glossen 10: Bestandsaufnahme — Zur deutschen Literatur nach der Vereinigung
Von der Komik der deutsch-deutschen Vereinigung zum Ernst der Vergangenheitsaufarbeitung: Thomas Rosenlöchers Prosa seit der Wende
Wolfgang Ertl

In Westdeutschland so richtig bekannt geworden ist der schon seit Beginn der achtziger Jahre in der DDR als Lyriker mit eigener, eigenwilliger Stimme geschätzte sächsische Dichter Thomas Rosenlöcher erst im Zusammenhang mit den sich überstürzenden Ereignissen der sanften Revolution von 1989, einer Zeit, in der dem Dichter erst einmal das Gedichteschreiben vergangen ist. Ironischerweise ist das der Zeitpunkt in seiner Biographie, zu dem seine Stimme plötzlich im ganzen Lande gefragt war. Was war passiert? Ein mitten im politischen und gesellschaftlichen Umbruch und trotz des heftigen Literaturstreits um das diskreditierte kulturelle Erbe der DDR erwachtes allgemeiner verbreitetes Interesse an lyrischer Dichtung aus Sachsen? Keineswegs, Rosenlöcher hat vielmehr im Oktober 1989 zufällig die Gelegenheit bekommen, etwas für eine Dresdener Tageszeitung zu schreiben, deren Chefredakteur gerade abgesetzt worden war, wie er in einem Interview mit Karl-Heinz Jakobs erzählt: "Das war auch einer meiner Alpträume: Die Zensur ist weg. Man kommt und fragt, hast du was? Ich mache meine Schublade auf, und nichts ist drin. Und so habe ich aus Verlegenheit mein privates Tagebuch abgetippt."[1] 1990 erschienen dann die Tagebuchnotizen unter dem Titel Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch.[2] Dieser Beitrag zum Zeitgeschehen zeichnet sich durch erfrischende Offenheit und wohltuenden Humor in der Darstellung der äußeren Begebenheiten und der Stimmung der Bevölkerung in der Zeit des Umsturzes in der DDR aus, registriert aber auch schonungslos den inneren Vorgang einer schmerzlichen Selbstbefragung. 1991 folgt der Reisebericht Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise[3], in dem der Dichter, auf den Spuren der literarischen Vorfahren Goethe und Heine wandelnd, seinem Gestaltungswillen und Stilisierungsdrang wieder freien Lauf läßt. Das Werk bekommt seine besondere Wirkung durch die Schwebe zwischen befreiendem Humor und beklemmender Groteske.[4]

Auf die Frage nach dem Genrewechsel vom Gedicht zur Klartext sprechenden Prosa im Tagebuch antwortet Rosenlöcher zunächst mit verschmitzter Bescheidenheitsgeste. Angesichts der Sprechchöre ("Wir sind das Volk") und der Reimkünste aus Volkes Mund auf den Plakaten der Demonstranten könne "unsereiner in seiner Eigenschaft als Lyriker getrost einmal stumm bleiben."[5] Die Übermacht des äußeren Geschehens verhindert das "Nach innen-Horchen"[6], das Rosenlöcher als Voraussetzung für Gedichte nennt. Natürlich eignet sich gerade das literarische Genre des Tagebuchs besonders für Selbstreflexion, was Rosenlöcher auch reichlich nutzt. Zum eher traditionellen Lyrikverständnis des Dichters, der sich nicht scheut, sich auf den Romantiker Eichendorf zu berufen und auch das Zwiegespräch mit dem Frühaufklärer Barthold Hinrich Brockes nicht verschmäht, gehört jedoch auch eine dem erlebenden Ich und den Dingen zu ihrem Recht verhelfende Bildlichkeit, die sich grundsätzlich von anderen Diskursen abhebt. Mit Hilfe einer solchen Poesie hat Rosenlöcher sich zu DDR-Zeiten einen Freiraum erhalten. Auf die Idee, Aufsätze zu schreiben, sei er gar nicht gekommen, erklärt er in seinem Gespräch mit Karl-Heinz Jakobs: "Im Gedicht habe ich das mir mögliche gesagt. Aber andere Formen, sich literarisch auszudrücken, sind mir nicht eingefallen. Es gab zwar Untergrundzeitschriften und den Westen, aber dort zu veröffentlichen fiel mir nicht ein, wahrscheinlich, weil es mein bißchen DDR-Existenz ernstlich in Frage gestellt hätte."[7] Rosenlöcher verwahrt sich allerdings gegen die Auffassung, es hätte sich bei dieser Art von lyrischem Schreiben um Verschlüsselung oder gar "Sklavensprache" gehandelt. Es sei vielmehr ein anderes, weitgehenderes, "auch durch Maske und Verstellung" existentielleres Schreiben gewesen, das "mehr innere als äußere Vorgänge zur Sprache zu bringen versucht".[8]

