glossen 10: Bestandsaufnahme — Zur deutschen Literatur nach der Vereinigung
Wirres und Wahres in “einfachen” Geschichten aus der ostdeutschen Provinz: Ingo Schulzes “Simple Storys”
Christine Cosentino

In den letzten Jahren wurden die Werke einer ganze Reihe von jüngeren deutschen Autoren - vorrangig von ehemals ostdeutschen Autoren - ins Englische übersetzt. Heißt das, daß die deutsche Literatur den Anschluß an die Weltliteratur gewinnt? Diese Fragestellung sei nicht überstrapaziert. Vorsichtig sei jedoch gesagt, man wird auf sie aufmerksam. Nicht zuletzt hat dazu der Autor Ingo Schulze beigetragen. Schulze, der 1962 in Dresden geboren wurde, studierte in Jena klassische Philologie und ging Ende der achtziger Jahre nach Altenburg, um dort am Landestheater als Dramaturg zu arbeiten. Im Kielwasser der politischen Ereignisse der Wende gründete er dort die unabhängige Zeitung Altenburger Wochenblatt, für die er bis 1993 Reportagen schrieb. Diese journalistische Erfahrung - das Beobachten, Registrieren, Bilanzieren - prägte ihn auch literarisch.

1995 wartete er mit seinem Debütroman 33 Augenblicke des Glücks auf, ein Werk über das postkommunistische Rußland. Schulze hatte 1993 ein halbes Jahr in St. Petersburg gelebt, wo er im Auftrag des Altenburger Wochenblattes journalistisch tätig war. Nicht nur erwies sich dieser Erstling als spektakulärer, mit vielen Preisen ausgezeichneter Kritiker- und Publikumserfolg[1], er wurde auch in verschiedene Sprachen übersetzt, darunter ins Englische. In den Rezensionen der amerikanischen Presse liest man Erstaunliches. So kommentiert zum Beispiel die Los Angeles Times am 30. März 1998: “This supremely confident debut of a young German writer ought to silence the jingo bells set off by the recent purchase of Random House by Bertelsmann. It is hardly appeasement to say that our pallid American bestseller realists can learn much from authors like Schulze.”[2] Kurz darauf, am 4. Mai 1998, meldete sich die renommierte Zeitschrift The New Yorker: “Last year, we set out to identify the most promising young writers in Europe ... We chose six.”[3] In dieser Gruppe der besten europäischen Nachwuchsautoren befindet sich Ingo Schulze, dessen Auswahl man mit folgender Erklärung begründete: “Ingo Schulze grew up in Dresden, and his unembellished fiction, which has been compared to the works of Raymond Carver, offers an unsettling picture of the newly unified Germany.”[4] Wie erklärt man sich diesen Erfolg? Schulze hatte ein halbes Jahr in New York verbracht, sich mit amerikanischen Autoren, darunter Richard Ford, angefreundet, sich aber vor allem mit den Stilmitteln der amerikanischen short story vertraut gemacht, mit der Tradition Hemingways also, die eine endlose Reihe von Autoren, wie u.a. Raymond Carver, Sherwood Anderson, Deborah Eisenberg oder Grace Paley, weiterführten. Schulze schult sich an dieser Tradition, er übernimmt sie, aber er formt sie zu Eigenem um, er bricht sie. Das Resultat seiner literarischen Bildungsreise ist sein 1998 erschienener zweiter Roman Simple Storys[5], ein Werk, das auf Anhieb von allen führenden Feuilletons des deutschen Literaturbetriebes überschwenglich gelobt wurde. Und da heutzutage - wie die Frankfurter Rundschau vom 5. Juni 1999 rückblickend beobachtet - Literatur nicht nur gelesen, sondern auch gesehen werden will, erwies sich das Erscheinen des Romans auf der Leipziger Buchmesse als Medienereignis mit spektakulärem Anstrich: nicht tangiert von überkommenen linken oder rechten Traditionen, “mutierte Ingo Schulze 1998 [wie Anfang der neunziger Jahre Durs Grünbein] binnen weniger Stunden zum deutschen Starautor.”[6] Beigetragen zu diesem Erfolg hat sicherlich auch die Tatsache, daß sich Schulze in diesem Roman nicht nur als nachahmender “Imitationsvirtuose”[7] amerikanischer Muster präsentiert, sondern als Formkünstler, der das fremde literarische Kostüm für die ostdeutsche Provinz tauglich macht.

