G:  aufsätze



Ein fiktives Interview mit Hans Magnus Enzensberger über seine neuesten politischen Essays
Rainer Stollmann

Der Spiegel-Artikel zum Golfkrieg


F: Herr Enzensberger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch ...

E: Sind wir schon fertig?

F: Ich meine nur, weil Sie eher zurückhaltend im Gewähren von Interviews sind ...

E: Wie kommen Sie darauf? Ich sitze doch hier, offen für alles.

F: Schon, aber ich bin sicher, daß z.B. nach Ihrem Artikel zum Golfkrieg sicher viele Zeitungen von Ihnen eine Stellungnahme haben wollten, ...

E: Freilich.

F: ... die Sie aber abgelehnt haben.

E: Ich konnte mir ungefähr ausrechnen, was passiert, wenn ich im "Spiegel" Saddam mit Hitler vergleiche. Insofern bestand kein Anlaß, nachher noch einmal einzugreifen. Man wirft ein Steinchen in den Öffentlichkeitsteich und kann danach beobachten, wie sich die Kreise ziehn.

F: Sie bedauern diese Identifizierung nicht ein bißchen? Diese beiden Fotos, Hitler mit Kind, Saddam mit Kind ...

E: Ich will mich nicht darauf hinausreden, daß die Fotos die Redaktion ausgesucht hat. Man kann bei demokratischen Politikern mehr oder weniger Gespür für die Obszönität dieses Motiv erwarten, während Diktatoren allem Anschein nach ein starkes Bedürfnis nach Dekoration mit kindlicher Unschuld haben. Nein, ich habe nichts zurückzunehmen, das waren im notwendigen Augenblick Worte zur Klärung der Fronten, und ich glaube, sie haben die richtige Wirkung gehabt.

F: Oskar Negt hat Sie und Biermann mit den Dichtern der Kriegseuphorie von 1914 verglichen.

E: Nun waren die begeisterten Haßtiraden von 1914 in der Mehrzahl in Versform abgefaßt, reflexive Essays waren da vermutlich nicht dabei. Vor allem aber redeten die Dichter damals in einen chauvinistisch mobilisierten Mob hinein, den sie noch weiter aufputschten, während ich doch zu verzagten, ängstlichen linksliberalen Lesern gesprochen habe, denen ihr eigener heiliger Antifaschismus mit begleitendem Pazifismus oder wenigstens strengem Antimilitarismus zur politischen Falle zu werden drohte - und gleichzeitig dienten sich deutsche Neonazis dem Irak als Freiwillige an! Man sieht daran, daß sich meine Situation von Februar 1991 deutlich von der der deutschen Intellektuellen im August 1914 unterscheidet. Nebenbei bemerkt haben 1914 deutsche Dichter und Professoren an demselben unheilvollen Strang gezogen, jetzt aber schrieben die Professoren Habermas und Negt kurze Zeit später analytische Artikel gegen den Krieg, wobei sie jeweils an einer Stelle ganz gelinde über Biermann und mich den Kopf schütteln. Das ist doch ein wirklicher Fortschritt, ein großer Zugewinn an Uneinigkeit und Differenzierungsfähigkeit in der deutschen Intelligenz!

F: Der Dramatiker Heiner Müller meinte aber nach Ihrem Artikel im Spiegel, da könne man sehen, wie schlecht die Zeiten für das Denken seien, wenn ein so kluger Kopf wie Sie solchen Schwachsinn verzapfe.

E: Hat er "Schwachsinn" gesagt?

F: Vielleicht nicht wörtlich.

E: Ich stimme ihm zu, daß nicht jede Epoche dem Denken gleich günstig ist; eine solche Höhe der autonomen Reflexion wie in Frankreich im 18. Jahrhundert oder meinetwegen auch in Deutschland zur Zeit der Klassiker haben wir bis heute nicht wieder erreicht. Davon ist unser Denken ein schwacher Abglanz. Aber soll ich deshalb schweigen? Es muß doch erlaubt sein, daß ich mein etwas kleineres Denklicht gelegentlich auch einmal leuchten lasse. Ein Sonett kann ich nicht als Spiegel-Essay drucken lassen, und keine poetische Form - mein Kollege Müller geht ja wohl davon aus, daß es Zeit für Kunst ist, wenn die des Denkens abgelaufen ist - hätte diese Öffentlichkeit herstellen können.

F: Welche Wirkung hatte der Essay denn wirklich?

E: Sie werden doch das einigermaßen lebhafte Rauschen im Blätterwald bemerkt haben, das man als Indikator einer wirklichen Auseinandersetzung ansehen darf. Noch auf dem Parteitag der Grünen im Dezember 95 in Bremen konnte sich glücklicherweise ein abstrakter Pazifismus in der Frage der Entsendung deutscher Soldaten auf den Balkan nicht durchsetzen.

F: Das führen Sie auf Ihren Artikel zurück?

E: Unter anderem. Es sind ja auch noch zwei Broschüren gefolgt, und natürlich nicht nur auf meine Äußerungen. Aber ich darf doch bei einem Teil der Grünen so viel Offenheit vermuten, daß sie auch lesen, was ich schreibe. Übrigens bin ich aber der Meinung, daß die Grünen aus taktischen Gründen gegen diesen Einsatz hätten stimmen sollen.

F: Wie bitte?