Was das "bißchen DDR-Existenz" betrifft: Der 1947 in Dresden geborene Thomas Rosenlöcher war als Handelskaufmann tätig und kam zur Nationalen Volksarmee, bevor er 1970 das Abitur an der Arbeiter- und Bauernfakultät Freiburg machte. Auf das Studium der Betriebswirtschaft an der TU Dresden (1970-1974) folgte eine Tätigkeit als Arbeitsökonom. 1976-1979 studierte er am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. Er war dann Mitarbeiter am Kinder- und Jugendtheater Dresden, veröffentlichte neben seinen beiden Gedichtbänden auch Lyrikübersetzungen, Hörspiele und Bilderbücher und ist seit 1985 freischaffend.

Seit der Vereinigung Deutschlands ist Rosenlöcher sowohl mit verschiedensten Prosastücken als auch mit Lyrik an die Öffentlichkeit getreten, mit seinen neuen Publikationen sowie zahlreichen Lesungen im ganzen Land. Auf den Band Die Dresdner Kunstausübung (1996), der Gedichte enthält, die seit 1988 entstanden sind, folgt bemerkenswerterweise 1998 ein Lyrikband mit dem Titel Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee[9], von dem man, wenn man boshaft sein will, behaupten könnte, er enthalte Schnee von gestern, da er eine Auswahl von Gedichten aus den beiden im Mitteldeutschen Verlag veröffentlichten Büchern Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz (1982) und Schneebier (1988) bringt, davon einige geringfügig verändert, die meisten in der ursprünglichen Gestalt.[10] Bestandsaufnehmende Vergewisserung des früheren Lebenswerkes und trotziges Aufbewahren des als nicht mehr gefragt Eingestuften aus dem untergegangenen Land und verlorenen Leben spielen eine Rolle. Ebenso ausschlaggebend erweist sich aber auch die Erkenntnis einer Kontinuität in der großen Geschichte sowie dem individuellen Dasein und kreativen Werk. Zwischen diesen beiden Gedichtbänden, im Jahre 1997, kam unter dem Titel Ostgezeter. Beiträge zur Schimpfkultur eine Sammlung von Reden, kurzen Geschichten und Aufsätzen heraus. Die Zeit seit der Wende brachte für den Schriftsteller also eine Erweiterung und auch Öffnung ins Prosagenre, von dem er jetzt häufig Gebrauch macht, immer wieder besonders als essayistischer Beitrag zum aktuellen Diskurs über die DDR-Vergangenheit und die Entwicklungen im vereinten Deutschland. Seit 1989 wurde Rosenlöcher mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Georg-Maurer-Preis (1989), dem Hugo-Ball-Förderpreis (1990), dem Märkischen Stipendium für Literatur (1990), dem Erwin-Strittmatter-Preis des Umweltministers des Landes Brandenburg (1996) und dem Hölderlin Preis der Universität und Stadt Tübingen (1999).

Im folgenden sei besonders die jüngste Prosasammlung Ostgezeter betrachtet. In einigen Texten zeigt sich ein ausgeprägtes Interesse für das Regionale, so zum Beispiel in den dichterischen Führungen durch das Dresdener Land ("Dampfschiffnudeln. Methoden, sich Dresden zu nähern"), das Leipziger Völkerschlachtdenkmal ("Das Leipziger Schreckensdenkmal") oder den Spreewald ("Die Spreewaldloreley. Ein Bierdeckelrekonstruktionsversuch"). Auf der einen Seite trägt diese Zuwendung zum Regionalen der nach der Wende neuerwachten Wertschätzung der regionalen Differenzierungen Rechnung, also einer Art "Nachholbedarf nach vierzig Vereinheitlichungsjahren" und auch "Halt im nun viel größeren Deutschland; Vertrautheit in sonst ausgewechselter Wirklichkeit" (69). Rosenlöcher sieht andererseits aber auch, wie leicht diese "neue Begeisterung für die eigene Gegend" in unproduktiven Provinzialismus versackt: "Da nun, was hier geschieht, immer nur hier geschieht. Und wenn schon nebenan, so doch außerhalb des eigenen Betroffenheitsbereiches. So kommt der Regionalismus paradoxerweise der Nivellierung entgegen, bis von der eigenen Gegend nur noch ein Etikett übrigbleibt, das sich die geleimten Ostler auch noch mit Begeisterung an die Stirnen heften" (69).