In einem sehr weiten Sinne läßt sich die short story-Form mit der europäischen Novelle vergleichen, doch sie ist weniger formal und umfangmäßig festgelegt. Sie muß in einem Zug gelesen werden können, um ihre ganze künstlerische Wirkung zu entfalten, hat also etwas Miniaturenhaftes an sich. In der amerikanischen Zeitschrift The New Yorker blüht dieses literarische Genre geradezu. Ein scheinbar enger Blick ist der short story eigen, der auf die Einzelepisode ausgerichtet ist, sich jedoch in stilistischer Verdichtung auf ein breites geschichtliches amerikanisches Ganzes ausweitet. Charakteristisch sind eine effektbewußte Diktion, eine äußerst sparsame Sprache, lakonische Wucht, Leerstellen, Andeutungen, das Durchscheinen von Ungesagtem im Geschilderten sowie eine wie beiläufig erwähnte Pointe oder ironische Wendung. Was das Thema anbetrifft, so schildern die literarischen Meister der short story generell das Graue vom Himmel. Sie tun es durch Beobachtungen allein, ohne trübe Psychologie. Und so ist dann eben dieser Mangel an jeglicher Art des Psychologisierens ein ganz spezifisches Kennzeichen der short story. Die Helden der short stories - ganz gewöhnliche Menschen - sprechen für sich selbst -, oder die Umstände, in denen sie sich befinden, sagen etwas über sie aus.

In seinem “Vorwort” zu der von ihm herausgegebenen Anthologie The Vintage Book of Contemporary American Short Stories bezeichnet der Schriftsteller Tobias Wolff die Literatur von u.a. Raymond Carver, Richard Ford, Ann Beattie, oder Joy Williams als “stories about people who led lives neither admirable nor depraved, but so convincing in their portrayal that the reader had to acknowledge kinship.”[8] Wolff verweist auf Frank O’Connors bekannte Beschreibung der modernen short story “as the chronicle of misfits trying to break out of ‘submerged population groups’.”[9] Ingo Schulze, dessen short-story-artigen Momentaufnahmen ähnliche aus der Bahn geworfene Menschen zum Helden haben, war mit der Literatur über solche Misfits durchaus vertraut. Im spezifischen Kontext episodischer Momentaufnahmen jedoch ist für ihn noch ein anderes künstlerisches Medium von großem Interesse, nämlich Robert Altmans berühmter Film "Short Cuts", ein cinematographisches Meisterwerk, das seinen Stoff aus Raymond Carvers Geschichten zog. Die Einzelepisoden von Schulzes Simple Storys folgen den filmtechnischen Prinzipien dieses Kunstwerkes.

