glossen 10: Bestandsaufnahme — Zur deutschen Literatur nach der Vereinigung
“Finden, was niemals war”{1} – Christa Wolfs Umdeutung des Medea-Mythos
Marion Hussong

Anfang der neunziger Jahre, rund ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung der Erzählung “Kassandra”, begann Christa Wolf, sich erneut mit der Mythologie der vorklassischen Antike auseinanderzusetzen. Wieder wendete sie sich dem Stoffkreis um eine außergewöhnliche Frauengestalt zu; diesmal dem der Medea, die seit Euripides als rachsüchtige Bruder- und Kindermörderin zu den berüchtigten Figuren der griechischen Sagenwelt zählt. Der Autorin ging es in ihrer Begegnung mit Medea darum, die Frau Medea hinter der literarischen Figur zu erkennen, ihre Gestalt aus der Einengung der literarischen Tradition zu lösen. Christa Wolf spricht in ihrem Essay “Begegnungen Third Street”{2} von der Erleichterung, die sie verspürte, als sie “freudig und triumphierend” (HA 11) durch Quellenstudium des Lexicon Iconigraphicum Mythologiae Classicae bestätigt fand, was sie intuitiv bereits gewußt habe: “Die hat ihre Kinder nicht umgebracht” (HA 12).{3} Nun stellte sich für Christa Wolf die Aufgabe, Medea auf literarischem Wege zu rehabilitieren, den Vorgaben der Überlieferung durch männliche Autoren eine alternative Variante weiblicher Interpretation entgegenzustellen. Das Resultat ist der 1996 erschienene Roman Medea. Stimmen.{4}

Wie bereits im Falle der Kassandra-Erzählung, in der Christa Wolf nicht nur die Frauengestalt der Seherin neu entwarf, sondern auch den Selbstzerstörungstrieb der abendländischen Kultur zur Diskussion stellte, sollte auch die Neudeutung der Medea-Figur in einem umfassenden politischen und sozialgeschichtlichen Zusammenhang behandelt werden. Christa Wolf stellte in ihrem Roman die Frage, warum siegreiche politische Systeme „niemals bereit und in der Lage sind, die Lebensweise, die Ziele und Ideale [. . .] der unterlegenen Gruppe [. . . ] zu begreifen“ (MV 23). Sie sei immer wieder auf dieses Problem gestoßen, als „nach der ´Wende´ in Deutschland [. . . ] die DDR von der Bühne der Geschichte verschwand (MV 15). Unschwer sind auch im Roman die Analogien zur deutsch-deutschen Situation der neunziger Jahre zu erkennen, in dessen Metaphorik das östliche Kolchis und das westliche Korinth auf Ost- und Westdeutschland verweisen.

Weder die feministische Komponente des Romans noch der politische Diskurs wurden von der Pressekritik als gelungen empfunden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurde dem Buch von Rezensenten nicht viel Anerkennung zuteil. “Im antiken Gewand wird der Gegenwart der Prozeß gemacht, das heißt der Macht und den Männern” urteilte Der Spiegel und verwarf das Buch als “banalen Etikettenschwindel.”{5} Frankfurter Allgemeine Zeitung und Spiegel verstanden Christa Wolfs Medea als Schlüsselroman mit recht billigen Chiffren: “Honecker heißt jetzt Aietes” wähnt Manfred Fuhrmann von der Frankfurter Allgemeinen.{6} Volker Hage vom Spiegel will in der Figur des eitlen und bewunderungssüchtigen Presbon, “dem Ehrgeizling aus dem Osten, der in Korinth sein Talent anbietet,” Marcel Reich Ranicki erkennen und interpretiert die Gestalt als Retourkutsche einer beleidigten Autorin gegen den Literaturkritiker, der Christa Wolf in einem 1994 erschienenen Artikel als “Staatsdienerin” der DDR bezeichnet hatte.{7}