Immer wieder umkreisen die essayistischen Prosastücke jedoch das "Vergangenheitsthema" (99), hinterfragen sie die eigene DDR-Biographie, suchen sie nach Erklärungen für früheres Verhalten. Dabei stellt sich zwangsläufig die Reflexion über die Möglichkeiten des Schreibens ein. In seinem Dresdener Tagebuch bezeichnet Rosenlöcher sich als "Traditionsverfasser", von dem die Avantgardisten kaum Notiz nehmen: "Die einen erneuern die Literatur und die anderen schreiben trotzdem etwas. Die Avantgardisten erneuern die Kunst, indem sie derart eindrucksvoll auf sie verzichten, daß es auch schon wieder eine Kunst ist."[11] Im Unterschied zu dem grammatikzertrümmernden, sprachdestruierenden Schreiben der Avantgarde des Prenzlauer Berges etwa ist Rosenlöcher durchaus traditioneller Poetik verpflichtet. Das heißt nicht, daß er in einem unkritisch übernommenen konventionellen Diskurs verbleibt. Seine Sprache kultiviert poetisierende Rhetorik und stilistische Überhöhung, um sie immer wieder gleichzeitig auch ironisch oder parodistisch zu verfremden. Erst durch diese Doppelbödigkeit bekommen Rosenlöchers spaßige, clowneske Zeitbetrachtungen zum Verhältnis Ost und West und zum schwierigen Vereinigungsprozeß ihre Brisanz.

Sprachkritik spielt bei seinen Überlegungen zum Verhalten seiner Mitmenschen dabei allerdings keine unwesentliche Rolle. "Sächsisch als Verlierersprache" ist der erste Text in Ostgezeter und war ursprünglich die Dankesrede Rosenlöchers anläßlich des Hugo-Ball-Förderkreises 1990 mit dem Titel "Landessprache". Es ist eine humoristische, selbstironische Betrachtung des sächsischen Dialektes, der selbst vom sächsisch sprechenden Lehrer als "Maulfaulheit" bezeichnet werde. Im Unterschied zu anderen Dialektsprechern wird den Sachsen nachgesagt, sie "schämen sich vor sich selber, wenn sie den Mund aufmachen": "Allein sie verbieten sich ihren Dialekt von vornherein: 'Das heißt nicht heeßt, das heeßt heißt'" (11). Schon in der Kindheit beginnt diese das richtige Sprechen betreffende Lenkung, wenn die ebenfalls sächsisch sprechende Mutter mahnt: "Sprich anständig, Domas" (11). Welche Ironie, daß nach der Befreiung von den Zwängen des DDR-Regimes auch im Hinblick auf die heimatliche Sprechart erneut korrigierende Maßnahmen empfohlen werden. Rosenlöcher zitiert eine Dresdner Zeitungsannonce, in der Sprechunterricht angeboten wird, da der sächsische Dialekt in der freien Marktwirtschaft undenkbar sei (14).

In dem Text "Kannitverstaans Wiederkehr" geht es zunächst auch um das Mißverstehen und Nichtverstehen dessen, der eine andere Sprache spricht als die gewohnte. Hier dient die Figur des Handwerksburschen von Tuttlingen aus der Vorlage von Johann Peter Hebel zunächst der satirischen Darstellung der Mißwirtschaft im untergegangenen realen Sozialismus und der unterwürfigen Mentalität der DDR-Bürger. Auf die Frage des nach Dresden gekommenen Burschen, wem denn die "Bruchbude", vor der er fassungslos steht, gehöre, würde die Antwort lauten: "'der Wohnungsverwaltung natürlich.' 'Donnerwetter', hätte da der Tuttlinger gerufen: 'Da muß der Herr Wohnungsveraltung aber Zaster haben, wenn er ein solches Haus einfach verrotten läßt.' Und wieder hätten wir genickt, so wie wir immer nickten, wenn einer aus Deutschland kam. Unmöglich, ihm zu erklären, was nun, da die Vergangenheit plötzlich noch viel schlimmer war, erst recht nicht mehr erklärbar ist: Daß dieses Haus mit seinen herabgesunkenen Türmen und kopflosen Engelein eigentlich allen und keinem gehörte; gerade, wo dieser Sozialismus einmal andeutungsweise sozialistisch war, ist er erst recht gescheitert" (15, 16). Als Immobilienhändler überlistet der westliche Herr Kannitverstaan dann die, die sich statt in Deutschland, wie erhofft, "im Beitrittsgebiet" wiederfinden. Ihre zusammenfallenden Häuser werden jetzt renoviert: "Nur schade, daß wir ausziehen müssen" (17). Das Nichtverstehen des Erzählers gilt am Ende den neuen Zwängen, dem neuen "einen Weg", der Aussicht, daß die "Herrschaft Herrn Kannitverstaans […] Endpunkt der Weltgeschichte" sein könnte (18).