Altmans zweiteiliger Film “Short Cuts”, gedreht im Jahre 1993, basiert auf neun Geschichten von Carver sowie auf dessen Gedicht “Lemonade.” In freier Bearbeitung der literarischen Vorlage produzierte Altman ein Mosaik von Einzelepisoden, die sich in der urbanen Atmosphäre von Los Angeles abspielen, nicht in dem für Carver typischen Pazifischen Nordwesten. Carvers abgerundete Einzelstücke erscheinen in Altmans Bearbeitung durch den gemeinsamen Schauplatz zusammengewoben. Aber auch einige der Figuren sind in einem “cross over” in andere Episoden eingeblendet, kurz: Handlungen überschneiden sich, Perspektiven wechseln, spezifische episodische Hauptfiguren werden in anderen Stücken dieses Splitterwerkes zu Randfiguren oder verschwinden ganz. 1993 - parallel zu seinem Film “Short Cuts” - gab Altman die zehn Carver Werke, auf denen sein Film basiert, unter dem gleichnamigen Titel neu heraus. Vorangestellt ist diesem Buch ein “Vorwort”, in dem Altman das für ihn Charakteristische an Carvers Geschichten herausstellt: “I look at all of Carver’s work as just one story, for his stories are all occurences, all about things that just happen to people and cause their lives to take a turn.”[10] In diesem Sinne, nämlich im akuten Bewußtsein, daß sich etwas verändert hat, ja ein verstörender Wendepunkt eingetreten ist, äußert sich z. B. eine Figur aus Carvers Geschichte “Will you please be quiet, please?” folgendermaßen : “Were there other men, he wondered drunkenly, who could look at one event in their lives and perceive in it the tiny makings of the catastrophy that thereafter set their lives on a different course?”[11] Verwirrung, Unverständnis und Hilflosigkeit spiegeln sich auch in der Geschichte “So much Water so Close to Home”, in der eine handelnde Person bilanziert: “... One day something happens that should change something, but then you see that nothing is going to change after all. What then? Meanwhile, the people around you continue to talk and act as if you were the same person as yesterday, or last night, or five minutes before, but you are really undergoing a crisis, your heart feels damaged ...”[12] Ingo Schulzes Ensemble erschöpfter Figuren aus der ostdeutschen Provinz reagiert ebenfalls auf einen solchen katastrophalen Wendepunkt. Aber dieses Ereignis, “die Wende” von 1989, die jedes Leben in eine andere Richtung gewendet hat, wird nur selten erwähnt. Sie wirkt eher wie ein beiläufiges Unglück, ein Unfall. Die Wende ist unsichtbar, wirkt nur im Untergrund, gezeigt wird der Zustand danach. Oberflächlich scheint sich wenig verändert zu haben: dieselben Menschen und derselbe Lebensbereich, nur - um noch einmal Carver zu zitieren - “your heart feels damaged.”

Ohne Psychologisierung liefert Schulze in seinen Puzzle-Einzelteilen Einblicke, die sich zu einem Gesamtbild der Post-Wendegesellschaft zusammenfügen. Seine Figuren - aus der Welt herausgefallene Menschen - reagieren auf die neue gesamtdeutsche Konsumgesellschaft, ohne sie zu verstehen. Die präzise Klarheit des Ungesagten, die für Carvers Geschichten so typisch ist, fehlt bei Schulze. Alles wirkt präzis unklar, abgerissen, zerrissen wie die Charaktere selbst, kurz, es bietet sich die für den Ostler noch unüberschaubare Welt des vereinigten Deutschland. “Irgend etwas bekam ich einfach nicht in den Griff, ohne zu wissen, was” (S 205), bilanziert eine von Schulzes Figuren. Robert Altmans Schauplatz Los Angeles wird zum ostdeutschen Provinznest Altenburg. Doch das Bunte der amerikanischen Gesellschaft wirkt hier grell, flüchtig, unpassend wie der neue Outfit, der noch nicht so richtig sitzt. “Das amerikanische Kostüm schlabbert um die mageren Schicksale,” meldet sich ein Kritiker. “Die Form ist so flüchtig wie der neue Golf, der nun über die Straßen der ostdeutschen Provinz braust.”[13] Es geht um einen “Teppich postsozialistischen Lebens”, - so Ulrich Greiner - “dessen scheinbar wirre Fäden sich zu einem neuen, nie gesehenen Muster fügen.”[14] Doch die Fäden dieses Musters - so darf man diesen Gedanken weiterspinnen - greifen locker und scheinbar strukturlos ineinander; man könnte an minderwertige Qualität denken, hätte das Fadenscheinige im Gewebe nicht dauernd auch den Charakter von verhüllender Dichte und komplexer Kompaktheit.