E: Zu viel Eintracht ist undemokratisch, Uneinigkeit macht stark; es hätte genügt, diesen Einsatz mit einer dünnen Mehrheit zu beschließen. Auch die SPD hätte dagegen stimmen sollen. Das hätte jedenfalls meinem inneren Bundestag entsprochen, ich bin doch nicht mit 90% meiner Person dafür, deutsche Soldaten nach Jugoslawien zu schicken, sondern höchsten mit 52%, und das entspricht sicher nicht nur meiner realen Unsicherheit. Die Soldaten müssen mit 100% ihrer Person dahingehen, aber sie werden doch Zweifel haben. Das hätte ich lieber im Parlament dokumentiert gesehen, als dies Pseudo "In-Treue-fest" gegenüber NATO und Humanität. Das verdeckt leicht die bürokratischen Interessen des Militärs und der mit ihm verbündeten Industrie: so ein Einsatz bringt bei nächster Gelegenheit locker 5% mehr Mittel für den Verteidigungshaushalt. Und das wollen doch außer mir auch die meisten Leute nicht. Wie jeder weiß, müssen wir sparen!

F: Vielleicht können wir jetzt zu einem etwas anderen Thema, nämlich dem "molekularen Bürgerkrieg" übergehen ..

E: Das ist eigentlich kein anderes Thema, denn was im ehemaligen Jugoslawien passiert, gehört dazu.

F: Aber der Golfkrieg nicht.

E: Insofern er Krieg zwischen Staaten war, ist er natürlich kein Bürgerkrieg; aber die degenerierte Soldateska im ehemaligen Jugoslawien hat sich ja auch sehr angestrengt, ihren Räubereien, Morden und Massakern, d.h. ihrem Terror gegen Zivilisten das Mäntelchen des staatlichen, traditionellen Krieges, oder, noch verlogener, das des kleinen, vorgezogenen cultural clashs zwischen "Ethnien" oder "Kulturen" umzuhängen - und zwar, wie man hierbei bemerken muß, unter übereifriger Zuarbeit der Europäer, allen voran die Bundesrepublik Deutschland. Die überstürzte Anerkennung dieser sicher auf Dauer nicht lebensfähigen Zwergstaaten hat das Dilemma mitherbeigeführt, in dem die westlichen Staaten jetzt stecken.

F: Immerhin ist gerade in Dayton ein Friedensvertrag geschrieben worden.

E: Es ist Winter.

F: Sie meinen, im Sommer 96 wird der Krieg wieder entfacht werden?

E: Warten wir's ab und hoffen das Gegenteil.

Krieg der Bilder

F: Herr Enzensberger, die unter Kriegsforschern und auch z.B. in der UNO herrschende Definition eines Krieges lautet folgendermaßen: "Krieg ist jede militärische Auseinandersetzung, an der ein Mitglied des Staatensystems der entsprechenden Zeit beteiligt ist und die Schwelle von 1000 Opfern von den Kombattanten erreicht oder überschritten wurde."

E: Definitionen dieser Art sind etwas für Bürokraten, die den Krieg verwalten wollen. Einen Bürgerkrieg schließt diese Definition aus, zivile Opfer, etwa in Massakern, zählt sie nicht. Ich halte mich lieber an Clausewitz: "Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen." Diese Bestimmung, der bei Clausewitz weitere zur Seite stehen, etwa: "Der Krieg ist ein erweiterter Zweikampf", ist bei der analytischen Beschreibung von allen möglichen Kriegen wie z.B. Ehekrieg, Handelskriege, ideologischer Krieg, Werbefeldzug, Wahlkampagne u.a. brauchbar. Es kann doch nicht darum gehen, den Krieg zu definieren, d.h. gegen anderes abzugrenzen, wenn in Wahrheit nahezu alle menschlichen Beziehungen von Krieg durchzogen sind. Der molekulare Bürgerkrieg ist ein Zerfallsprodukt der Zivilisation, d.h. er ist in ihr zuvor als strukturelle Gewalt vorhanden, die sich in der Erosion zur manifesten Gewalt kondensiert.

F: Nun sind Wörter wie Handelskrieg oder Ehekrieg aber Metaphern.

E: Schaun Sie, das Wort Krieg an sich ist auch schon eine Metapher, wenn es unterschiedslos auf so ganz und gar verschiedene Dinge angewendet wird wie das, was vor 3000 Jahren in Troja passiert ist, Karthago, Eroberung Galliens, 30jähriger Krieg, Napoleon, 1870 und auf den sogenannten zweiten Weltkrieg. Wenn man Clausewitz' eben zitierte Bestimmungen ernst nimmt und daran das Geschehen von 1939-45 mäße, so bliebe recht wenig übrig, was man wirklich als Krieg bezeichnen könnte. Wenn die deutschen Bomber Coventry zerstören oder die Luftflotte des General Harris Dresden pulverisiert, dann haben die Opfer doch gar keine Möglichkeit, sich zu ergeben. Was soll daran "Krieg" im Sinne eines "erweiterten Zweikampfes", eines Gegeneinander zweier Willen sein? Denn um den Willen der wirklichen Städtebewohner, die unten in den Kellern sitzen und beten, daß die Bomben danebenfallen, geht es überhaupt nicht mehr. Deren Wille spielt keine Rolle, denn die hätten sich gewiß lieber ergeben, ihren Willen dem der Bomberflotte unterworfen, wenn sie gekonnt hätten, als zu sterben. Sie werden aber stellvertretend, als Teil des feindlichen Ganzen verbrannt in der trügerischen Hoffnung, daß dieses Ganze davon so schockiert ist, daß die Kriegsmoral zerbricht - "moral bombing" hieß das damals.