"Wünschenswert wäre ein Erinnern, das heute weder das Damals beschönigt noch mit dem Damals das Heute zu beschönigen sucht" (26), heißt es in dem Aufsatz "Die Heimat hat sich schön gemacht". Der Titel kommt von dem "Lied der jungen Naturforscher", dessen Zeile "Mit Fuchs und Dachs und Vogelwelt stehn wir auf du und du" es dem kleinen Thomas "besonders angetan hatte." Den Kindheitserinnerungen kommt für Rosenlöcher in den Essays eine entscheidende Bedeutung zu. In diesem zum Beispiel geht es keineswegs einfach um nostalgisches Sichzurückversetzen in die wohlbehütete Zeit der Kindheit, sondern darum, den Gründen für späteres Verhalten nachzuspüren. So etwa in der Schlußszene über die Sangesübungen im Kinderchor der Jungen Pioniere, bei denen der Erzähler "spätestens dann, wenn bestimmte Mädchenstimmen einfielen", in seinem "Kinderseelchen den heftigen Wunsch verspürte, daß alles sich richten möchte." Der Erzähler deutet dieses Wunschdenken jetzt als "eine Art Restreligiosität, die [ihn] immer neu auf einen richtigen Sozialismus hoffen ließ", aber auch "zu [seiner] Blindheit beitrug, [ihn] benutzbar machte" und die er "doch nicht missen möchte" (27). Der jüngere Dichterkollege Steffen Mensching spricht einmal von den "Inseln der Kindheit in einem Meer aus Lügen," eine treffende Formulierung für das Paradox kindlichen Glücks in einer doktrinären Gesellschaft.[12]

In dem Aufsatz "Die Heimat hat sich schön gemacht" verweist Rosenlöcher auch auf das Dilemma des von utopischem Wunschdenken beseelten Intellektuellen in der DDR, auf die "Dialektik des Widerstandes"[13]: "Indem das Zwangssystem vorgab, sich der Utopie zu nähern, setzte es Kräfte frei, die diese Utopie einklagten, und band sie durch sie an sich; war sowohl Gegner als auch Adressat. Machte hier sehend, dort blind, in einem aufmüpfig und anpassungsfähig" (22).

Der längste und wohl gewichtigste Aufsatz des Bandes besteht aus 69 Teilen zum Thema "Der Nickmechanismus. Ein Selbstbefragungsversuch". In anderen Texten des Bandes findet sich schon der Selbstvorwurf des Autors, "im Osten nicht wirklich 'Nein' gesagt zu haben" (33), oder der Hinweis auf seinen "Hang, sich unterzuordnen" (60). Der Frage nach eigener Mitschuld ist Rosenlöcher nie ausgewichen. Er bekennt sich schon im Dresdener Tagebuch zu verschiedenen Formen der Mitläuferei und Anpassung, zu Ängstlichkeit und Duckmäusertum. Seine "verteufelte sächsische Höflichkeit" oder sein "Harmoniebedürfnis" führt er dabei als Erklärung an, leicht verschmitzt, aber auch oft beschämt.[14]