Die amerikanische short-story-Form wird von Schulze in ironischer Brechung angewandt, wie der Titel seines Werkes Simple Storys bereits suggeriert. Dieser eingedeutschte Titel ist mehrbödig. Die bewußt falsche Schreibweise der englischen Pluralform deutet auf die “Inkongruenz zwischen Ost und West.” [15] Jedoch auch das Nebeneinander von “simple” und “storys” schillert. Von der Komposition her handelt es sich nämlich durchaus nicht um “einfache” Geschichten, vielmehr um ein höchst kompliziertes Zusammenfügen von handlungs- und personenüberquellenden Einzelteilen zu einem Roman. Die Sprache der Menschen in diesem formal gar nicht einfachen Werk ist jedoch einfach: sie ist karg und sehr sparsam, Ausdruck von Unbeholfenheit und innerer Not. Und was die Menschen selbst anbetrifft, so geht es in diesem Panorama des Alltags in dieser thüringischen Kleinstadt zwar in der Tat um ganz einfache Durchschnittsmenschen, aber, man darf nicht vergessen, daß zum Bedeutungsbereich des englischen Wortes “simple” bzw. des deutschen Äquivalentes “simpel” auch der Aspekt des Einfältigen und Naiven gehört. Schulzes Figuren sind unglückliche Menschen von trauriger Komik, die sich in verfahrenen Situationen befinden. Nur, sie scheinen es nicht zu wissen: “Eigentlich sind wir Glückskinder”(S 327) , sagt eine der handelnden Personen, Hanni, mutig, wobei das einschränkende Adverb “eigentlich” doch eine ganz andere Sprache spricht. Schon in den 33 Augenblicke[n] des Glücks[16] ging es ja um den unberechenbaren “Stellenwert des Glücks” (9), der humorig kritisch beleuchtet wurde: etwa am Beispiel einer naiven, von ihrem Großvater zur Selbstlosigkeit erzogenen jungen Frau, die nach dem Ende des Kommunismus auf Kosten menschlicher Werte ein fragwürdiges Glück als Fotomodell findet (144), oder am Beispiel eines Sterbenden, der mit letzter Kraft mit einem Lächeln einer von Hütchenspielern betrogenen Frau seine Brieftasche überreicht (154). Sieht man das Thema der Glückssuche auf dem Hintergrund der 33 Augenblicke des Glücks, so schildern, laut Kritiker Wolfgang Höbel, die Simple Storys “29 Augenblicke eines namenlosen, den Helden nur halbbewußten Unheils - schon die Wendung von der Glückssuche zur Unglückserforschung belegt Schulzes Liebe zum Effekt.”[17] Worum geht es in Schulzes neuem Roman?

In 29 Einzelepisoden, denen allen in Brechtscher Manier eine knappe Inhaltsangabe als Lesestütze vorausgeht, führt Schulze dem Leser ein breites Spektrum von Figuren vor Augen, die mit den neuen, vor allem wirtschaftlichen Verhältnissen schwer oder gar nicht zurechtkommen, also auf ihnen fremde Notwendigkeiten reagieren. Doch die Inhaltsangabe ist verfremdet. Sie wirkt eher verwirrend als entwirrend, tut also der Spannung keinen Abbruch. Im Wesentlichen handelt es sich um arbeitslose Jobsuchende, den sozialen Abstieg Erlebende, nach neuen, bezahlbaren Wohnungen Fahnende, physisch und psychisch Kranke, um Menschen mit Nervenzusammenbrüchen und Herzinfarkten, Verkehrsopfer oder Opfer eines grassierenden Rassismus, Alkoholiker, Politiker in neuen Parteien und in neuen politischen Konstellationen, Spekulanten, Menschen, die sich in der neuen Marktwirtschaft nicht zurechtfinden und bankrott machen, kurz, um Menschen, die an ihrer Vergangenheit zugrundegehen und an der Gegenwart leiden oder an ihr scheitern. Auf den rund 300 Seiten des Romans begegnet der Leser am Schauplatz des Mikrokosmos “Altenburg” einer schier endlosen Kette von Personen mit einer internationalen Palette von Namen wie Martin, Barbara, Marianne, Dieter, Hanni, Patrick, Pit, Raffael, Orlando, Jenny, Kai, Edgar, Danny, Tino, Enrico, Conni, Lydia oder Maik, um nur einige zu nennen. All diese Personen kennen sich oder auch nicht. Sie stehen in engen oder ganz lockeren Beziehungen zueinander, deren Zusammenhänge der Leser erst allmählich oder gar nicht erkennt. Wenn man Schulze einen Vorwurf machen will, so ist es der des Chaotischen und des Wirrwarrs in diesem Figurenreigen bzw. Figurengeflecht. Wie die handelnden Personen selbst, fühlt sich der Leser oft verloren und desorientiert, oder er verliert sogar den Halt. Er muß letztlich selbst entscheiden, ob er es hier mit einem kalkulierten Kunstgriff bzw. erzähltechnischem Geschick oder mit künstlerischer Schwäche zu tun hat. Erinnert sei an dieser Stelle jedoch an Schulzes generelle Projektion präziser Unklarheit.

