glossen 10: Bestandsaufnahme — Zur deutschen Literatur nach der Vereinigung
Rückblick auf 10 Jahre im Rückblick auf 100 Jahre. Zur deutschen Literatur 1990 –1999 in Günter Grass´ Mein Jahrhundert (1999)
Klaus Haberkamm

Zu denen, die nach dem Fall der Mauer über die Entwicklung der wohl bald gesamtdeutschen Literatur nachdachten, gehörte Jurek Becker. Als DDR Autor, der aus Widerstand gegen die Partei, aber mit Einwilligung des Ostberliner Regimes seit 1977 im Westen arbeitete, war er für eine Prognose besonders kompetent. Wie würde sich die bis dahin immer wieder gestellte Frage, wie viele deutsche Literaturen es gebe, für die Zukunft beantworten lassen? Nach einer differenzierten Erörterung der unterschiedlichen Bedingtheiten der Literaturen in Ost und West, die vor allem auf die Zensur und deren von den Publikationsmöglichkeiten und den Medien der Bundesrepublik ermöglichte Milderung abhob, gelangte Becker zu einer radikalen Einschätzung: Die DDR-Literatur müsse nach dem Wegfall der Repressalien, „um ihre große Herausforderung gebracht, nach und nach ihre Eigenart verlieren und allmählich aufhören zu existieren [...]“{1} Davon würden offenbar nicht nur die Parteigänger der bisherigen Regierung betroffen, denen ab jetzt sozusagen die Geschäftsgrundlage entzogen sei, sondern auch die bisherigen Dissidenten, „denen dieser Kleinkrieg [mit der „Staatssicherheit“] Grundlage ihres Autorenseins war“ (363). Zudem komme den DDR-Autoren – Bedrohung des Mythos vom „Leseland DDR“ – ihr angestammtes Publikum abhanden. Protest, sofern er noch notwendig sei, brauche nicht mehr indirekt, d. h. durch literarische Produktion und Rezeption, realisiert zu werden. Schon in den letzten Tagen der DDR konnte Becker analog einen drastischen Rückgang der Zahl der Theaterbesucher beobachten. Die DDR-Literatur, so der Kritiker zur möglichen Alternative, werde sich der westdeutschen auf bedenkliche Weise assimilieren. Vom Aufklärungsmedium drohten Bücher nunmehr zur Ware zu werden; gesellschaftlich-politische Probleme hätten im vereinigten Deutschland als literarische Themen keine Chance mehr, schon gar nicht rund zwei Jahrzehnte nach den Turbulenzen von 1968. Den Zustand der bundesdeutschen Literatur, wie „könnte man ihn anders als deprimierend bezeichnen. Die dominierenden Merkmale sind Anbiederung, Gefallsucht, Marktschreierei und Schlichtheit der Gedanken“, bemerkte der Autor etwa von Bronsteins Kinder oder Jakob der Lügner geradezu erbittert. „Die Bücher sind, wenn man von verschwindend wenigen Ausnahmen absieht, einander auf fatale Weise ähnlich geworden, so als wäre Ununterscheidbarkeit eine Bedingung für die Teilnahme am Kampf um die Käufer.“ (365) Dieser Befund ist trotz seiner polemischen Überspitzung und des Zugeständnisses von Ausnahmen bestürzend: Die DDR-Literatur werde auch in ihrer politisch akzeptablen Prägung zugrunde gehen; und die frivole, wenn nicht obszöne Literatur der Bundesrepublik ist aus der Sicht dieses gesellschaftskritisch orientierten Schriftsteller-Kollegen schon zum Zeitpunkt seiner Analyse gleichsam nicht existent. Somit gäbe es – jedenfalls für Jurek Becker – selbst über den gegenwärtig überschaubaren Zeitraum zwischen dem Beitritt der DDR 1990 und dem Beginn der sogenannten „Berliner Republik“ hinaus keinerlei relevante, profilierte, gar neuartige Literatur in Deutschland... Sollte etwa die zuweilen fast hektisch anmutende Umwerbung ausländischer Autoren wie des Niederländers Cees Noteboom, immerhin Anwärter auf den Nobel-Preis, oder des Spaniers Gabriel Marías durch deutsche Verlage symptomatisch für eine solch desolate literarische Situation in der Nachwendezeit sein?