F: Aber dann geht es doch um den Kampfeswillen des feindlichen Volkes, den die Flächenbombardements brechen solllen.

E: Das schon. Die Deutschen sollten an dem Schicksal der Dresdener oder Kölner sehen, was ihnen blüht, wenn sie nicht kapitulieren. Es wird euch gehen wie diesen - das ist die Botschaft der Terrorbombardements. Der Wille, die Moral des restlichen Volkes sollten getroffen werden, indem man Parzellen des nationalen Geländes verwüstet. Dann sind aber strenggenommen nicht der Bombenteppich, der Feuersturm, die Verbrennungen selbst Krieg, sondern die Bilder der zerstörten Städte, die Wirkung, die von diesen Bildern, Vorstellungen, Gerüchten ausgeht, ist die wirkliche Waffe, das
Kriegsmittel. Und so etwas nenne ich metaphorischen Krieg, Krieg der Bilder. Daraus besteht der Krieg im 20. Jahrhundert wesentlich. Schon Verdun ist eine Metapher. Friedrich der Große wäre entsetzt gewesen über die völlige Abwesenheit von strategischer und taktischer Vernunft in diesem Geschehen. Der verantwortliche deutsche General Falkenhayn sprach von "Blutpumpe" und "Hackbrett".

F: Wollen Sie im Ernst behaupten, daß unser kriegslüsternes Jahrhundert im Grunde nur metaphorische Kriege geführt habe?

E: Aber sicher. Das gilt aber nicht nur für unser Jahrhundert. Vermutlich sind alle Kriege in ihren größeren Anteilen metaphorische Vorgänge, also nicht wesentlich, wie Clausewitz sagt, "erweiterter Zweikampf", Kampf zweier Willen. Die Soldaten Napoleons sagten von Spanien und Rußland, wo sie von der Guerilla zermürbt wurden: Das ist kein Krieg. Denn der Guerillero vermischt Krieg und Zivilleben, will als Soldat nicht erkennbar sein. "Keine deutsche Stadt ist die Knochen eines britischen Soldaten wert", so lautete die Begründung von Harris für die Flächenbombardements. Er wollte verlustreiche Kämpfe nach dem Landen der Bodentruppen vermeiden. Wie wir wissen, gelang das nicht, war Illusion. Und ich sehe nicht, um darauf noch einmal zurückzukommen, wie man in dieses wüste, blutige, aber eben unwirkliche, bildhafte Geschehen Wirklichkeit hineinbekommt, wenn man so vorgeht wie Singer und Small. Dadurch, daß ich Teile aus den Bildern, etwa den Bürgerkrieg ausgrenze, wird der Rest nicht realer.

F: Nun sind aber doch Dresden und Köln wirklich zerstört worden und nicht bloß im Kino.

E: Aber es ging nicht um Köln oder Dresden. Es ging auch nicht um Hiroshima. Deutschland hatte gerade noch rechtzeitig kapituliert, sonst wäre die Atombombe vielleicht auf Berlin gefallen. Hiroshima wurde ausgewählt, weil es in einem Talkessel liegt, da hoffte man die Wirkung der atomaren Strahlung unbeeinflußt vom Wetter studieren zu können. Es wurden nicht Rüstungsindustrie zerstört, Verkehrswege, also ein konkretes Ziel, ein wichtiges Moment des
feindlichen Willens getroffen. Eine Metapher ist bekanntlich ein verkürzter Vergleich: wie Köln, wie Hiroshima, wie Coventry wird es euch ergehen. Das ist die Botschaft, und die eigentliche Waffe ist dann das Bild der Verwüstung: Das ist metaphorisch, auch wenn die Menschen wirklich, empirisch daran sterben. Was wir Krieg zu nennen uns gewöhnt haben, ist eine objektivierte, objektivistische Fiktion.

F: Was, bitte, ist eine objektivistische Fiktion?

E: Etwas, das real, in Waffensystemen, Gebäuden, abgeschirmten Regionen, Fabriken, Apparaten usw. empirisch-faktisch existiert, aber das trotzdem eine reine Vorstellung, im Grunde ohne Realitätsgehalt ist. Das ist alles nach nicht funktionierenden, irrealen Ideen auf- und zusammengebaut. Nehmen Sie z.B. einen Stuntman in einem Katastrophenfilm, der einen Unfall hat und daran wirklich stirbt. Er ist dann tot, aber den Zusammenhang, in dem dieser Tod geschah, hat sich Hollywood ausgedacht, reine Fiktion. Haben Sie denn nicht auch gelegentlich den Eindruck, daß die menschliche Geschichte, Alexander der Große, die Hexenprozesse, die Inquisition, Napoleons Eroberungen, Rassismus, Nationalismus, mit wüsten realisierten Phantasien mehr zu tun hat als mit der Hoffnung, daß das Sein das Bewußtsein bestimme? Die riesigen Ausgaben für eine deutsche Flotte vor dem ersten Weltkrieg, eine Politik, die ja dann zum Kriegsausbruch erheblich beitrug, waren alle nutzlos. Diese Flotte hat die meiste Zeit im Hafen gelegen, bis sie 1918 bei Kriegsschluß versenkt wurde. Was spricht denn dann gegen den Satz: Die kaiserliche deutsche Flotte war eine reine Imagination?

