tun hat, hat wirklich keinen sinn". Mich hat das so gefreut, daß einer das auf den punkt gebracht hat, weil ich immer schon diese meinung hatte, ohne sie vielleicht bewußt zu denken oder auszusprechen. Die ganze beziehung in diktaturen zur literatur ist ja eine völlig andere als in einer demokratischen gesellschaft, weil ja literatur alle sachen übernimmt, die in der gesellschaft nicht erlaubt sind. Wo es keine öffentlichkeit gibt in der presse, im rundfunk, im fernsehen, also in den medien insgesamt, in den büchern oder in den theatern, im freien reden auf der straße und im umgang mit leuten, wo es keine gerichte gibt und kein gesetz respektiert wird, übernimmt die literatur unendlich viele funktionen, die eigentlich der literatur fremd sind. Und vielleicht doch auch unter diesen umständen wieder nicht. Weil, sie leistet das ja ein bißchen. Natürlich eingeschränkt, verzerrt. Und sie kann natürlich die äußeren zustände nicht ersetzten oder die freiheit im äußern, aber ich glaube, sie schafft es doch, die macht ein wenig zu kontrollieren. Daher kommt ja auch die angst vor literatur oder vor kunst insgesamt. Sie schafft es, einen inneren halt zu geben, weil sie eben mit uns und unseren lebensverhältnissen in der diktatur zu tun hat; jedenfalls die literatur, die diesen namen verdient.

wm: Ich habe den eindruck, daß dieser halt ohne dein bewußtes zutun in deinen texten erlebbar wird.

hm: Das ist ja auch nicht etwas, was als absicht beim schreiben vorhanden ist. Sondern, wenn man glück hat, dann wird das so. Es wird nur dann nicht so, wenn man wirklich einer ideologie verhaftet ist. Der halt muß ja in so einer gesellschaft gegen die gesellschaft entstehen. Man wird ja angegriffen, man wird ja in frage gestellt als einzelne, und insofern entsteht dieser halt immer gegen das regime. Wo ein autor, ohne das direkt oder als agitprop auszusprechen, diese gegenhaltung nicht hat — selbstverständlich spürt man das in der literatur. In den büchern von regimetreuen autoren kann sich dieser halt nicht herstellen. Woher soll er denn auch kommen, wenn er im schädel des schreibenden nicht vorhanden ist.

wm: Du hast dich sehr stark gegen eine vereinigung der beiden deutschen pen-clubs ausgesprochen.