Einige Handlungsstränge lassen sich dennoch herauskristallisieren, wenn es auch von Seiten des Lesers des Rückblätterns und ständigen Namenprüfens bedarf. Die Storys beginnen und enden mit Mitgliedern der Familie Meurer. Von dieser Familie leiten sich andere Handlungsstränge ab und zwar mit neuen Personen, die in ihre eigenen Personenkreise eingebunden sind und diese ins Spiel bringen. Da berichtet zunächst im ersten Kapitel Frau Renate Meurer von einer Italienreise, auf der ihr Mann, der ehemalige parteihörige Schuldirektor Ernst Meurer, dem ehemaligen Arbeitskollegen Dieter Schubert begegnet, den er um seine Stellung gebracht hat. Dieser dreht durch und schreit der Welt vom Sims einer Kathedrale seine Leidensgeschichte entgegen. In einem späteren Kapitel rastet Ernst Meurer selbst aus, und seine Frau verläßt ihn. Innerhalb der Meurer-Familie ist es dann der Sohn Martin, ein arbeitsloser Kunsthistoriker, der neue Schwerpunkte setzt. Ihm wird der Führerschein temporär entzogen, und seine jetzt auf ihr Fahrrad angewiesene Frau verunglückt tödlich. Sie wird von Frau Doktor Barbara Holitzschek, einer in der Psychiatrie arbeitenden Ärztin überfahren, die die Fahrerflucht ergreift, dann vorgibt, einen Dachs überfahren zu haben. Die Schuldkomplexe der Frau Doktor spiegeln sich in den abgerissenen Bemerkungen anderer Personen in anderen Personenkonstellationen, die um Lydia, Präparatorin am Naturkundemuseum, und um ihren Mann Patrick, einen Fotografen, kreisen. Das bringt Figuren der lokalen Zeitungsredaktion und des Museumpersonals ins Spiel. Und so geht es weiter; die Handlungsstränge greifen ineinander und verlieren sich auch wieder.

Im letzten Kapitel ist es dann wieder ein Meurer, der arbeitslose Sohn Martin Meurer, der den Ton setzt. Mit der ehemaligen Schwesternschülerin Jenny macht er im Taucheranzug und mit Schwimmflossen in einer Fußgängerzone Reklame für ein Fischrestaurant. Er wird von Spottsüchtigen verprügelt und stapft davon. Er faßt es nicht. Niemand der Schaulustigen auf der Fußgängerzone hat sich gerührt, als man über ihn herfiel. Dazu der rührend-komische, tröstende, naiv-simple Kommentar seiner Gefährtin in diesen Simple Storys: “Vielleicht dachten sie, daß es nicht weh tut, wenn man ganz in Gummi steckt, oder daß es dazu gehört. Sie wollten sich nicht blamieren, falls es sich als Kunst oder Straßentheater herausstellt” (S 302). In dieser kalten Welt der Leistungsgesellschaft bleibt letztlich nur die menschliche Geste verzweifelten Sich-aneinander-Festhaltens: “Wir halten uns an der Hand, weil die Brille das Blickfeld einengt und man nie weiß, ob der andere wirklich noch neben einem geht” (S 303). Schulzes Simple Storys beginnen bei trübem italienischem Regenwetter mit der anklagenden Enthüllung über den “roten Meurer”, den Parteibonzen, der zum Verlust der Menschenwürde seines Opfers Dieter Schubert beigetragen hat. Sie enden wiederum mit einer trüben Regenszene, in der es jedoch einen Lichtblick, eine Geste der Selbstbehauptung, gibt. Martin beschließt, daß er nicht mehr zum Besitzer des Restaurants zurückgehen wird: ”Ich geh nicht mehr zu Kerndl”, sagte Martin. Er brauchte lange, um sich die Taucherbrille aufzusetzen. “Wohin denn dann?” fragte ich. “Weg”, sagte er, “möglichst weit” (S 303). Knapp und lakonisch ist der Ton. Die Botschaft jedoch ist unmißverständlich. In der neuen, unverstandenen, trüb wirkenden Welt der Marktgesellschaft mag zwar vieles käuflich sein, keineswegs aber die Menschenwürde und das Selbstwertgefühl.