Ein geplanter "Deutschlandroman" sei gescheitert, heißt es in "Der Nickmechanismus", da "seine Biographie nicht viel hergab" (106). Ferner hätten ihm seine Kollegen von dem Vorhaben abgeraten, da selbst Erfundenes gegen ihn verwendet werden würde: "Und wirklich war mir dergleichen bei meinem vergeblichen Romanversuch ein Problem: daß jedes Eingeständnis im deutsch-deutschen Kontext zur Unterwerfungsgeste wird. Schon wieder zu einer Art Nicken in Richtung Übermacht" (130). In einem dritten Ansatz, das "Scheitern des geplanten Selbstzerknirschungsvorhabens" zu erklären, heißt es mit unerschrockener Offenheit: "Am Ende ist Anpassung völlig trivial und viel nicht aus ihr ableitbar. Nur mit dem Wort Feigheit lassen sich niemals ganze Romanseiten füllen" (140). Wulf Kirsten nennt Rosenlöcher einen "Selbstbekenner, der sich nicht scheut, in den Spiegel zu sehen" und der "alle Register [zieht], um das Komische an und in sich richtig komisch finden zu können."[15] Gleich der erste Abschnitt gibt in diesem Sinne mit dem Titel "Ich nicht" den humoristischen Ton des Aufsatzes an, den der Dichter, wie er seiner Frau erklärt, jetzt wenigstens über "das Vergangenheitsthema" schreibe. Hier der kleine Dialog:

"Du willst dich selbst in Frage stellen, damit sich endlich einmal einer selbst in Frage stellt. Und wirst schließlich selber glauben, ein Spitzel gewesen zu sein."
"Ja, war ich denn wirklich keiner?"
[…]
"Nein-du-nicht."
Da bin ich aber froh.
(99)

Die formale Gestaltung des Essays ist in mancherlei Hinsicht aufschlußreich. Auf der einen Seite gewinnt er durch die immer weiter aufgefächerte Metapher vom "Nickmechanismus" eine analytische Kohärenz. Es beginnt mit der generellen Beobachtung, daß der "Mensch das nickende Wesen schlechthin" ist, das "sich inwendig unentwegt selber zunickt: Du bist gut, du bist gut, du bist gut" (105). Hieraus erklären sich das "Vergangenheitsaufarbeitungsgrundprinzip: Dabeigewesen sind immer die anderen" (105). Zu den verschiedenen Formen des Nickens in der DDR gehören dann das "Feigheitsnicken", das "Gleichgültigkeitsnicken", das "Gewohnheitsnicken", das "Einnicken" und das "Ewige Nicken". Die komische Konstruktion der leitmotivischen Metaphernkette des "Nickmechanismus" basiert auf der Beobachtung, daß im Leben und Zusammenleben der Menschen in der DDR etwas Mechanisches das Lebendige überlagert hat. Henri Bergson hat in seinem Buch Das Lachen die komische Wirkung der marionettenhaften Versteifungen des Lebens aufgezeigt. Nimmt man als Beobachter solche mechanisierten Gebärden wahr, stellt sich unwillkürlich der Lachreiz dar: "Das ist nicht mehr Leben, das ist ein ins Leben eingebauter und das Leben imitierender Automatismus. Es ist Komik."[16]

Rosenlöchers Aufsatz läßt jedoch gleichzeitig auf beträchtliche Schwierigkeiten schließen, das selbstgestellte sperrige Thema schreibend zu bewältigen. Immer wieder bleibt dem Erzähler das Lachen im Halse stecken. Auf die Feststellung, die "deutsch-deutsche Vereinigung [sei] unter den Weltproblemen eines der erfreulichsten", folgen die ironische Beobachtung "Wann je wäre jemand mit so viel Zartgefühl absorbiert worden wie wir" und die völlige Ernüchterung: "Und doch hat sich kaum einer richtig freuen können" (104). "Der eher heiteren Vereinigungstatsache", so heißt es an anderer Stelle, "stand der große Ernst der Vergangenheitsaufarbeitung entgegen" (105). Es gibt ja nicht nur die Gestik der humoristisch versöhnlichen Distanzierung und des ironischen Aufdeckens, sondern auch das beteiligte Ich, das sich selbst in Frage stellt. Der Versuch der Selbsterklärung resultiert in den wiederholten, immer wieder unterbrochenen Ansätzen, Variationen und Modifikationen der Aussagen des Textes, die Frage des "gescheiterte[n] Deutschlandsroman[s]", der SED-Mitgliedschaft (bis zum Austritt 1987), der "Utopiefalle" und der Gemeinsamkeit im vereinten Deutschland betreffend. In dem Abschnitt "Das Eichendorff-Ich" zum Beispiel kommt zu dem stockenden Vorgang der Selbstanalyse noch die Zerrissenheit des sich spaltenden Ich:

SED, das hieß Sozialistische Einheitspartei Deutschlands… Vorhut der Arbeiterklasse… Kann einer da gewesen sein? Nicht irgendeiner, sondern ich? – Geh, bevor ich das Geständnis überhaupt aufzuschreiben vermag, lange vor dem Haus im Dunklen auf und ab, um den Satz zu üben: 'Ich war in der SED.'

