G:  aufsätze


Die sprachkritische Aktion "Unwort des Jahres"
Horst Dieter Schlosser


Zu berichten ist über eine Aktion, mit der in Deutschland seit 1991 alljährlich ein "Unwort des Jahres" gesucht und gewählt wird. Es geht dabei um eine Form der praktischen Sprachkritik, wie sie ähnlich schon einige Jahre länger in den USA durch die Verleihung des "Double Speak Award" (Jury-Sprecher: Prof. William Lutz) geübt wird.l

Die Anregung für die deutsche Unwort-Aktion ging jedoch von einer anderen Seite aus. Schon seit vielen Jahren wählt die Gesellschaft für deutsche Sprache, eine nichtstaatliche Institution, die sich der Sprachpflege verpflichtet hat, ein "Wort des Jahres"; das ist jeweils ein Wort, das für ein zurückliegendes Jahr und seine öffentlichen Debatten signifikant war. Beispielsweise stand 1981 das Wort "Null-Lösung" für die öffentlichen Debatten um den sog. NATO-Doppelbeschluß (allseitige Vernichtung von Mittelstreckenraketen oder Nachrüstung auf seiten der NATO).2

Was dem Verfasser als Initiator der Unwort-Aktion bei der Suche nach dem "Wort des Jahres" fehlte, war ein sprachkritischer Akzent. Das "Wort des Jahres" registriert nur, was gerade aktuell ist; ein Urteil über Wert oder Unwert des jeweiligen Sprachgebrauchs wird nicht formuliert. Und das ist sicher kein Zufall.


1. Zurückhaltung von Linguisten in Fragen der Sprachkritik

Es gibt in der deutschen Linguistik eine ausgedehnte Literatur zu der Frage, ob und gegebenenfalls wie sich diese Disziplin zu sprachkritischen Themen verhalten soll. Dabei vertreten viele Fachwissenschaftler den durchaus ernstzunehmenden Standpunkt, daß vor einer Beschäftigung mit Sprachkritik die Klärung sprachsystematischer Fragen, Fragen nach der Stabilität und Veränderung sprachlicher Strukturen, zu stehen habe, damit Stellungnahmen zu aktuellen Phänomenen nicht zu kurzatmig ausfielen. Das führt im Extremfall sogar zur völligen Abstinenz in Sachen Sprachkritik.

Um nur ein einziges, ebenfalls ernstzunehmendes Argument für diese Position zu erwähnen: Urteile über Einzelfälle konkreten Sprachgebrauchs überschreiten häufig die linguistische Kompetenz, weil sie sich auch (manchmal sogar ausschließlich) auf den Inhalt einer konkreten Formulierung einlassen; dieser Aspekt aber ist meist nicht ohne Kompetenz auf ganz anderen Feldern als dem der Sprachwissenschaft, etwa der Politik oder der Soziologie, verantwortlich zu klären. Aber selbst eine Mehrfachkompetenz des Urteilenden ist zu beargwöhnen, weil dabei die Kriterien für ein Urteil zu leicht durcheinandergehen können. So könnte etwa eine Sachkritik das linguistische Urteil dominieren, was die linguistische Qualität des Urteils beeinträchtigen müßte ...3 Beispiele für derlei, letztlich unwissenschaftliche Vertauschungen der Urteilsebenen gibt es durchaus; selbst ein klassischer Sprachkritiker wie Victor Klemperer war davor nicht gefeit.4

Wie sehr sich nichtlinguistische, etwa sozialpolitische Aspekte in die Sprachkritik "einmischen" können, wird aktuell an Argumenten deutlich, die auch in Deutschland der Bewegung von "Political correctness" zuzurechnen wären. Immer wieder werden auch der Unwort-Aktion einzelne Wörter und Wendungen zur öffentlichen Rüge empfohlen, die angeblich bestimmte Gruppen der Gesellschaft diskriminieren. Welches Niveau dabei erreicht werden kann, läßt sich an drei ernstgemeinten Vorschlägen exemplifizieren: Architekten wehren sich gegen die Formulierung "Architekten des Grauens, des Schreckens...", ein Handwerksmeister fühlt sich von dem Phraseologismus "jemandem das Handwerk legen" beleidigt, und ein Landwirt wehrt sich gegen die Umschreibung eines Babyrülpsers mit dem Wort "Bäuerchen"!