F: Nun sind andere Dinge aber zum Einsatz gekommen ...

E: Ich spreche hier von nichts anderem als Mao Tse-Tung, wenn er die Atombombe einen "Papiertiger" nennt. Die ist ja auch zum Einsatz gekommen und trotzdem ein Papiertiger. Vergessen Sie nicht, Mao ist ein höchst erfolgreicher Soldat gewesen, der weiß, wovon er redet. Im Grunde sind die Dinge, mit denen die Militärs im 20. Jahrhundert umgehen, keine Waffen, sondern Monstrositäten. Die Atombombe beendet nicht als Waffe den Krieg, sondern demonstriert, daß der Krieg ein Unding geworden ist. Der Technikprogreß hat den Menschen die Möglichkeit, miteinander Krieg zu führen, aus der Hand genommen. Und das gilt nicht nur für die Atombombe, sondern wenigstens für den industriellen Krieg überhaupt. Insofern benutzen wir ein verstaubtes Wort metaphorisch für ein neues Geschehen, das sich bisher oder vielleicht auch grundsätzlich der Begrifflichkeit entzieht.

F: Dann wäre der Krieg so eine Art Zauberbesen, der sich selbständig gemacht hat?

E: Das amerikanische Militär setzte im Golfkrieg, die Technik des 21. Jahrhunderts ein, Computerisierung der Waffen, Verwendung von Satelliten, um einzelne Soldaten zu orientieren, Videokameras in den Raketen usf., um ihre eigenen Waffen des 20. Jahrhunderts (Raketen, Panzer, Bombenflugzeuge etc.) wieder unter Kontrolle zu bringen und so den Gegner, d.h. eine Armee des 19. Jahrhunderts, zu schlagen.

F: Das gelang ja auch.

E: Schon.

F: Etwa nicht?

E: Niemand konnte voraussehen, daß es in 6 Wochen gelingen würde.

F: Ja, und?

E: Der Krieg kostete laut US-Angaben 1/2 bis 1 Milliarde Dollar pro Tag. Deutschland hat für 14 Tage bezahlt. Stellen Sie sich vor, der Krieg hätte 12 oder 18 Wochen gedauert.

F: Das wäre teuer geworden.

E: Das hätte die Haushalte der westlichen Staaten ruiniert! Was hätte aber dann noch ein militärischer Sieg bedeutet? Der Triumph der amerikanischen Generäle verdankt sich wesentlich der kurzen Dauer des Krieges - und die konnte keiner und kann vor allem keiner für zukünftige Kriege garantieren. Vom ersten Weltkrieg glaubten auch im August 1914 die meisten Deutschen, daß er in vier Wochen erledigt wäre.

Der molekulare Bürgerkrieger

F: In einer Auseinandersetzung mit Peter Weiß über die Möglichkeit internationaler Solidarität haben Sie 1966 geschrieben: "Die Differenz zwischen dem, was in Kreuzberg, und dem, was in Kalkutta geschieht, soll zugeschüttet werden mit sechs Wörtern: `Im Grunde ist es das Gleiche'."

E: Ja, und?

F: Aber das ist heute, 17 Jahre später, genau die Botschaft Ihres Bürgerkriegsessays: "Jeder U-Bahn-Wagen kann zu einem Bosnien en miniature werden". Das heißt doch: Im Grunde sind Tschetschenien, Bosnien, Kolumbien und die autonome Mafia in Kreuzberg das Gleiche. Man fragt sich doch, wieso für den molekularen Bürgerkrieg gilt, was für die internationale Solidarität, die Sie damals als "kommode Religion" disqualifizierten, grundfalsch war. Vielleicht ist Ihre Vorstellung eines ubiquitären Bürgerkrieges auch eine kommode, wenn auch negative Religion.

E: Ich glaube nicht, daß ich in diese Falle meines eigenen früheren Zitats tappen muß. Es handelt sich um völlig verschiedene, ja gegensätzliche Dinge: das eine ist Politik, das andere Antipolitik, das eine im Kern auf Autonomie aus, das andere auf Heteronomie, sprich: Gewalt. Politische Konkretions- oder Produktionsprozesse führen immer in die Vielfalt, die Anerkennung, das Bewußtsein von Unterschieden. Reale Abstraktionsprozesse eskalieren in Gewalt, und die ist tatsächlich überall gleich. Neu schien mir zu sein, daß diesmal der Retrovirus des Politischen, die Verwandlung von Politik in Verbrechen molekular, unten, in den gesellschaftlichen Molekülen spontan auftritt, während mir bisher die Welt der bürokratischen Apparate der ideale Humusboden dafür zu sein schien.

F: Aus dem Buch von Bill Bufford über englische Hooligans zitieren Sie folgende Sätze: "In the following scene, the accomodation with violence reaches its climax: 'There were now six of them, and they all started kicking the boy on the ground. The boy covered his face. I was surprised that I could tell, from the sound, when someone's shoe missed, or when it struck the fingers and not the forehead or the nose. I was transfixed. I suppose, thinking about this incident now, I was close enough to have stopped the kicking ... But I didn't. I don't think the thought occurred to me It was as if time had dramatically slowed down, and each second had a distinct beginning and end, like a sequence of images on a roll of film, and I was mesmerized by each image I saw.'" Dies nennt der Autor "Ekstase", und der letzte Satz dieses Abschnittes: "Somebody near me said that he was happy, very happy, that he could not ever remember being so happy."