hm: Ich gehe davon aus, daß der ddr-pen ein anhängsel des ddr-staates war. Er hatte keine autonomie, und er hat auch nichts für seine autonomie getan. Die statuten des pen sind ja in ihrer essenz gegen diktatur. Wo aber eine diktatur ist und sich eine organisation wie der pen mit allem, was in der gesellschaft geschieht, einverstanden erklärt, parteitage abwartet, um beschlüsse zu fassen, wo der erste vorsitzende, ein gewisser johannes robert becher war, seines zeichens kulturminister des staates, kann von einer unabhängigkeit überhaupt keine rede sein. Außerdem geht es nicht nur um den opportunismus, sondern man muß auch die arbeit des pen im auftrag der stasi und des kgb in rechnung stellen. Beim internationalen pen hat der ddr-pen mehr als alle anderen osteuropäischen pen-organisationen, das sich einsetzen für verhaftete oder verfolgte schriftsteller boykottiert. Das bekannteste beispiel ist sacharov. Wie wir heute wissen hat fritz rudolf fries das nicht von sich aus gemacht, sondern er hat im dienste der stasi gearbeitet. Es wurde im auftrag der stasi und des kgb beim internationalen pen eine resolution zunichte gemacht, die sacharov erlaubt hätte, sich im westen ärztlich behandeln zu lassen. Das sind für mich dinge, die unhaltbar sind. Nach dem fall der mauer, als dieser staat zusammenbrach, verdammt noch mal, da hätte eine organisation aus schriftstellern so viel verstand haben müssen, sich selber aufzulösen, sich mit leuten, die nicht belastet sind wieder neu zu gründen. Man hätte sich nicht als fortsetzung des ddr-pen definieren dürfen. Es kommt mir so vor wie pds und sed. Zur zeit beschwören sie ja ihre erneuerung. Einige von den schwer belasteten leuten sind ja auch ausgetreten. Aber sie haben auch gesagt, daß sie niemanden hinausschmeißen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, heute mit leuten im pen für menschenrechte einzutreten, von denen ich weiß, daß die bis vor fünf oder sechs jahren verhindert haben, daß sacharov ins ausland reisen konnte, um sich behandeln zu lassen. Das ist für mich geheuchelt. Heute ist es gratis, es kostet nichts. Man riskiert nichts. Heute sind sie demokraten, damals waren sie in einem anderen staat, da war was anderes gefragt, da haben sie was anderes vertreten. Das ist für mich alles nicht glaubwürdig. Der pen ist kein sammelbecken für schriftsteller, der pen ist eine organisation, deren grundkonzept sehr wohl ein ethisches ist. Was denn sonst? Wer diese ethik nicht durch seine biographie begleitet hat, es tut mir leid, der hat da nichts verloren. Es müssen nicht alle drin sein. Der pen vertritt ja nicht schriftsteller oder die schriftstellerei als solches. Es gibt ja ein statut, und dieses statut muß doch wohl auch was zu sagen haben. Wenn das aufgegeben wird, dann hat der pen von sich aus seine selbstverständlichkeit aufgegeben, seine bisherige. Alle beide auflösen, das kam ja dann auch zur sprache. Ja weshalb denn, was hat denn der west-pen sich zu schulden kommen lassen. Damit wird wieder gleich gemacht, um das problem, das es beim ost-pen gibt, aus der welt zu schaffen. Dieses problem muß gelöst werden, und wenn heute auch noch so viele junge und unbelastete leute eintreten. Das verändert nicht die geschichte des ddr-pen, zu der sich der ost-pen bekennt. Und das ist das problem. Das ist für mich nicht anders zu lösen, als daß diese organisation abgeschafft wird und daß die leute, die das wollen, entweder etwas neues machen, oder in den west-pen kommen. Es ist übrigens kein ost-west-problem. Neben autoren wie sarah kirsch, günter kunert, reiner kunze, jürgen fuchs und hans joachim schädlich, also leuten, die in der ddr "angeeckt" sind, gibt es natürlich auch andere. Es gibt einen yaak karsunke, friedrich christian delius, den ralph giordano, und es gibt x-leute, die nur aus der verlängerung ihres moralischen denkens sehen, daß das mit der vereinigung nicht in ordnung ist.

wm: Deine beschreibung des dorfes in niederungen ist als antiidylle bezeichnet worden. Wenn die poesie wirklich in den dingen liegt, dann liegt sie ja auch in diesem dorf...

hm: Ja, moment einmal, poesie ist ja nichts angenehmes. Poesie ist nicht etwas, was gut tut. Je bedrohlicher und abgründiger etwas ist, um so stärker kommt es hervor. Also ich verstehe unter poesie nichts angenehmes, und nicht etwas, was einem das leben leichter macht. Es gibt auch kaum einen aberglauben, der einen tröstet. Die eule auf dem dach heißt, daß jemand stirbt. Es gibt zu bedrohlichen dingen, zu schlimmen dingen aberglauben, nicht zum glück, das man im leben hat. Fast immer nur zu den dingen, die schmerzlich sind. Zum verlieren. Wenn man als verlierer dasteht, dazu gibt es ein bild im aberglauben, nicht zu den dingen, die einem gelingen. Natürlich hat dieses dorf seine existenzberechtigung wie jedes andere auch. Es gibt keinen ort, der nicht, so wie du sagst, antiidyllisch ist. Jeder ort, jede umgebung ist dazu in der lage, einen einzelnen menschen kaputt zu machen. Überall auf der welt. In diktaturen wird es noch einmal verstärkt, weil der staat noch einen draufsetzt. Darum sind ja diktaturen so furchtbar. Mir ist das dorf nicht verhaßter und nicht lieber, als andere orte auch. Für mich ist es einfach der ort meiner kindheit.

wm: du sagtest, poesie wäre nie angenehm. Sie ist aber auch schön.