Solche Formen sprachkritischen Denkens würden, wenn man sie zum Maßstab nähme, keinerlei spontane Rede mehr zulassen. Sprachkritik, die in dieser oder einer ähnlichen Weise über eine kritische Analyse von sprachsystematischen Themen hinausgeht, wird darum - wohl kaum zu Unrecht - als eine Form der Sprachlenkung angesehen, die in ihrer extremsten Form als Sprachpolitik auftritt. Sie kann Verbote bestimmter Wörter und Wendungen und Vorschriften zum politisch und/oder ideologisch "richtigen" Sprachgebrauch umfassen. Damit aber kommen spezifisch deutsche Erfahrungen ins Spiel, die ebenfalls zur Zurückhaltung mahnen. Die Sprachlenkungsversuche in zwei deutschen Diktaturen dieses Jahrhunderts sind und bleiben ein Trauma, das nicht einfach verdrängt werden darf.


2. Die Sprache gehört nicht nur den Linguisten

Die fachtheoretischen Bedenken und die eher langfristigen Erwägungen zur "Selbstheilung der Sprache" werden allerdings den erwiesenen Risiken und schrecklichen Folgen eines aktuellen Sprachgebrauchs und dem Interesse einer Gesellschaft nicht gerecht, die in ihrer Mehrheit von der Sprache einen konstruktiven Beitrag zum sozialen Miteinander erwartet. Das große Laienpublikum erwartet von einer Fachwissenschaft wie der Germanistik, insbesondere ihres linguistischen Teils, mehr Hilfestellungen für einen Sprachgebrauch, der den zu verhandelnden Dingen und der Menschenwürde angemessen ist.

Das große sprachkritische Interesse in der deutschen Bevölkerung schlägt sich unter anderem in zahllosen Leserbriefen nieder, wird in der hohen Zahl von Anfragen bei Sprachberatungsstellen (bei der Gesellschaft für deutsche Sprache, bei der Duden-Redaktion, beim "Grammatischen Telefon" der Technischen Hochschule Aachen u.ä.) deutlich und macht sich in der anhaltenden Hochschätzung von Publikationen bemerkbar, die wie "LTI" von Victor Klemperer, das "Wörterbuch des Unmenschen" von Sternberger, Storz und Süskind oder "Kavalleriepferde beim Hornsignal" von Erhard Eppler bei linguistischen Fachleuten auf Mißtrauen stoßen. Kurzum: der Sprachwissenschaft wird - um es mit einem modischen Ausdruck zu umschreiben - eine "Bringschuld" zugeschrieben, der die Fachdisziplin selbst jedoch nur selten gerecht wird.

An der immer geringer werdenden öffentlichen Reputation der germanistischen Linguistik ist diese Disziplin zu einem wesentlichen Teil selbst schuld. Ihre nicht enden wollenden Fachdebatten um eine Theorie der Sprachkritik befriedigen nur noch die wenigsten. Man will wissen, was hier und heute "gutes" oder "richtiges" Deutsch sei. Darum hat sich die Suche nach einem "Unwort des Jahres" von vornherein dem Grundsatz verschrieben, daß die Sprache allen gehöre und nicht nur wenigen Experten, ebensowenig wie einer politischen Elite, die auch in einer Demokratie aus Gründen des Machterhalts zu eigener Sprachlenkung neigt. Darum auch die besondere Form der Ermittlung von "Unwörtern": Jedes Jahr im Herbst wird die gesamte Sprachgemeinschaft über die Massenmedien aufgerufen, Vorschläge einzureichen, die sodann, zu Beginn des neuen Jahres, von einer Jury gesichtet und bewertet werden.


3. Gratwanderung zwischen Populismus und Wissenschaftlichkeit

Das steigende Interesse in allen Schichten der Bevölkerung an dieser Form der Sprachkritik schlägt sich statistisch wie folgt nieder:

Jahr Meldungen Vorschläge
___________________________________
1991: 351 439
1992: 583 661
1993: 715 518
1994: 1.708 1.119
1995: 2.346 1.261

(Bereits im November 1996 waren nach dem jüngsten Aufruf beim Verfasser
als Sprecher der Jury bereits über 1.000 Meldungen mit ca. 650 verschiedenen Vorschlägen eingegangen; Meldefrist ist aber erst der 10. Januar 1997!)