Rund zehn Jahre nach Beckers Voraussage gibt es gewissermaßen eine Reaktion von einem geistig-ideologisch ähnlich disponierten und vergleichbar gewichtigen Autor darauf. Günter Grass, inzwischen Nobel-Preis-Träger, deckt in Mein Jahrhundert zwangsläufig das hier interessierende Jahrzehnt mit ab. Beginnt man dessen Zählung naheliegenderweise mit dem Jahr des Mauerfalls, sind die Berichts- oder doch wohl Erzählminiaturen von durchschnittlich vier Seiten, in die sich der subjektive Säkular-Rückblick linear-chronologisch gliedert, folgenden Sujets gewidmet: 1989 – da hatte auch der eigenwillige, auf Originalität der Auswahl bedachte Erzähler-Autor keine Wahl – drängt sich das Erlebnis der Mauer-Öffnung aus west- und vor allem ostdeutscher Perspektive auf. – Das Kapitel „1990“ dann behandelt die politischen Folgen eben des im vorhergehenden erzählten Ereignisses: die erste – von den Akteuren ausgerechnet in der „Heldenstadt“ mitverfolgte – freie Volkskammerwahl der Noch-DDR am 18. März. Dabei wird übrigens das Geheimnis der Widmung gelüftet: Der Jude Jakob Suhl, an den das Buch erinnern will, emigrierte 1938 aus einem Arbeiterviertel Leipzigs in die USA, wohin die übrigen männlichen Mitglieder der Familie vorangegangen waren. Bemühungen der Emigranten zur Rettung der zu Hause gebliebenen Mutter scheiterten am fehlenden Geld für das amerikanische Einreisevisum. Sie wurde schließlich auf der Flucht vor den Nazi-Verfolgern erschossen. – „1991“ besteht aus einem kritisch-skeptischen Dialog zweier Alt Achtundsechziger über den Golf-Krieg und die gesellschaftliche Reaktion darauf im Horizont der heutigen Medienherrschaft. Der Vietnam-Krieg mit seinen Begleitumständen dient zum Vergleich; die Balkan-Kriege kündigen sich an; und die Leipziger Montags-Demonstrationen – Grass sucht offensichtlich narrative Verknüpfungen – werden als Beweis für die Wirksamkeit zunächst naiv erscheinender friedlicher Protest-Aktionen erörtert. – „1992“ ist der Schilderung eines Treffs ehemaliger DDR-Bürger im Beisein eines Wittenberger Pfarres vorbehalten, bei dem die Bespitzelung der regimekritischen Ehefrau und Mutter durch den Ehemann zur Debatte steht. Wenn in diesem Zusammenhang an den von Grass nicht erwähnten Sascha Anderson zu erinnern ist, so aus heuristischen Gründen. – Im Abschnitt für 1993 setzt sich ein „kleiner“ Polizist, ehemaliger „VoPo“?, bemüht um „political correctness“, doch mit faschistoidem Einschlag, vor Ort mit den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen auseinander. „Läuft das in Frankreich etwa anders? Oder in London zum Beispiel? Fassen die ihre Algerier oder Pakistani etwa mit Glacéhandschuhen an? Oder der Amerikaner seine Neger? Na also.“{2} – Ein innerer Monolog der namentlich nicht genannten ehemaligen Wirtschaftsministerin Niedersachsens und nachmaligen Chefin der Berliner „Treuhand-Anstalt“ zur „Abwicklung“ der Wirtschaft der ehemaligen DDR sowie anschließenden Bundesbeauftragten für die Weltausstellung „Expo 2000“ in Hannover charakterisiert sie im Kapitel „1994“ als durchsetzungsfähige Dame mit großer, keineswegs nur positiv eingesetzter Macht. (Die politischen Sympathien des früheren SPD-Wahlkämpfers und "linken" Schriftstellers Grass treten bei der Lektüre des dokumentarisch-epischen Jahrhundert Rückblicks deutlich zutage.) – Auf dem kontrastiven Hintergrund der politisch brisanten "Selbstporträtierung" der Birgit Breuel berichtet ein Reporter unter der Jahreszahl „1995“ von der bei aller Problematik relativ harmlosen „Love Parade“ in Berlin als "'der größten Party der Welt‘ “ (358) in ihrem Gründungsjahr. – Im Kapitel „1996“ gibt Grass die Impressionen einer privaten Italienreise mit seinen drei erwachsenen Töchtern aus drei Ehen zur Osterzeit wieder. Der „nachweisliche Vater“ (361) dieser Frauen lässt unter „1997“ das Schreiben eines namhaften deutschen Gen-Forschers folgen, der im Jahr des Klon-Schafes Dolly Grass´ Befürchtungen einer heraufziehenden „vaterlosen Gesellschaft“ zu zerstreuen sucht und diese Aussicht eher als Chance für den „emanzipierten Mann“ begreifen möchte. – Der Machtwechsel in Bonn als Resultat der Bundestagswahl am 27. September ist, verpackt in eine für den Autor charakteristische mystisch abergläubische Pilzsammel-Geschichte, das Thema des Jahresberichts für 1998. – 1999 schließlich evoziert der Schriftsteller seine vor langer Zeit verstorbene Mutter im 103. Lebensjahr, lässt sie ihr Leben und damit das ihres Sohnes flüchtig darstellen und macht sie sozusagen zur zweiten expliziten Adressatin des Buches neben Jakob Suhl.