E: "Alle Lust will Ewigkeit", hier wird ja gewissermaßen die Zeit angehalten, also für einen Moment Ewigkeit hergestellt.

F: Wie in der Zeitlupe eines Katastrophenfilms ...

E: ... ein Verfahren, das aber offenbar nicht nur eine technisch-ideologische Erfindung der Bewußtseinsindustrie ist, sondern auch eine faktische Möglichkeit sinnlicher Wahrnehmung, eines Sinnenzustands widerspiegelt. Wobei dies biochemisch allerdings etwas leicht Verständliches ist, nämlich eine künstlich herbeigeführte Ausschüttung einer Überdosis von Endorphinen, Glückshormonen. Das kann wahrscheinlich systematisch trainiert werden. Straßenschlachten nach Fußballspielen in den richtigen Zeitmaßen der Eskalation plus Alkoholmißbrauch bringen schließlich den rauschhaften Moment der exzessiven, blutigen Prügelei am Rande des Todes, für den diese Seelentiere oder Seelendinge des 20. Jahrhunderts leben.

F: Nun haben Sie früher anläßlich der Roten Armeefraktion und Ernst Jüngers von der "Leere im Zentrum des Terrors" gesprochen. Hier fühlt sich der Terrorist aber nicht leer, sondern glücklich.

E: Das ist dasselbe. Rausch ist doch gerade die Abwesenheit von Bewußtsein. Leere heißt, der Terror verzichtet auf inhaltliche Begründung, also auf Kommunikation, Bewußtsein, Zweck, Absicht, er ist sich Selbstzweck. Dafür ist das gehörte Zitat doch ein gutes Beispiel. Wir als zivilisierte Menschen kennen das Glück der Meute nicht, es fällt uns schwer, Glück und Gewalt zusammenzubringen. Daß der pursuit of happiness eine solche gespenstische Form annehmen kann, möchten wir nicht wahrhaben. Glauben Sie mir, der molekulare Bürgerkrieg ist die Herrschaft des Lustprinzips.

F: Das Lustprinzip ist kriminell?

E: Rücksichtslos, daher auch kriminell.

F: Das schreiben Sie so aber nicht in Ihrem Buch.

E: Aber ich sage es Ihnen jetzt.

F: Freud spricht von der "Schlacht an der Grenze des Ich", vom "Krieg zwischen Bewußtsein und Unbewußtem".

E: Freud tut das im Zusammenhang der "Melancholie", also etwas Feinem, Dekadenten, mit dem wir es hier nicht zu tun haben. Freud hat es mit höchst zivilen Formen eines inneren Krieges vorwiegend des 19. Jahrhunderts zu tun, wobei dieses Innenleben charakteristische Strukturen besitzt, die so verfestigt sind, daß sie sogar "Krieg" miteinander führen können. Wenn Sie nun von mir erwarten, daß ich das Innere eines molekularen Bürgerkriegers beschreibe, so würde ich am ehesten zum Bild einer Wüste oder einer wüsten Ruinenlandschaft greifen, in der so kostbare Dinge wie Ich, Bewußtsein und Unbewußtes nur vage, rudimentär vorhanden sind und daher auch kein bestimmtes Verhältnis wie das eines Krieges zueinander eingehen können. Was ist denn ein Blut- oder ein Gewaltrausch? Bewußtsein? Ausdruck des Unbewußten? Das paßt doch beides nicht, eben weil es sich hier um weniger qualifizierte Zustände biologischen Daseins handelt. Das Ich eines molekularen Bürgerkriegers ist Fragment, unvollständig, eine Konfliktgeschichte zwischen Lust- und Realitätsprinzip hat es in nennenswertem Maße gar nicht gegeben. Das Selbsterhaltungsprinzip, das die Kritischen Theoretiker für das Fundament der Aufklärung halten, ist ein stümperhafter Torso geblieben. Es dringt z.B. eine serbische Soldatenbande in ein Krankenhaus in Sarajewo ein. Um den Krankenschwestern begreiflich zu machen, daß es keinen Zweck hat, sich gegen Vergewaltigung zu wehren, zieht der Anführer sein Messer und schneidet damit kräftig in seinen Handrücken, so daß sein Blut trieft. Er demonstriert damit schneller und deutlicher, als wenn er mit dem Messer auf die Frauen losginge, daß er dem Realitätsprinzip der Selbsterhaltung nicht untersteht und daher ein gefährlicherer Gegner ist.

F: Sie sprechen in Ihrem Buch von der Erosion des Patriarchats und von Männerbünden, in denen eine neue, nicht vom Patriarchat gezähmte Männlichkeit sich zeige, die zwischen Mut und Feigheit nicht mehr unterscheiden könne.