Jedoch muß sich auch die Unwort-Aktion davor hüten, als sprachlicher Oberrichter der Nation zu erscheinen, zumal sie aus der wachsenden Fülle von Vorschlägen jeweils nur eine winzige Gruppe von "Unwörtern" hervorheben und negativ auszeichnen kann. Die Jury besteht aus vier in der linguistischen Forschung und Lehre Tätigen (derzeit sämtlich Hochschullehrer) sowie zwei "freien" Juroren, die alljährlich aus der Sprachpraxis, in Medien und Kulturinstitutionen oder als Schriftsteller, hinzugewählt werden. Auch ein sechsköpfiges Gremium kann und darf auf keinen Fall für sich beanspruchen, eine ganze Sprachgemeinschaft zu repräsentieren. Darum steht schon in der Satzung, die sich die Jury 1994 gegeben hat, ausdrücklich:

"Die Aktion 'Unwort des Jahres' will für mehr sachliche Angemessenheit und Humanität im öffentlichen Sprachgebrauch werben. [...] Die Rügen verstehen sich in erster Linie als Anregung zu mehr sprachkritischer Reflexion. Eine Zensurabsicht liegt der Aktion fern. [...]" (§ 1)

Das heißt: Jedes noch so gut begründete Urteil schließt die Möglichkeit des Irrtums ein und darf schon deswegen nicht "letztinstanzlich" sein. Ja, die kritische Diskussion über Entscheidungen ist sogar erwünscht, weil auch damit das Hauptziel der Aktion erreicht wird: die sprachkritische Reflexion, die in der wachsenden Fülle täglicher Verlautbarungen und ihres immer schneller werdenden Umschlags in den Medien notwendigerweise zu kurz kommt.

Daß in einer auf den aktuellen Sprachgebrauch zielenden Kritik mittel- und langfristige Entwicklungen der öffentlichen Sprache nur ungenügend berücksichtigt werden können, erhöht jedoch auch die Gefahr, sich vorwiegend auf diejenigen Vorschläge aus der Bevölkerung zu konzentrieren, die vielleicht nur einer kurzfristigen Interessenlage entspringen. Hierbei ist der Eindruck "populistischen" Handelns kaum zu vermeiden. Entsprechende Vorwürfe kommen indes überwiegend von seiten der Kritisierten, können also getrost ertragen werden.

Ein besonders deutlicher Fall ergab sich 1994, als aus dem Jahr 1993 - im übrigen erst auf Rang 2 einer Liste von insgesamt fünf Unwörtern - eine Formulierung von Bundeskanzler Helmut Kohl gerügt wurde: der "kollektive Freizeitpark" als ironisch-zynische Umschreibung von wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen der Opposition. Das Bundeskanzleramt schoß gleichsam aus allen publizistischen Rohren auf die Jury, weil diese mit ihrer Entscheidung angeblich in den schon ausgebrochenen Bundestagswahlkampf eingegriffen habe.5 Der Eindruck, daß die Jury sich einseitig auf die Seite der damals starken Regierungsgegner geschlagen hätte, wurde für manchen noch durch Rang 1 der damaligen Unwörter verstärkt: "Überfremdung" als aktuelles Pseudoargument gegen den Zuzug von Ausländern, im übrigen ein Wort, das nachweislich von den Nazis durch Sprachlenkung (in den Duden-Ausgaben von 1934 und 1941) zum Kampfbegriff gegen "fremdes Volkstum" und "Fremdrassige" gemacht worden ist.

Das Risiko, der politischen Einseitigkeit geziehen zu werden, kann die Jury, deren Mitglieder sehr verschiedenen politischen Richtungen zugerechnet werden müssen, allerdings kaum vermeiden. Es muß schon deswegen getragen werden, weil - wie bereits gesagt - die Sprachgemeinschaft ein legitimes Interesse daran hat, hier und heute und nicht erst nach fachwissenschaftlich unvermeidbar langen Vorlaufzeiten etwas über die Qualität des Sprachgebrauchs zu erfahren. Mit der gleichen Entschiedenheit, mit der Kanzler Kohl 1994 kritisiert wurde, wehrte sich die Jury 1995 gegen den von interessierter Seite durch eine Zuschriftenaktion lancierten Versuch, Helmut Kohl noch einmal zu rügen, diesmal wegen seiner Betitelung von PDS-Anhängern als "rote Socken". Auch andere Versuche, die Jury durch "Postwurfsendungen" für einen bestimmten Unwort-Kandidaten einzunehmen, sind bisher durchschaut und abgewehrt worden! Schon in der allerersten Unwort-Wahl für 1991 wurde ein Wort negativ ausgezeichnet, das nur von einem einzigen Einsender benannt worden war: der Kampfruf "Ausländerfrei!", der bei ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda benutzt worden war.