'Ich nicht', sagt mein anderes Ich. 'Wenn du dich eingelassen hast, ist das deine Sache. Ich bin autark. Ich habe Mörike gelesen, Hölderlin und Eichendorff […]. –Warum soll ich mich nachträglich noch von dir verstaatlichen lassen?" (102)

Zur "Utopiefalle" wurde in der Jugendzeit, wie im ersten Ansatz der Erklärung ausgeführt, der "Sozialismusverbesserungsweg" als Möglichkeit, "[k]ritisch zu sein, ohne 'feindlich' zu sein", sowie den "Transzendenzhunger" des Atheisten zu stillen (125). Als nächstes dann gaben der "Prager Frühling" 1968 und die Erinnerung an den 17. Juni 1953 und den Ungarnaufstand von 1956 Anlaß zu Zweifel, aber paradoxerweise auch erneute Hoffnung: "Und gerade die Tatsache, daß der Prager Frühling niedergeschlagen werden mußte, schien mir der Beweis für seine Lebensfähigkeit. Bis zum Jahr zweitausend hatte ich noch warten wollen" (128). Im dritten Teil der "Utopiefalle" wird die Auffassung, "die Partei keinesfalls den Mitläufern überlassen zu dürfen" (133) angeführt.

Was nun das Thema des "Ostgezeters" betrifft, so beklagt sich der Essayist im Titelaufsatz eingangs gleich darüber, daß er es niemandem rechtmachen kann: "Wollte ich mich erinnern, hieß es Nostalgie. Wollte ich kritisieren, hieß es Larmoyanz" (33). Während er zugibt, daß es nach der Vereinigung ein "Ostgejammer" gegeben habe, "das, manchmal verräterisch schrill, eigenes Dabeigewesensein zu übertönen suchte" (33), wertet er in verschmitzter Umdrehung des Klischees, der "Ostler" sei ein ewiger Meckerer, eine "Labermaschine" gewesen, diesen Charakterzug um in eine Taktik, die von besonderer Raffinesse zeugt. Der Text "Das Leuchtbild der Banane" stellt dar, wie es schon mit zur Sozialisation des Kindes in der DDR gehörte, dem Westbesuch der Westpakete und Mitbringsel wegen etwas vorzujammern: "Wie wir überhaupt unser Dasein, um ihre Großzügigkeit nicht unnötig einzuschränken, in möglichst schwarzen Farben darstellten und damit der Wirklichkeit erstaunlich nahe kamen" (28). Die wechselseitige Abhängigkeit hätte darin bestanden, daß sie die Westverwandten "allein schon deshalb brauchten, um wieder einmal zu merken, wie schlecht es uns wirklich ging", während diese ihre Ostverwandten benötigten, "um wieder einmal zu merken, wie gut sie es eigentlich hatten, so daß wir letzten Endes für sie den Sozialismus ertrugen und ihnen es letzten Endes für uns von Jahr zu Jahr besserging" (28). Im Aufsatz "Ostgezeter" geht die Aufwertung der "Schimpfkultur" noch weiter, indem sie einerseits "die Verhältnisse aushalten half", da ja "dieses Jammertal unbejammert noch trostloser ist", andererseits "die lebensnotwendige Unzufriedenheit aufrechterhielt" (41). Das Zetern erweist sich also als Gegendiskurs, der sich gegen die verlogene Sprache des Machtapparates behauptet: "Ein Stimmengewirr, das als Gegengeräusch zum staatlichen Gebetsmühlengeklapper vierzig Jahre lang unsere eigentliche Heimstatt war" (41).

Die Abwesenheit des Schimpfens, auf die man gelegentlich im Osten nach der Vereinigung stößt, ist dagegen Zeichen der in der freien Marktwirtschaft bis zur Besinnungslosigkeit Angepaßten, wie der folgende Dialog aus "Ostgezeter" zeigt:

"Jammert ihr eigentlich noch?" fragte ich Erwin, der ein Ingenieurbüro hat.