E: Ist es Mut, wenn ich mich selbst verstümmle? Feigheit ist es sicher auch nicht. Wenn Gruppen dieser Bürgerkrieger wie etwa die deutschen Skinheads einen Afrikaner mit sechs Mann zum Krüppel prügeln, dann hat man doch den Eindruck, daß ihnen ein Bewußtsein von Feigheit völlig abgeht. Mir scheint es eher so, daß wir es hier mit einem zilisatorischen Halb- oder Viertelprodukt, also etwas Unfertigem zu tun haben, auf das die an der perfekten Bürgerlichkeit gewonnenen Begriffe der Freudschen Lehre nicht passen; der molekulare Bürgerkrieg macht mir eher den Eindruck einer Art maschinisierten, also toten, aber beweglichen Lustprinzips. Denn man kann das Rituelle, Ewiggleiche daran ja nicht verkennen: ein Hooligan ist möglichst jeden Samstag besoffen, und egal, wo er sich befindet, in Birmingham, Rom oder Barcelona, das Erlebnis ist dasselbe. Desgleichen die etwas weniger schlimme, eher alberne Bürgerkriegsform unserer Sprayer. Schaun Sie sich unsere Innenstädte, insbesondere die älteren Wohnviertel an: Was ist das für ein Vergnügen, allnächtlich an Wänden herumzuschmieren? Des Gedankens, daß hier bestimmte Kontigente junger Menschen auf der analen Stufe fixiert sind, kann man sich bei Innenstadtspaziergängen oder auch beim Betrachten von vielen Universitätsgebäuden ja gar nicht erwehren.

F: Nun haben damit aber die linken Studenten mit ihren politischen Parolen angefangen.

E: Das ist fast 30 Jahre her! Marx schreibt im "Bürgerkrieg in Frankreich": "Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer geschichtlicher Schöpfungen für das Seitenstück älterer und selbst verlebter Formen des gesellschaftlichen Lebens versehn zu werden, denen sie einigermaßen ähnlich sehn." Ein Motiv für das Schreiben des Bürgerkriegsessays war mein wachsendes Befremden über diese merkwürdige objektive Ironie, in der ganz andere, zerstörerische, gegen jedes Gemeinwesen gerichtete Prozesse immer noch für Wurmfortsätze der 68er Bewegung gehalten werden, die sog. Autonomen, Sprayer bei uns ebenso wie die pseudopolitischen, in Wahrheit aber rein verbrecherischen Banden in der Dritten Welt.

F: Commandante Marcos in Mexiko?

E: Möglicherweise eine Ausnahme, möglicherweise etwas Neues.

F: Die Befreiungsbewegung in Eritrea?

E: Eine Ausnahme.

F: Mao hatte die traditionellen Banditen und Geheimbünde Chinas aufgerufen, sich dem langen Marsch anzuschließen, die Französische Revolution war mehrfach in höchster Gefahr in bodenlosen Blutrausch, Denunziation, Plünderei abzurutschen, ähnliches auch bei anderen Aufständen wie z.B. in der Münchener Räterepublik. Vergessen Sie nicht, daß die Wand zum Verbrechen auch auf der emanzipatorischen Seite der Politik oft reichlich dünn war?

E: Die politische Seite, die die Kriminalität vielleicht neutralisieren könnte, vergesse nicht ich, sondern zur Zeit die Geschichte.



Wissenschaft, Theorie, Essay

F: Was würden Sie zu der Unterstellung sagen, daß Ihr Bürgerkriegsessay dem Mißmut eines alten Mannes entsprungen ist, der, wenn auch auf sehr intelligente Weise, mit der Welt und besonders mit der Jugend hadert?

E: Erstens ist das eine üble Nachrede, die sich auf nichts anderes als auf das Abstraktum meines Alters berufen kann; zweitens: warum sollte ein höheres Alter das eigene Denken nachteiliger beeinflussen als ein niedrigeres? Drittens: ein solcher psychologischer Köhlerglauben kommt mir öde vor.

F: Studenten, mit denen ich Ihre Bücher gelesen habe, waren aufgebracht darüber, wie Sie "alles in einen Topf werfen" und "nichts beweisen".

E: Dann sollen sie doch die blauen Bände von Marx und Engels lesen, darin wird fein säuberlich unterschieden und alles bewiesen.

F: Sie haben doch selbst vor Jahren zwei Bände "Gespräche mit Marx und Engels" herausgebracht, und jetzt so ironisch ...

E: Ich bin überhaupt nicht ironisch. Ich meine das vollkommen ernst. Es würde doch den Studenten, Entschuldigung: den StudentInnen von heute nicht schaden, die Klassiker zu studieren. Ich meine wirklich, daß sie das machen sollen, und vielleicht haben sie dann ja einige Jahre später wieder Lust, ein unwissenschafliches, undifferenziertes Textchen von mir zur Hand zu nehmen.

F: Sie zitieren z.B. aus der "Süddeutschen Zeitung" vom 21./22.
11.1992 einen französischen Sozialarbeiter: "Sie haben schon alles kaputtgemacht, die Briefkästen, die Türen, die Treppenhäuser. Die Poliklinik, wo ihre kleinen Brüder und Schwestern gratis behandelt werden, haben sie demoliert und geplündert. Sie erkennen keinerlei Regeln an. Sie schlagen Arzt- und Zahnarztpraxen kurz und klein und zerstören ihre Schulen. Wenn man ihnen einen Fußballplatz einrichtet, sägen sie die Torpfosten ab." Dann fahren Sie fort: "Die Bilder vom molekularen und vom makroskopischen Bürgerkrieg gleichen sich bis ins Detail. Ein Augenzeuge gibt wieder, was er in Mogadiscio gesehen hat. Der Berichterstatter war dabei, wie eine Bande von Bewaffneten ein Hospital zertrümmerte." Hierauf beschreiben Sie, wie afrikanische Soldatenbanden ein Hospital zerstören, das doch auch ihnen selbst nutzen könnte. Es werden an weit voneinander entfernten Orten der Erde sinnlose Zerstörungen ausgeführt, und Sie folgern daraus den Anbruch einer neuen Epoche, deren Konturen Sie methodisch mit einer Art Intuition der Paradoxie gewinnen. Der französische Sozialarbeiter ist vielleicht noch etwas unerfahren, das wissen wir nicht, er muß Geduld, Zähigkeit lernen, stattdessen kapituliert er. Das Absägen der Torpfosten hat vielleicht mit Rivalitäten unter den Jugendlichen zu tun usw. Ich zweifle, was dieses Zitat überhaupt belegen kann.