Auch wenn die Aktion nicht als wissenschaftlich im üblichen Sinne gewertet werden kann (Abstimmungen, wie sie durch eine Jury vorgenommen werden, sind nun einmal kein wissenschaftliches Instrument), so dürfen sich die Beratungen der Jury doch rühmen, wesentlichen Kriterien einer sprachpragmatischen und semantischen Interpretation zu genügen. Stets werden zunächst der Kontext und die Aussageintention ermittelt. Aber auch sprachhistorische und lexikographische Aspekte werden berücksichtigt.

So war für die schon zitierte Rüge von "Ausländerfrei!" nicht eine diffuse Ausländerfreundlichkeit der Jury ausschlaggebend, sondern die Feststellung, daß das zugrundeliegende Wortbildungsmuster eine Gleichsetzung von Menschen mit sachlichen Schadensquellen nahelegt; man denke an parallele Bildungen wie "atomwaffen-", "müll-", "staub-" oder "unfallfrei" u.ä. Eine frühe zynische Verknüpfunq von ethnisch diskriminierten Menschen mit dem Suffixoid "-frei", die gewiß auch "geistige" Anregung für den Mob von Hoyerswerda war, findet sich in dem Wort "judenfrei", das bereits im 19. Jahrhundert seine Karriere begonnen hat (u.a. bei Fontane belegt), bis es im Holocaust seinen grausamen Zenit erreichte. - Echter Populismus hätte - angesichts einer ausländerfeindlichen Grundstimmung - die Jury durchaus veranlassen können, den Kampfruf von Hoyerswerda milder zu beurteilen oder gar nicht wahrzunehmen!


4. Theoretische und praktische Erwägungen zur Sprachkritik heute

Es soll nicht geleugnet werden, daß die Unwort-Aktion nur eine Facette möglicher Sprachkritik darstellt. Mit der Definition, ein Unwort sei ein Wort oder eine Wendung, wodurch die bezeichnete Sache grob unangemessen formuliert werde und die möglicherweise die Menschenwürde verletze, konzentriert sich die Jury auf das Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichneten. Dieses Verhältnis ist nach der Lehre des "Erzvaters der modernen Linguistik", Ferdinand de Saussure, beliebig. Verstößt aber eine Unwort-Wahl nicht gegen diesen Grundsatz, indem sie Wörter statt der von ihnen benannten Sache kritisiert?

Grundsätzlich gilt auch für die Unwort-Aktion, daß nicht die Wörter an einer Verzeichnung der Realität oder gar an einer Verletzung der Menschenwürde schuldig sind, sondern die Sprachbenutzer, welche die Sprache fahrlässig oder vorsätzlich mißbrauchen. Die Beliebigkeit sprachlicher Zeichen kann indes bestenfalls für den Zeitpunkt einer Wortfindung gelten; bei einer bewußt der Verschleierung oder Beleidigung dienenden Wortwahl oder -erfindung läßt sich bereits eine Differenzierung zwischen "unschuldigem" sprachlichen Zeichen und schuldhafter Absicht des Sprachbenutzers kaum noch vertreten. Aber auch eine zunächst neutrale Beziehung zwischen Wort und Sache verliert häufig ihre "Unschuld", nämlich überall dort, wo die Semantik eines Wortes von konkreten Erfahrungen mit der bezeichneten Sache beeinflußt wird.