In Bezug auf das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, das zugleich das erste der gesamtdeutschen Geschichte der Nachkriegszeit ist, hätte sich erwarten lassen, dass Grass mit dem wachen Blick und Bewusstsein des literarisch Interessierten und Kompetenten einer eventuell vorhandenen neuen gemeinsamen Literatur mehr Platz, überhaupt einen Platz, eingeräumt hätte. Nicht einmal in dem ihm besonders affinen Bereich der politisch gesellschaftskritisch tingierten Literatur findet sich ein Hinweis auf die aktuelle literarische Lage. Der „Literaturstreit“ ist tabu, und mit ihm bleiben beispielsweise die einschlägigen Akten der Gauck-Behörde, die Kontroverse um Christa Wolf oder die Auseinandersetzungen zwischen beiden deutschen P.E.N.-Clubs unerwähnt. Allenfalls wird einmal, 1977, im Vorgriff andeutungsweise von „Vereinigungsschäden“ (288), dem Zerbrechen von Autorenfreundschaften unter den veränderten Bedingungen, gesprochen. Ist Grass mithin nur diskret? In Desinteresse, Animositäten allein oder mangelnder Zuständigkeit jedenfalls kann diese Zurückhaltung nicht begründet sein, zumal Grass durchaus literarische Reflexe, wo sie sich anbieten, einbaut. Dass es sich dabei nicht zuletzt um Anspielungen auf eigene Werke des Autors handelt, ändert nichts am Sachverhalt, macht allenfalls die allgemeine Lücke im Zeitraum 1990 – 1999 noch deutlicher spürbar. So ragt, ganz im Sinne von Jurek Beckers Konzession an Einzelwerke, Grass´ intertextuell strukturierter und schon in diesem diachron-vertikalen Sinne gesamtdeutscher Roman Ein weites Feld hervor. Der Autor bringt ihn mehrfach und besonders im Abschnitt „1994“, im Jahr vor seinem Erscheinen, ins Spiel: In ihrem "Selbstporträt" zeichnet sich die besagte Wirtschaftsmanagerin als Liebhaberin der Poesie und erkennt in dieser Doppelfunktion pikiert, dass Grass sie im Weiten Feld als satirisch konzipierten literarischen Typus auftreten läßt. Jener ihr offenbar nicht besonders gewogene „Herr“, plane „einen – wie gehabt – übergewichtigen Roman [...], in dessen Verlauf er mich mit einer Figur aus dem Werk des Dichters Fontane in Vergleich bringen will, nur weil eine gewisse "'Frau Jenny Treibel' es genau wie ich verstanden hat, das Geschäftliche mit der Poesie zu verbinden...“ (354) In Anspielung auf die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher verkündet die Breuel bei Grass ebenso trotzig wie sarkastisch, sie werde „fortan nicht nur die beinharte 'Frau Treuhand‘ sein – auch 'Eiserne Lady‘ genannt -, sondern obendrein zum Bestand der Literaturgeschichte gezählt werden.“ (S. 354) In dieser massiven Kritik, die von Grass´ verhaltener Selbstironie nicht aufgewogen wird, mag eine Begründung für die eklatante Aussparung der Literatur im Tableau 1989 – 1999 impliziert sein: Von wenigen Einzelfällen abgesehen, die jenen Missstand gerade anprangern, dient die Literatur aus Grass´ Sicht nur noch als Garnierung des dominanten Wirtschaftsprozesses und der Belustigung seiner Führungskräfte. Eine weitere Textstelle in Mein Jahrhundert, diesmal aus dem Kapitel „1997“, tendiert in die gleiche Richtung. Jener Gen-Wissenschaftler, der Grass‘ Besorgnis über das um sich greifende Klonen auszuräumen sucht, bezieht sich spöttisch auf den Roman Die Rättin von 1986. Wieder diktiert der Autor der literarischen Person eine selbstironische Distanzierung in die Feder, verbirgt darin jedoch Gewichtigeres: „Und haben nicht Sie in einem Roman, den ich leider nur auszugsweise kenne, der aber bei Erscheinen heftig umstritten gewesen sein muß, geklonte Rattenmenschen ins fiktive Spiel gebracht“, erklügelte „Produkte ungehemmter Genmanipulation [...]