E: Was meinen Sie mit "Intuition der Paradoxie"?

F: Erstens: Wir haben bei Adorno und Horkheimer die Aufklärung beschrieben als "Selbsterhaltung durch Selbstpreisgabe". Dies Paradox treiben Sie etwas weiter, so daß daraus wird: Existenz oder Präsenz im Vollzug der Zerstörung und Selbstzerstörung. - Zweitens: In anderen Büchern haben Sie selbst über die Verwandlung von Politik in Verbrechen nachgedacht, jetzt, in einer offenkundigen Schwächeperiode von Basisbewegungen, wenden Sie diesen Gedanken paradoxerweise auch auf die Basis an, aus deren mutmaßlicher Perspektive Sie bisher geblickt haben: auch dort sei der größte Teil der Politik schon in Verbrechen übergegangen. Mit einem Blick, der sich auf die doch zweifellos unterschiedlichen Entstehungsgeschichten verschiedener Gewaltherde gerichtet hätte, wäre dies glatte Bild einer neuen Epoche des Bürgerkriegs nicht entstanden. Sie lassen sich von der Eleganz der Assoziationen mitreißen, das könnte die Analytik der Sache beschädigen.

E: Sie überschätzen mich, Sie überschätzen das, was Theorie, insbesondere am Ende des 20. Jahrhunderts, leisten kann. Das Elend der klassischen Theorie war ihre Größe. Die ließ es zu, daß daraus gleich eine Weltanschauung, ein Religionsersatz gemacht wurde: der Marxismus, die Psychoanalyse, aus der allerdings eher ein Geschäft als eine Religion wurde. Wir müssen deshalb große Theorie vermeiden. Ich produziere Einsichten, "politische Brosamen" z.B., keine Weltanschauungen. Mein Buch heißt "Aussichten auf den Bürgerkrieg", nicht: Die neue Epoche des Weltbürgerkriegs. Solche Titel finden Sie übrigens unter der akademischen Literatur eher. Ich weiß, daß mein Denken fragmentarischer ist, sein muß, als das des 19. Jahrhunderts. Ich vermeide Wissenschaftlichkeit, weil ich den Eindruck habe, daß wir im Zeitalter der wissenschaftlichen Scholastik leben. Das wissenschaftliche Denken heute in seiner beherrschenden Tendenz verhält sich zu dem des 18. und 19. Jahrhunderts so wie die Theologie des Spätmittelalters zu den Kirchenvätern. Das, was Sie an mir kritisieren, würde ich als freies Denken bezeichnen. Man ist daran heute weniger gewöhnt als zur Zeit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert. - Was nun Ihren nicht ganz neuen Einwand des Ästhetizismus betrifft, so möchte ich daran erinnern, daß ich mit dem Prinzip "first things first" einen, wie ich hoffe, recht praktischen, brauchbaren Hinweis zur politischen Orientierung gegeben habe. Jeder Tagesschau-Kommentar zu einem großen Problem der Weltpolitik, übrigens auch alle die hilflosen Kommentare von Fernsehjournalisten aus dem Balkankrieg, sind da viel ästhetizistischer, die laufen alle auf nichts anderes hinaus als auf die sentimentale Proklamation von Verzweiflung.

F: "Denken ist unwissenschaftlich" formulierte Adorno.

E: Na, bitte! Offenbar bin ich nicht der erste und sicher nicht der einzige, der das bemerkt hat. Es kommt auf Zusammenhänge an, ich habe nichts anderes getan, als möglichst genau etwas zu beschreiben, das mir ein neuer Zusammenhang zu sein scheint. Entgegen anderslautenden Vermutungen schätze und lese ich Marx nach wie vor, aber man kommt doch an dem Problem nicht vorbei, daß, gerade weil er so Großes geleistet hat, daraus der Gulag seine Legitimation zog. Ohne die verführerische Wahrheit des Materialismus hätte sich der Stalinismus niemals so lange halten können. Das erscheint mir wirklich tragisch. Wir können dann aber doch nicht einfach so weitermachen, vielmehr muß sich das Denken gegen einen solchen Mißbrauch zu schützen versuchen. Benajmin, Adorno und Horkheimer schreiben doch auch schon anders, "unwissenschaftlicher" als Marx. Wenn es heute erkennbar keine so große Theorie mehr gibt wie im 19. Jahrhundert, dann hat das nicht nur etwas mit Epigonentum zu tun, sondern enthält auch diese Erfahrung der gräßlichen terroristischen Umkehrung von wissenschaftlicher Wahrheit in der Praxis. Mir scheint die Idee, dann wieder bei den Ursprüngen anzufangen, also beim Essay, ganz plausibel.