In der Wahrung dieser Würde scheinen sich die beiden Protagonisten dieser letzten Episode, Martin Meurer und Jenny, instinktiv einig zu sein, denn sie bewegen sich weg vom Schauplatz der Erniedrigung. Dies geschieht unter den Klängen einer Musikkapelle, die eine Polka spielt, vielleicht auch einen Marsch: “Wie auch immer, Martin und ich verfallen in Gleichschritt. Und selbst als wir die Fußgängerzone verlassen, ändert sich daran nichts” (S 303). Hier halten sich Rührendes und blanker Hohn die Waage. Selten spürt man bei Ingo Schulze eine Pointe, eine “ironische Wendung, ... in der wenigstens für einen Augenblick so etwas wie eine Moral oder ein Witz aufleuchtet,”[18] beobachtet ein Kritiker. Ironie würde ja auf Kampfbereitschaft, auf den Willen zum Streit, deuten, denn - laut dem Philosophen Odo Marquard - handelt es sich bei dieser Sonderform des ansonsten auf Versöhnung zielenden Humors um eine “subversive” Form, die gerade nicht ihren Frieden mit der Welt schließt. ”[19] Zum Streiten sind Schulzes Figuren aus der ostdeutschen Provinz aber zu müde und zu ausgehöhlt. Hier wird eine unfaßbare Situation unter die Lupe genommen, auf die die Menschen fast mechanisch reagieren. Eine Pointe läßt sich bestenfalls in den Leerstellen finden, die der Leser füllen muß. Das psychologische, auch ironische Momentum spielt sich zwischen den Sätzen ab. In seiner vielsagenden Unklarheit ist dieser “postsozialistische Teppich” ein Gewebe von verwirrenden Post-Wende-”short cuts”, die den Gedanken trüber “long range”-Desorientierung evozieren. Der Leser hat das Gefühl, daß den handelnden Personen auf lange Zeit der klare Blick und die Weitsicht fehlen wird.

Raymond Carvers short stories und Altmans Film sind voll von Momenten, die den unberechenbaren Stellenwert des Glücks zum Thema haben, den Unglücksfall, die Glücklosigkeit. Aber in ihnen leuchtet auch, wie auch immer kurz oder andeutungsweise, die menschliche Geste und der Impetus des Weitermachens auf. In Carvers Geschichte “A Small, Good Thing”, in der ein Kind tödlich verunglückt, findet die unmenschlichste Figur der Handlung, ein verbitterter, verhärteter Bäcker, zu seiner Menschlichkeit zurück. Tröstend bietet er den trauernden Eltern Brötchen an: “You have to eat and keep going. Eating is a small, good thing in a time like this.”[20] Sehr ähnlich reagieren Ingo Schulzes Figuren. In Zeiten, wo die Welt zusammenstürzt und wo die Angst regiert, rafft sich der Mensch tapfer und völlig unpathetisch zur großen Geste auf, als verstünde und durchschaue er die großen Zusammenhänge in der kleinen Welt des Wassertropfens. “Wer Angst hat, der hat was zu verlieren,” sinniert Marianne Schubert, die verwitwete Frau des bereits erwähnten denunzierten Schullehrers. Sie folgert: “Also kanns mir gar nicht so schlecht gehen, wie ich immer annehme, sonst wärs mir ja egal” (S 251).