?“ (367) Entlarvt sich der Naturforscher als Häppchen-Leser, Leser sensationeller Auszüge, so beklagt Grass dadurch die Haltung seines und generell des Lesepublikums der Zeit, dessen Trägheit zur Hervorbringung von relevanter Literatur nicht mehr stimuliert. Der Gen-Wissenschaftler spricht aus der Distanz über eines Jahrzehnts zur unmittelbaren öffentlichen Rezeption des Romans Die Rättin: Die von Jurek Becker beklagte Verabschiedung der passionierten Lesegesellschaft der DDR ist inzwischen also vollzogen; und im Westen treten – so Mein Jahrhundert – die „Rühmkorfs“ (370), einst Idole der von 1968 geprägten Jugend, symbolisch nur noch im Vorbeigehen als Gäste des Autors auf. Im Kapitel über den Golfkrieg wird Wolf Biermann einmal kurz erwähnt, bezeichnenderweise in politischem, nicht literarischem Zusammenhang. "...deshalb ist selbst dieser Biermann, den ich immer für nen Pazifisten gehalten habe", meint einer der Dialogpartner dort, „ für Krieg“. (341) Grass ist deutlich irritiert von der überraschenden Haltung des Kollegen, aber eben unter politischem Aspekt.

Dabei ist es keineswegs so, dass das ganze Buch des Jahrhundert-Rückblicks die Literatur oder die Literaturgeschichte außer acht ließe. Im Gegenteil: Schon die Anfangskapitel setzen mit einer Allusion des Chinesen-Motivs in Fontanes Effi Briest, mit Huldigungen Else Lasker-Schülers für Gottfried Benn und mit Buddenbrooks-Reminiszenzen deutliche programmatische Akzente: Bietet sich also Literatur in der Retrospektive als Thema an, wird sie von Grass berücksichtigt. Dies demonstriert das Kapitel „1912“ exemplarisch. Es ist dem Tod Georg Heyms gewidmet und verdrängt – allenfalls das Sterben im eiskalten Wasser lässt eine solche Assoziation zu – den spektakulären Untergang der „Titanic“. Zugleich weist der Autor mit Heym-Zitaten, einmal aus dem Gedicht „Der Krieg“, zum anderen aus ,,Umbra vitae“, auf die den ersten Weltkrieg umfassenden Kapitel seines Buches voraus, zumal der junge Lyriker „dem alles Militärische zuwider war, [...] sich noch vor wenigen Wochen in Metz freiwillig beim Elsässischen Infanterieregiment beworben“ (48) habe. So gewinnt Grass Spielraum für eine weniger abgegriffene Behandlung der Jahres-Abschnitte des Weltkrieges, auch wenn Details des Kampfes bis hin zum grausigen Gaskrieg zur Sprache kommen: Die gesamte Kapitelfolge, also nicht weniger als fünf Jahreszahlen, behält er einer "Begegnung" der beiden so gegensätzlichen, doch aus Grass‘ Blickwinkel in manchem übereinstimmenden Kriegsautoren Jünger und Remarque vor; nicht mehr spiegelt sich hier die Literatur in der Geschichte, sondern die Geschichte in der Literatur. Auch der französische Autor und Kriegsteilnehmer Louis-Férdinand Céline (Louis Destouches) findet, chronologisch für das um 1965 angesetzte "Gespräch" nicht ganz stimmig, sozusagen als Pendant zu den beiden Deutschen Erwähnung. Zum Ausgleich gewissermaßen für die "Vereinnahmung" der Kapitel „1914“ bis „1918“ durch Jünger und Remarque führt der Abschnitt „1930“ mittels seiner Rückblendetechnik gleich fünf Autoren neben anderen „Größen des Kulturlebens“ (109) und prominenten Sportlern direkt oder indirekt ein: Brecht, Dürrenmatt, Hochhuth, Heinrich Mann und Zuckmayer. Was sich wie bloßes „name dropping“ ausnehmen könnte, ergibt ein erstaunlich kontinuierliches Panorama der Berliner Szene. Im Kapitel „1956“ wendet Grass eine ähnliche Technik noch einmal an: Ein heimliches "Treffen" Benns und Brechts am Grabe Kleists in ihrem gemeinsamen Todesjahr, das stofflich und symbolisch an die Konstruktion der Begegnung eben dieses Kleist mit der Günderode in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (1979) erinnert, bietet den fiktiven Gestalten nicht nur Gelegenheit zum spielerisch-frotzelnden Zitieren aus dem Werk des je anderen Gesprächspartners, sondern auch zum kurzen Ausblick auf Thomas Mann, Johannes R. Becher und Arnold Bronnen. Dass im Jahr 1959, einer Sternstunde der deutschen Nachkriegsliteratur, Böll, Grass und Johnson figurieren – Walser muss in diesem Jahr noch fehlen –, versteht sich von selbst; die äußeren Entstehungsumstände der Blechtrommel kommen dabei nicht zu kurz. Der Figur Jünger – die übrigens im Kapitel „1984“, dem Bericht vom symbolträchtigen Zusammentreffen des französischen Staatspräsidenten mit dem deutschen Bundeskanzler auf dem Schlachtfeld von Verdun, noch einmal als Delegationsmitglied angesprochen wird – fällt es nach Grass´ Intention sogar zu, den Flieger Manfred von Richthofen als Verfasser einer militärischen Autobiographie ins Bewusstsein des Lesers zu heben. Umgekehrt, d. h. aus "linker" Perspektive, bringt das Jahr 1921 einen naiv-satirischen Leserbrief an den Redakteur Kurt Tucholsky alias Peter Panter etc., dessen „wirklich komischen Sachen“ auf diese Weise Aufmerksamkeit geschenkt wird, selbst wenn die fingierte Schreiberin „das Politische davon nicht voll mitgekriegt“ hat (75). Der Bogen spannt sich von hier zur Schilderung der Ermordung Erich Mühsams im KZ, der – aus der Sicht des nazistischen Erzählers „typischer Kaffeehausliterat“ und „Dichter und Agitator der absoluten Freiheit [...], besonders der freien Liebe“ (124), bei den Verhören mit Hilfe literarischer Zitationen eindrucksvoll Haltung bewahrt. – Immer einmal wieder wird in Mein Jahrhundert Goethe bemüht, so zusammen mit Heine anlässlich einer Harzreise des Autors. Fontane wird – im Jahresabschnitt „1987“, in den Grass´ Indienreise nach dem Verriss der Rättin fällt –, in seiner inspirierenden Funktion für die Konzeption von Grass´ Das weite Feld gebührend herausgestellt. Manche anderen Kapitel, beispielsweise über Celan und Heidegger, können noch referiert werden. Heideggers Sein und Zeit findet schon, mit leicht parodistischem Einschlag, im Erscheinungsjahr 1927 Berücksichtigung; eingebettet in die Exegese des „Hüttengedicht[es]“ (248) „Todtnauberg“ aus der Sammlung Lichtzwang, „spätes Echo auf die 'Todesfuge‘“ (248), wird der zeugenlose Besuch des „Dichters“ beim „Denker“ mit all seinen problematischen Aspekten in den Zeitabschnitten „1966“ bis „1968“ erörtert. Die Nennung Hölderlins, und geschehe sie scheinbar noch so en passant, kann da nicht ausbleiben. – Mit Conan Doyle, „berühmt als Autor weltweit verbreiteter Sherlock-Holmes-Geschichten“ (25), wird auch ein Ausländer, und zwar diesmal als Verfasser einer Erzählung mit dem Titel "Danger", einer Warnung vor der Gefahr der deutschen Tauchboot-Waffe, von Grass im Kapitel „1906“ in die literarische Reihung ausführlicher integriert. Andere wie Shakespeare, Walt Whitman oder Françoise Sagan werden lediglich, obgleich im Kontext bedeutsam, genannt. Ergeben sich dabei Ballungen der Reminiszenzen, u. a. im Zeitraum der sogenannten „Goldenen zwanziger Jahre“ oder im Kontext der stasi-observierten Ostberliner Zusammenkünfte von Autoren aus der DDR und der Bundesrepublik während der Teilung