Man kann dies an zahlreichen Belegen aus Zeiten ideologisch-politischer Sprachlenkung nachweisen. Nehmen wir noch einmal den Begriff der "Überfremdung". Er bezeichnete ursprünglich eine zu starke Einmischung fremden Geldes in das Kapital einer Handelsunternehmung, war also ein betriebswirtschaftlicher Terminus. Es war den NS-Propagandisten vorbehalten, daraus einen rassistischen Kampfbegriff zu machen, und sie waren dabei so erfolgreich, daß heute die betriebswirtschaftliche Urbedeutung völlig in Vergessenheit geraten ist, während eine negative Konnotation, die zudem von der Angst vor allem Fremden lebt, zum allein herrschenden Denotat geworden ist. Der heutige Benutzer des Wortes, mag er sonst noch so arglos denken, wird geradezu automatisch von der neuen, alles andere als arglosen Bedeutung affiziert. Gleichwohl sind auch bei diesem Wort jeweils der konkrete Kontext und die Aussageabsicht mitzubedenken.

Noch deutlicher wird die vom Benutzer losgelöste "Belastung" eines Wortes dort, wo Varianten zur Verfügung stünden, die der bezeichneten Sache eher gerecht würden. Das ist bei allen Wörtern der Fall, die eine Sache verschleiern oder beschönigen sollen, also bei Euphemismen. Wo die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, Massenvertreibung, -vernichtung und Vergewaltigungen, als "ethnische Säuberungen" (Unwort des Jahres 1992) umschrieben werden, macht sich nicht nur der Erfinder dieses Euphemismus zusätzlich schuldig, auch der arglose Nachredner oder -schreiber wird vom Gebrauch dieses Euphemismus "befleckt", zumal "Säuberung" hier das genaue Gegenteil dessen bedeutet, was uns und unserem Hygieneideal das Wort sonst so sympathisch macht. -

Diese Richtung sprachkritischer Reflexion ist aber - wie gesagt - nur eine von vielen Möglichkeiten, zum gegenwärtigen Sprachgebrauch kritisch Stellung zu beziehen. Jeder Aufruf konfrontiert die Jury nicht nur mit einem weiten Spektrum von aktuellen oder auch schon langlebigen Verstößen gegen den Grundsatz sachlicher Angemessenheit einer Wortwahl; der Jury werden auch zahlreiche andersgeartete Beschwerden gegen einen unangemessenen Sprachgebrauch vorgelegt, auf die in den punktuellen Entscheidungen der Jury nicht eingegangen werden kann.

Sehr zahlreich sind Verwechslungen von Sach- und Sprachkritik, die linguistisch nicht tolerabel sind, die aber nur beseitigt werden könnten, wenn sich die Linguistik etwas mehr um Aufklärung eines Laienpublikums bemühen würde. Besonders aufschlußreich war 1995 die Kritik an der Diätenerhöhung im Deutschen Bundestag wie auch in verschiedenen Landtagen und die sprachkritischen Folgen. Nicht wenige meinten nämlich, "Diätenerhöhung" müsse als Unwort gebrandmarkt werden; tatsächlich aber meinten sie wohl weniger das Wort als die ihnen suspekt erscheinende Sache. Die Jury wählte dagegen die von Politikern häufig gewählte Wortbildung "Diätenanpassung", weil das Grundwort "Anpassung" eine - fast im Darwinschen Sinne - naturnotwendige Veränderung evoziert, die politische Setzung eines Erhöhungsbeschlusses dagegen verschleiert.

"Anpassung" als Bezeichnung einer funktional bedingten Veränderung müßte im übrigen auch die Möglichkeit einer Senkung von Beiträgen, Gebühren, Versicherungsprämien u.ä. einschließen. Bezeichnenderweise wird in diesen Fällen das Wort jedoch so gut wie nie gebraucht! (Kleine Erfolgsmeldung am Rande: Als 1996 im Bundestag über eine Verschiebung der Diätenerhöhung auf das Jahr 1997 beraten wurde, haben viele Medien das Unwort 1995, "Anpassung der Diäten", offenbar bewußt vermieden!)

Eine ebenfalls nicht seltene Klage über den aktuellen Sprachgebrauch konzentriert sich auf die Verletzung von Stilnormen. Dazu sollen hier auch vermeintlich "grammatische" Normen gezählt werden, weil in Zuschriften zur Unwort-Suche auch Regeln angemahnt werden, die von keiner sprachlichen Instanz außer der der Gewohnheit oder des "Sprachgefühls" festgelegt sind. Ein Paradebeispiel ist die auch im öffentlichen Deutsch immer häufiger zu beobachtende Hauptsatzbildung nach "weil".