Diese den Amerikanern oberflächlich abgeguckte, jedoch kunstvoll gebrochene, zu Eigenem umgeformte Doppelbödigkeit und lakonische Kürze hat Schulze auf deutschem Boden in der Post-Wende-Zeit zur Meisterschaft entwickelt. Wohl keiner der jüngeren östlichen Erfolgsautoren - seien es z.B. Thomas Brussig oder Jens Sparschuh - ist diesen Weg gegangen. Das ständige Schwingen zwischen den Polen von Hilflosigkeit und Selbstbehauptung in der kleinen “gewendeten” Alltagswelt des so groß erscheinenden gesamten Deutschland macht somit im Nachhinein auch wieder jenes oben erwähnte Zitat anfechtbar, das die neue Situation als “etwas nicht in den Griff” (S 205) zu Bekommendes darstellte. In den Simple Storys gibt es nämlich eine andere Episode, die wie ein ergänzendes Gegenstück wirkt. Beim Versuch, in einem vereisten Container einen Ofen zu entsorgen, macht eine handelnde Figur, der Taxiunternehmer Raffael, eine Beobachtung, die unaufdringlich neben dem Empirischem auch Weltanschauliches und Künstlerisches suggeriert: “Ich kam nur mühsam voran, aber immerhin bewegte ich etwas. Ich hatte die Sache sozusagen im Griff, und das beruhigte mich. Ja, ich fühlte mich sogar richtig gut da oben. Womöglich, weil ich ein Problem aus der Welt schaffte. Es war nur eine Frage der Zeit. Plötzlich erschien mir alles lösbar und leicht” (S 293).


ENDNOTEN

[1]. Unter anderem wurde der Roman mit dem Alfred-Döblin-Förderpreis, dem Ernst-Willner-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs sowie dem Aspekte-Literatur-Preis ausgezeichnet.

[2]. "Cultures Collide, Commingle in Russia": ‘33 Moments of Happiness: St. Petersburg Stories’ by Ingo Schulze," Los Angeles Times 30. März 1998.

[3]. Bill Buford and Deborah Treisman, “Best Young Novelists,” New Yorker April 27 and May 4 1998. Es handelt sich um die Autoren Ingo Schulze, Marcel Beyer, Marie Darieussecq, Victor Pelevin, Juan Manuel de Prada and Lawrence Norfolk.

[4]. "Best Young Novelists"

[5]. Ingo Schulze, Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (Berlin: Berlin Verlag, 1998). Zitate aus diesem Roman im Text der Arbeit mit der Sigle “S” ausgewiesen.

[6]. Helmut Böttiger, “Saloniki. Bad Nauheim. Wenn die Zahl der Leser auf mehr als zwei anschwillt: eine Betrachtung über Literatur als Event,” Frankfurter Rundschau 5. Juni 1999.

[7]. Ulrich Greiner, “‘Menschen wie Tauben im Gras’. Ostdeutsch: Ingo Schulze schildert die Generation, die den Sozialismus überstanden hat,” Die Zeit 26. März 1998.

[8]. Tobias Wolff, “Introduction,” The Vintage Book of Contemporary Short Stories, hg. Tobias Wolff (New York: Random House, 1994) xiii.

[9]. Wolff, “Introduction,” xvi.

[10]. Robert Altman, “Introduction: Collaborating with Carver,” Short Cuts. Selected Stories by Raymond Carver, hg. Robert Altman (New York: Vintage, 1993) 7.

[11]. Carver, “Will you please be quiet, please?,” Altman, Short Cuts 60- 61.

[12]. Carver, “So much Water so Close to Home,” Altman, Short Cuts 79.

[13]. Thomas Steinfeld, “Ein Land, das seine Bürger verschlingt,” FAZ 24. März 1998.

[14]. Ulrich Greiner, “‘Menschen wie Tauben im Gras’...”

[15]. Claudia Kramatschek, “Provinz-Welten. Literarische Landnahme jenseits der Idylle,” ndl 46. 3 (1998): 181.

[16]. Ingo Schulze, 33 Augenblicke des Glücks (Berlin: Berlin Verlag, 1995). Zitate aus diesem Werk im Text der Arbeit.

[17]. Wolfgang Höbel, “Glücksritter auf Tauchstation. Ingo Schulze hat den langersehnten Roman über das vereinigte Deutschland geschrieben: ‘Simple Storys’ ist ein Buch zum Staunen und zum Fürchten,” Der Spiegel 2. März 1998.

[18]. Thomas Steinfeld, “Ein Land, das seine Bürger verschlingt”

[19]. Steffen Dietzsch, “‘Das Lachen ist die kleine Theodizee’: Odo Marquard im Gespräch mit Steffen Dietzsch,” Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori, hg. Steffen Dietzsch (Leipzig: Reclam, 1993) 17.

[20]. Carver, “A Small, Good Thing,,” Short Cuts 120-121.


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