"Das ist ja der Jammer", rief er. "Wir kommen gar nicht mehr dazu." (41)

Und das bisher ungewohnte Jammern der Westverwandten, die sich darüber beklagen, wie viel sie der Osten seit der Vereinigung kostet, sei möglicherweise ein Zeichen für den Einfluß der östlichen Kultur auf den Westen: "Färbte der Osten nun doch auf den Westen ab?" (35)

Rosenlöcher fährt in seinem Werk mit dem ganzen Arsenal verschiedenster Formen des Komischen auf, vom kalauernden Wortspiel bis zur doppelbödigen Ironie. Die humoristische Distanz gegenüber der "eher heiteren Vereinigungstatsache" erschöpft sich keineswegs in verharmlosendem Ulk, sie ist vielmehr eng verbunden mit dem "große[n] Ernst der Vergangenheitsaufarbeitung" (105). Sicher läßt sich der Dichter gelegentlich auch packen "von der Komik des Deplaciertseins", von der Helmut Plessner in seiner Studie "Anlässe des Lachens" spricht.[17] Demnach lachen wir, "weil wir mit etwas nicht fertig werden", d. h. das "Lachen ist eine Möglichkeit der Distanz zu Situationen, in denen der Mensch keine Antwort mehr findet".[18] Oder wie Odo Marquard formulierte, ist es so, "daß man bestimmte Dinge, die besonders ernst sind, fast nur scherzhaft sagen kann; denn nur so hält man sie aus."[19] Es gibt bei Rosenlöcher aber auch Affinitäten zur Tradition der romantischen Ironie des heiteren Darüberstehens, hinter der sich auch die Erkenntnis des abgründigen Widerspruchs von Ideal und Wirklichkeit verbirgt. Schließlich besteht die Ironie auch in vielen der Prosatexte Rosenlöchers ja oft darin, daß das die (Zeit-)Geschichte und seine Umwelt betrachtende Ich keineswegs einfach identisch ist mit dem leibhaftigen Autor. Man darf auch in den essayistischen Selbstbefragungen den Kunstgriff der Maskierung und Verstellung nicht übersehen.



Anmerkungen

[1] Karl-Heinz Jakobs, “Die Vereinfacher haben sich durchgesetzt,” Neues Deutschland 29. Dezember 1995: 13.

[2] Thomas Rosenlöcher, Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990). Die Dresdener Tageszeitung Die Union druckte die Tagebuchnotizen Rosenlöchers schon im Herbst 1989 anstelle des sonst üblichen Fortsetzungsromans ab.

[3] Thomas Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991).

[4] Vgl. Wolfgang Ertl, “'Denn die Mühen der Ebene lagen hinter uns und vor uns die Mühen der Berge': Thomas Rosenlöchers diaristische Prosa zum Ende der DDR,” Literatur und Politische Aktualität, hrsg. v. Elrud Ibsch und Ferdinand van Ingen (Amsterdam: Rodopi, 1993) 21-37.

[5] Die verkauften Pflastersteine 36.

[6] Die verkauften Pflastersteine 22.

[7] "Die Vereinfacher haben sich durchgesetzt" 13.

[8] "Die Vereinfacher haben sich durchgesetzt" 13.

[9] Thomas Rosenlöcher, Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee. 77 Gedichte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998). Seitenangaben im Text nach Zitaten von Gedichten vor 1989 beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe.

[10] Thomas Rosenlöcher, Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz. Gedichte und zwei Notate (Halle, Leipzig: Mitteldeutscher Verl., 1982) und Schneebier. Gedichte (Halle, Leipzig: Mitteldeutscher Verl., 1988).

[11] Die verkauften Pflastersteine 54.

[12] Wilhelm Solms (Hrsg.), Begrenzt glücklich. Kindheit in der DDR, hrsg. v. Wilhelm Solms (Marburg: Hitzeroth, 1992) 51.

[13] Hans-Dieter Schütt, “Domas, dräum nur weider!,” Neues Deutschland. Beilage zur Frankfurter Buchmesse 1997 15.-20. Oktober 1997: 2.

[14] Die verkauften Pflastersteine 13, 33.

[15] "Staat und Rose" 177.

[16] Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori, hrsg. von Steffen Dietzsch (Leipzig: Reclam, 1993) 51.

[17] Luzifer lacht 166.

[18] Luzifer lacht 12.

[19] Luzifer lacht 11.


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