Die Gebrauchsnorm, die den meisten Sprachbenutzern (in der Schriftform auch denen, die mündlich gegen sie verstoßen) geläufig ist, lautet: In Kausalsätzen nach "denn" ein Hauptsatz, nach "weil" ein Nebensatz. Inzwischen werden, wie Stichproben vermuten lassen, in spontan gesprochener Sprache nach "weil" wohl weit mehr Nebensätze als Hauptsätze gebildet. Die Unwort-Aktion selbst kann ob ihrer Auswahlkriterien zu diesem Konflikt zwischen Gebrauchsnorm und tatsächlichem Gebrauch nicht Stellung nehmen. Dennoch werden ihr derartige Konfliktfälle in reicher Zahl immer wieder vorgelegt. Insgesamt dürften sie sogar den relativ größten Anteil an allen "Unwort"-Meldungen haben.

Daraus geht hervor, daß stilistische Korrektheit in der deutschen Sprachgemeinschaft einen sehr hohen Rang, wenn nicht gar den höchsten einnimmt. Das ist, für sich gesehen, sicher kein schlechtes Zeichen. Das starke Vordringen mündlicher, umgangssprachlicher Sprachmuster und -elemente in die öffentliche Kommunikation bedarf durchaus kritischer Beachtung, weil damit auch eine Senkung des Argumentationsniveaus verbunden sein kann. Dennoch muß man sich bei der Eindeutigkeit des "inhaltskritischen" Akzents der Unwort-Aktion fragen, warum sich ausgerechnet in diesem Rahmen so viele Mitmenschen über Verstöße gegen eine formale Korrektheit ereifern und damit eindeutige Fälle eines (im weitesten Sinne) politischen Mißbrauchs der Sprache für weniger wichtig halten. Das wäre nun allerdings kein gutes Zeichen für die deutsche Sprachkultur! Denn dann müßte man - um diesen Aspekt zu pointieren - sogar fragen, ob die Redekunst eines Joseph Goebbels oder eines Karl Eduard von Schnitzler (DDR) für die öffentliche Rede in Deutschland nicht doch noch als besonders vorbildlich gelten könnte; deren Demagogie war sprachformal durchaus korrekt!

Dem Sprachwissenschaftler bieten auch die nicht in das Kriterienprofil der Unwort-Suche passenden Beschwerden über tatsächliche oder vermeintliche Fehlleistungen im gegenwärtigen Sprachgebrauch ein reiches Anschauungsmaterial, das dringend einer systematischen Aufarbeitung bedürfte. Leider aber gibt es in Deutschland viel zu wenige wissenschaftlich ernstzunehmende Stellen, die sich - über orthographische Fragen hinaus - des hohen Bedarfs an Sprachberatung annehmen.


5. Längerfristige Tendenzen des Unwort-Gebrauchs

Nach über fünf Jahren Unwort-Aktion lassen sich auch in deren beschränkten Rahmen einzelne Tendenzen sprachlicher Fehlgriffe erkennen, die weit über die kurzfristige Aufmerksamkeit hinausreichen, die einzelne Unwörter wecken. Dabei ist keineswegs nur der generelle Mißbrauch von Euphemismen6 gemeint, die naturgemäß im Zentrum dieser Aktion stehen.

Hier kann nur noch sehr kurz auf die sprachlichen Folgen verwiesen werden, die sich aus einer wachsenden Verfachlichung, Technisierung, Bürokratisierung und Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche ergeben. Nicht diese sachkulturellen Entwicklungen als solche sollen kritisiert werden, sondern die oft unbewußte Unterwerfung unter deren Terminologien und die damit verbundenen Denkmuster, die eben auch außerhalb der Felder stattfindet, auf denen die Sachentwicklungen womöglich ihre Berechtigung haben.7 Alle folgenden Beispiele sind den Einsendungen zu den bisherigen Unwort-Aktionen entnommen.

Die Verfachlichung hat uns eine Menge von Fachtermini beschert, die in der nichtfachlichen Kommunikation mehr und mehr Unheil anrichten können, weil sie ob ihrer wissenschaftlichen Aura eine falsche Seriosität vorspiegeln. Die schlimmen Folgen von Chemieunfällen in Frankfurt a.M. etwa sind inzwischen seitens der Leitung des verantwortlichen Unternehmens verbal schon zweimal damit heruntergespielt worden, daß man erklärte, es seien "nur mindergiftige Substanzen" entwichen. "mindergiftig" war zweifellos ein toxikologisch korrekter Terminus, der aber bei Laien eindeutig Illusionen wecken sollte.