Deutschlands, so fällt der „Leerraum“ des Jahrzehnts 1990 bis 1999 nur um so schwerer ins Gewicht. Wo bleibt während dieser Zeit etwa das Gegenstück zu der lockeren Berliner Gruppierung Born, Czechowski, Grass, Hentschke, Kunert, Schädlich, Schlesinger, die beiden Kirschs nicht zu vergessen, „dieser aufs Intime reduzierte Abklatsch der Gruppe 47“ (279)? — Apropos „Gruppe 47“: Hans Werner Richter, Grass´ “literarischer Ziehvater“ (236), ist natürlich nicht vergessen. Die letzte Zusammenkunft des Berliner Kreises nach der Ausbürgerung Biermanns gibt Anlass zu kritischer Abrechnung mit dem Liedermacher, dem Grass einstudierte, effektberechnende "Spontaneität" und Egozentrik vorhält. Setzt der Autor von Mein Jahrhundert im gesamten Verlauf seines Rückblicks die Literatur, nicht überraschend, zu Gesellschaft und Geschichte in Beziehung, so hätte er theoretisch ähnliches auch für die Zeitspanne 1990 – 1999 versuchen können. Gerade der seinem politisch-literarischem Denken affine „Literaturstreit“ hätte ihm dazu ausreichend Gelegenheit geboten.

Grass ergeht sich statt dessen in allegorischen Abgesängen: Einer der Ostberliner, die im Abschnitt „1989“ die Öffnung der Mauer miterleben und doch fast verpassen, arbeitet im Archiv der Akademie der Künste und „hütet“ Nachlässe. Aber, so berichtet der Erzähler von jenem denkwürdigen Abend, vom „Archiv und den dort lagernden Nachlässen mehr oder weniger bedeutender Schriftsteller war nicht die Rede“ (334) während der Unterhaltung des Ostberliners mit einem Freund. Es geht dabei vielmehr um Banales, das alltägliche, literaturferne Leben eben. Die zitierte Aussage lässt sich als Chiffre für den Zustand der „linientreuen“ DDR-Literatur – was sonst hätte das Privileg genossen, vom Regime archiviert zu werden? – genau zum Zeitpunkt des Untergangs dieses Staates lesen. Wie dieser selbst war sie steril geworden und hatte selbst in ihren namhaftesten Repräsentanten abgewirtschaftet. Das Archiv steht sinnbildlich für die gesamte museale Ablage, ja Gruft, der ideologisch- parteihörigen Literatur. Der Ruf „Wahnsinn!“, den beim Fall der Mauer die Jugend nach Grass „zum Wort des Jahres erhoben hat“ (357), kann als Parole für diesen erschreckenden Sachverhalt in Anspruch genommen werden. – Doch der Ruf ist mittlerweile zur Losung der „Love Parade“ verkommen und erstreckt seine Wirkung topographisch und geistig auch auf den westlichen Teil der Stadt Berlin und des Westens schlechthin. Zudem ist die Chiffre vom Archiv keineswegs einsinnig anzuwenden, verrichtet jener Ostberliner doch seine im Grunde antiquarische Tätigkeit „zuvor wie gegenwärtig“ (332), also offensichtlich auch noch zum späteren Erzählzeitpunkt des Kapitels und somit in der Nachwende-Periode. Grass´ Chiffre erfasst folglich die neue gesamtdeutsche Literatur mit und korrespondiert mit jenem „weißen Fleck“ im Jahrzehnt zwischen 1990 und 1999 in Mein Jahrhundert, der als vom Autor sprachlich umstellter zugleich An- und Abwesenheit von Literatur signalisiert. Aus Grass´ Sicht liegt also mit dem allegorischen Archiv nicht zuletzt ein Omen für die auf den Mauer-Fall folgende gesamtdeutsche Literatur bzw. Nicht Literatur vor. Diese Nicht-Literatur ist – mit der Ausnahme weniger Einzelwerke, allen voran derer des rückblickenden Schriftstellers selbst, dessen harsches Urteil über andere inzwischen die Verleihung des Nobel Preises zu rechtfertigen scheint – als irrelevant und daher nicht erwähnenswert gleichsam im Archiv der Geschichte des ersten Jahrzehnts