hm: Aber schön ist keine kategorie von angenehm. Es gibt einen satz von christa wolf, den ich mir gemerkt habe: Ich glaube in dem Sommerstück ist der: "Wir begannen gewahr zu werden, welchen preis der zahlt, der auf schönheit angewiesen ist: er ist dem gräßlichen ausgeliefert." Schön ist eines der verlegenheitswörter, die wir zu allen möglichen dingen sagen. Wenn ein film schön ist, heißt das nicht, daß das geschehen des filmes angenehm ist. Er ist schön, weil er uns überzeugt, weil wir uns das vorstellen können, weil wir mitgehen und weil es sich auf uns selbst auch überträgt. In der kunst ist schönheit das, was unter die oberfläche der sache geht und was nicht täuscht, was uns nicht verheimlicht, wie kompliziert es ist und uns zeigt, wie unsicher und abgründig, auch wie unerträglich die dinge sind. Schön ist das gegenteil von flach. Schön und häßlich ist das gleiche, ästhetisch gesehen.

wm: In einem gespräch mit susanne broos sprichst du davon, daß du zum schreiben den lärm des alltags brauchst.

hm: Ich habe mein erstes buch in der fabrik geschrieben mit sechs oder sieben anderen leuten im büro, wo die ganze zeit ein- und ausgegangen wurde. Da waren sehr laute rechenmaschinen, da wurde telefoniert, da kamen ständig leute, da wurden gehälter verteilt. Zum beispiel kamen die arbeiter, um ihre lohntüten abzuholen. Das war im grunde eine sehr laute umgebung. Dazwischen habe ich auch noch mit den kollegen gesprochen. Ich mußte um fünf aufstehen, um halb sieben in der fabrik sein und kam um fünf uhr nachmittags nach hause. Samstags wurde gearbeitet und, wenn der plan nicht erfüllt war, meistens auch sonntags. Ich war auch immer so müde, wenn ich von dieser fabrik nach hause kam. Insofern wäre ich ja nie zum schreiben gekommen, wenn ich mir nicht in dieser fabrik einen freiraum für mich genommen hätte. Vielleicht war das auch eine kompensation für diese arbeit, zu der ich überhaupt keine beziehung hatte. Ich habe technische beschreibungen von maschinen übersetzt, und es hat mich überhaupt nicht interessiert, ich habe nichts verstanden. Ich konnte mir diese maschinen nicht vorstellen. Ich habe auch aus dem schreiben, und das ist mir heute noch zuwider, nie einen mythos gemacht, nie eine sogenannte höhere beschäftigung. Das wäre in meinen lebensumständen auch gar nicht möglich gewesen. Ich wollte eigentlich keine schriftstellerin werden und hatte immer völlig andere vorstellungen von mir. Für mich war es immer eine arbeit, zu der ich gestolpert bin.

wm: Es gibt ja leute, auch autoren, die sich wie gott fühlen, indem sie der welt ihre wahrheiten über eine epoche aufbereiten.

hm: Mich stößt das ab. Mich stößt der größenwahn ab. Wenn der mich bei einem politiker, einem diktator abstößt, dann stößt er mich natürlich bei einem schriftsteller genauso ab. Ich glaube, er entsteht durch unsicherheit, wie er immer durch unsicherheit entsteht. Und der kult um die eigene person entsteht auch nur, wenn an der sicht auf sich sehr viel nicht stimmt. Ich wünsche mir, daß ich immer mit den füßen so weit auf dem boden bleibe, das ich zu so einer selbstüberschätzung und sicht auf mich nicht komme. Wenn mir das passiert, dann würde ich dringend leute bitten, die mich gut kennen, daß sie mich am ärmel ziehen und sagen; hör mal, paß mal auf, du bist übergeschnappt. Ich habe im spiegel einen Beitrag gelesen über die verachtung der massen auch von schriftstellern wie virginia woolf oder t. s. eliot. Es wurden erschreckende sätze gesagt. Da wurde natürlich auch stefan heym genannt, wie er sich nach dem mauerfall über den "pöbel" erhebt. Ich selbst gehörte zu dem gewöhnlichsten teil der bevölkerung in rumänien und habe keinen ekel vor den massen. Diese gewöhnlichen menschen sind ja das, was mich interessiert. Diese sicht sollte einem auch nicht abhanden kommen.


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