F: Nun klingen Ihre Worte und Bilder an manchen Stellen aber gar nicht so fragmentarisch und bescheiden, sondern sehr wohl wie Weltanschauung, z.B. im letzten Kapitel des Bürgerkriegsbuches, in dem Sie über die wahren Helden des Bürgerkriegs sprechen, die nach der Zerstörung mit dem Reparieren beginnen: "Sie wissen sogar, daß die Mörder wiederkomen werden, in der nächsten Woche oder in einem Jahrzehnt. Der Bürgerkrieg dauert nicht ewig, aber droht immer wieder von neuem." Dann erinnern Sie an Sisyphos als ein Sinnbild des wahren Helden des Alltags, der eigentlich ein Trickster mit hellem Verstand ist. Ihr Buch endet: "Später muß er, zur Strafe für seinen Menschenverstand, einen schweren Stein bergauf rollen, immer wieder. Dieser Stein ist der Frieden." Sagen Sie selbst, kann man das anders lesen als weltanschaulich, als einen festen Glauben an das ewige Hin und Her von Krieg und Frieden?

E: Ja, ich glaube schon, daß man das kann. Denn die gutmütige, freundliche, ja naive Rezeptionsweise, die Sie hier, wenn Sie mit mir sprechen, voraussetzen, ist illusionär. So schlicht verläuft menschliche Kommunikation nicht. Schaun Sie, wir leben in einer Zeit, in der zumindest ich einen Satz wie "Wir müssen für den Frieden kämpfen" oder ähnliche Sätze, ähnlich positiv, nicht mehr formulieren kann. Es gibt aber ganze Reihen von Büchern, die
nichts sind als Variationen einer solchen Haltung. Ich halte das für wirkungslos. Wenn Sie jetzt das Bild des Sisyphos nehmen, das die meisten Leser im Kopf verankert haben, so bemerkt man, daß der Krieg von selbst durch die historische Schwerkraft sich entzünden wird, so wie der Stein durch die physikalische herunterfällt. Gegen die arbeitet Sisyphos. Man bemerkt auch, daß Krieg und Frieden nicht zu trennen, sondern aus demselben Material sind. Das sind zwei Erkenntnismomente, für die dieses Bild mir ein passendes Gefäß zu sein schien. Das Mythische daran, auf das Sie kritisch hinweisen, ist aber in der Figur des Sisyphos selbst gebrochen: Er fesselte den Tod, wurde dafür von den Göttern bestraft usf. Er gehört zu der interessanten Reihe der Halbgötter, Mythenzerbrecher wie Ödipus, Herkules, Odysseus, die sich mit dem Mythos gerade nicht abfinden. Das Widersprüchliche an diesem Bild, das den Mythos eben nicht beschwört, aber auch nicht leugnet, ist das Interessante. Es ist eigentlich nur eine etwas komplexere, dynamischere Vorstellung von Politik als die Max Webers vom "geduldigen Bohren dicker Bretter".

F: Sisyphos ist Politiker?

E: Er handelt politisch. Wenn es dieses Handeln als institutionalisiertes, also von professionellen Politikern ausgeübt, in größerer, erkennbarer Quantität und nicht nur in Form individuellen Scheiterns, letztes großes Beispiel: Gorbatschow, gäbe, dann wäre der Rückgriff auf die griechische Mythologie nicht nötig.

F: Weiterhin guten Flug, Herr Enzensberger!

E: Besten Dank!


*

Anmerkung: Obiger Text erschien zum ersten Mal in Englischer Sprache in: Gerhard Fischer (ed.): Debating Enzensberger.

Great Migration and Civil War. Stauffenberg Verlag, Tuebingen 1996, S. 127-144

Quellen, auf die Bezug genommen wird:


H.M. Enzensberger: Hitlers Widergänger, in: Der Spiegel 6/1991 - Oskar Negt: Das moralische Dilemma des Golf-Krieges, in: Frankfurter Rundschau vom 23. Februar 1991 - Jürgen Habermas: Wider die Logik des Krieges, in: Die Zeit vom 15. Februar 1991 - Wolf Biermann: Kriegshetze - Friedenshetze, in: Die Zeit vom 1. Februar 1991 - Heiner Müller: Fernsehinterview mit Alexander Kluge am 27.4.1993 in "News & Stories" auf Sat1 - J. David Singer / Melvin Small: The Wages of War 1916 - 1965. A Statistical Handbook. New York 1972 - Carl v. Clausewitz: Vom Kriege, 1. Kapitel - H.M. Enzensberger: Peter Weiss und andere, in: Kursbuch 6, 1966 - H.M. Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main 1993 - Über die Verhältnisse in Kreuzberg: Jane Kramer: Krach in Kreuzberg, in: The New Yorker 1988 - Bill Bufford: Among the
Thugs. London 1991 - Sigmund Freud: Briefe an Fließ - M. Horkheimer / Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt 1985 - Die Episode des sich selbst verletzenden serbischen Marodeurs wird von einer bosnischen Krankenschwester erzählt in einem bisher unveröffentlichten Dokumentarfilm von Helke Sander über die serbischen Lager - Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, in: MEW 17, S.340 - Das Adorno-Zitat aus den Minima Moralia, Frankfurt 1985, S.161


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