nach der „Wende“ abgelagert. Was sieht Grass, sofern es nicht gerade um Ein weites Feld geht, als Ersatz für diesen „weißen Fleck“ vor? Wieder gibt eine literarische Allegorie, passend zum Goethe-Jubiläum im Erscheinungsjahr von Mein Jahrhundert, die Antwort: In komischem Kontrast zu dem Schicksal der Familie des Widmungsadressaten Jakob Suhl steht im Kapitel „1990“ die Beschreibung einer monströsen Goethe-Büste. Sie steht ausgerechnet zusammen mit einer Christus-Figur und einigen Apostel-Statuen von der durch die "kommunistischen Barbaren (339) zerstörten Leipziger Markuskirche in der Nähe des Swimmingpools eines sächsischen Spießbürgers mit selbstverordnetem Kulturauftrag. Mit dem „einsfünfzig hohen Goethekopf aus Bronze“ (338), der ironischerweise jenes monumentale Marx-Haupt im unweit Leipzigs gelegenen Chemnitz, zuvor Karl Marx-Stadt, assoziieren lässt, liefert Grass eine ebenso plastische wie satirische Zustandsbeschreibung. Den vom Einschmelzen bedrohten Goethe, im letzten Moment „gegen einen größeren Posten Kupferdraht eingetauscht“ (338), rettet vorgeblich bildungsbeflissener, konservativer Bürgersinn – einzig der Autor Goethe und sein Werk als Grass´ Metonymie der deutschen Literatur und ihrer rückwärtsgewandten Rezeption in der neunziger Jahren dieses Jahrhunderts!

Insofern Jurek Beckers Prognose für die Entwicklung der gesamtdeutschen Literatur seit 1990 einer Fehlanzeige gleichkommt, ähnelt ihr Günter Grass‘ weitestgehend aussparende Diagnose für das letzte Jahrzehnt in Mein Jahrhundert. Die Ausnahme von Einzeltiteln ist beidesmal zugestanden. Eine Analogie jedoch zu dem von Grass im Jahresabschnitt „1959“ zitierten Satz aus der damaligen Kritik, die mehr war als nur „Partygeflüster“ (212), findet sich nicht: "Jetzt endlich ist sie da, die deutsche Nachkriegsliteratur... “ (212) Sosehr freilich einerseits die Übereinstimmung der Urteile Beckers und Grass´ diesen Gewicht verleiht,{3} so sehr werden sie andererseits durch die gleichartige perspektivische Gebundenheit relativiert; beide Autoren bevorzugen ja politisch gesellschaftskritisch funktionelle Literatur. Anderes verfällt ihrem Verdikt. Auf jeden Fall aber ist die Herausforderung dieser schwerwiegenden Koinzidenz bei der Einschätzung der deutschen Literatur im Zeitraum 1990 bis 1999 ernst zu nehmen: Gibt es trotz einzelner Bäume – im narrativen Bereich zum Beispiel Klaas Huizings Der Buchtrinker (1994), Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Thomas Brussigs Helden wie wir (1995), Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) oder Sten Nadolnys Ein Gott der Frechheit (1996) – (noch) keinen Wald, oder wird dieser nur (noch) nicht gesehen?



ENDNOTEN

{1} Jurek Becker, "Die Wiedervereinigung der deutschen Literatur," The German Quarterly, Vol. 63, Summer/Fall 1990, Numbers 3/4: 359 – 366, hier: S. 362 – Weitere Belege aus dieser Quelle im laufenden Text.

{2} Günter Grass, Mein Jahrhundert. (Göttingen 1. Auflage Juli 1999) 351f. – Weitere Belege aus dieser Quelle im laufenden Text. – Parallel dazu erschien eine vom Autor mit Aquarellen illustrierte Edition desselben Titels.

{3} Interessanterweise konstatiert Volker Hage in der Buchmesse-Ausgabe 1999 des Magazins Der Spiegel übereinstimmend, daß „nahezu 20 Jahre lang in der erzählenden deutschen Literatur wenig Bewegung, wenig
Schwung war – mit einer Hand voll Ausnahmen wie Patrick Süskind und Bernhard Schlink [...]“ (Nr. 41, 11. 10. 1999: 244)


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