Der Technisierung entspringen immer mehr sprachliche Bilder, die außerhalb der Technik eine sehr eingeschränkte Sicht nichttechnischer Sachverhalte erzeugen. Am problematischsten wird die Metaphorisierung dort, wo Organisches, ja sogar Menschenleben zum "Material" herabgestuft wird, etwa in Komposita wie "Schüler-/Lehrer-/Spieler-material". Hier liegt bereits eine sehr alte Tradition sprachlicher "Materialisierung" vor; G.Korlén hat das in den Weltkriegen gern verwendete Kompositum "Menschenmaterial" bereits im 19. Jahrhundert entdeckt, u.a. bei Karl Marx.8

Die allgegenwärtige Bürokratie hinterläßt natürlich auch in der Alltagssprache ihre Spuren. Wer die Beseitigung von Verkehrs- und anderen Bauten schönfärberisch "Rückbau" nennt, der regt auf vielen anderen Gebieten ähnlich positiv klingende Umschreibungen für eindeutig negative Sachverhalte an. Das reicht dann von "negativen Gesundheitsprozessen" (für Betriebsunfälle!) bis "negative Deckungsreserve" (für ein Haushaltsdefizit). Auch der aktuell vielbeschworene "Umbau des Sozialstaats" verdankt sich letztlich dem Versuch, eine wie auch immer notwendige Kürzung von Sozialleistungen als "konstruktive", "aufbauende" Tat zu kaschieren.

Die Allmacht der Ökonomie schließlich schlägt sich in zahlreichen Alltagsmetaphern nieder, die ebenfalls das Humanum zu kurz kommen lassen. Wer Arbeitnehmer nur als "Humankapital", als menschliche "Ressourcen" bewertet, der ist mitverantwortlich dafür, daß auch im Alltag vieles Nichtzuberechnende "bilanziert" wird, daß gefragt wird, ob sich etwas "rechnet", daß sich etwas "gesundschrumpfen" muß usw.

Die sprachkritische Aktion "Unwort des Jahres" kann von all dem nur die stärksten Auffälligkeiten markieren, bietet aber für weitergehende sprachwissenschaftliche Analysen und sprachpflegerische Ansätze inzwischen umfangreiches Material. Es steht Interessierten zur Verfügung unter der Adresse des Verfassers:

Anmerkungen


1 Vgl. die jüngste Veröffentlichung: William Lutz, The New Doublespeak (New York: Harper Collins, 1996).

2 Vgl. Der Sprachdienst, 26 (1982), S. 1, und Rudolf Hoberg, "Linguistik für die Öffentlichkeit: Wörter und Unwörter des Jahres," in Öffentlicher Sprachgebrauch, hrsg. von Karin Böke u.a. (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996), S. 90-98.

3 Vgl. Rainer Wimmer, "Sprachkritik und Sprachkultur," in Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache, hrsg. von Hans Jürgen Heringer u.a.
(Tübingen: Niemeyer, 1994), S. 253-264.

4 Vgl. Verf., "Sprachkritik als Problemgeschichte der Gegenwart," in Öffentlicher Sprachgebrauch [wie Anm. 2], S. 99-109 (S. 100-103).

5 Vgl. Verf., "Vom Unwort zum Drohwort. Soll politische Sprachkritik wieder strafbar werden?," Arbeit und Recht, 42 (1994), 187-189.

6 Euphemismen sind nicht grundsätzlich zu kritisieren. Es gibt durchaus vertretbare Anlässe, sie etwa zur Schonung eines Gesprächspartners einzusetzen, wohl am einleuchtendsten in der Arzt-Patient-Kommunikation.

7 Vgl. Verf., "Von 'ausländerfrei' bis 'Diätenanpassung'. Fünf Jahre Unwortsuche," Der Sprachdienst, (1996), Heft 2, S. 47-58.

8 Gustav Korlén, "Om ordet 'material' som beteckning för människor,"
Språgkvård, (1984), Heft 2, S. 13-16.


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