Die Frauenforschung und die feministische Germanistik nahmen Medea wohlwollender auf. 1997 organisierte das FrauenMuseum (sic!) in Bonn die Ausstellung "Medea altera" mit Arbeiten bildender Künstler und Künstlerinnen zu Christa Wolfs Roman. Der Ausstellung begleitend wurde der Band Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild zusammengestellt, der, ähnlich wie die Frankfurter Poetik-Vorlesungen zur Kassandra-Erzählung, Arbeitsnotizen und Essays von Christa Wolf zum Medea-Thema enthält.{8}

Ohne die feministische Komponente und die Ost-West-Thematik in Frage stellen zu wollen, möchte ich vorschlagen, den Roman hier aus einer Perspektive zu diskutieren, die über die feministische und tagespolitische Problematik hinausgeht. Im Zentrum von Christa Wolfs Medea-Buch steht auch die Frage nach dem historischen Bewußtsein abendländischer Kultur im späten zwanzigsten Jahrhundert. Unter diesem Aspekt bleiben die Frauenfrage und die Ost-West-Problematik in Christa Wolfs Medea zwar thematisch relevant, sind aber dem Überbau der eigentlichen geschichtstheoretischen Frage untergeordnet. Wolfs Einschätzung der deutsch-deutschen Situation nach der Wende und ihr Porträt der aufgeklärten Frau als Sündenbock einer verblendeten Gesellschaft enthüllen sich als Symptome einer dreitausendjährigen Geschichtserfahrung, die das Weltgeschehen aus der Sicht der Sieger interpretiert und die Verlierer verstummen läßt. Diese Art von Geschichtsdiskurs stellt Christa Wolf mit ihrer radikalen Umdeutung des Medea-Mythos in Frage.

Die Äußerungen Christa Wolfs in dem 1997 verfaßten Essay „Von Kassandra zu Medea“ und die Poetik-Vorlesungen zum Kassandra-Band verweisen auf diesen Ansatz. Es zeigt sich, daß sich Querverbindungen zwischen Christa Wolf und dem marxistisch orientierten Geschichtstheoretiker Walter Benjamin herstellen lassen, der kurz vor seinem Selbstmord 1940, auf der Flucht in Südfrankreich, seine bekannten Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ verfaßt hatte.{9} Drei Denkstränge in Christa Wolfs Auseinandersetzung mit dem Mythos zeigen Affinitäten zur Geschichtstheorie Walter Benjamins, die er als „Historischen Materialismus“ bezeichnet. Es sind dies die Frage nach der Achronie, verstanden als Gleichzeitigkeit historischen Geschehens in Vergangenheit und Gegenwart, die Frage nach dem Auftauchen und Sich Bemerkbar-Machen von verstummten historischen Verlierergestalten und die Frage nach dem historischen Telos.

Bereits in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen äußerte sich Christa Wolf zu ihrem Geschichtsbild. In der Dritten Vorlesung sprach sie sich dafür aus, geschichtliche Realität nicht als lineare Abfolge in einem räumlich-zeitlich bedingten Koordinatensystem zu sehen, sondern als Gleichzeitigkeit historischer Phänomene, die Vergangenheit und Gegenwart bewußt als Nebeneinander verstehen (KV 116). Darauf, daß das Problem historischen Empfindens ein zentraler Aspekt dieses Buches ist, verweist Christa Wolf, indem sie die bereits in Kassandra angedeutete These historischer Achronie am Anfang des Romans zur Diskussion stellt. In Form eines Zitats von Elisabeth Lenk wird Achronie definiert als ein „Ineinander der Epochen nach dem Modell eines Stativs, eine Flucht sich verjüngender Strukturen. Man kann sie auseinanderziehen wie eine Ziehharmonika, dann ist es sehr weit von einem Ende zum anderen, man kann sie aber auch ineinander stülpen wie die russischen Puppen, dann sind die Wände der Zeiten einander ganz nah“ (M 9). Im Vorwort zum Roman Medea greift Christa Wolf das Bild dann wieder auf und spricht von der Durchlässigkeit dieser Zeitenwände, die es uns erlaube, aus der Gegenwart in die Tiefe der Zeit einzutreten. Bereits die Figur der Kassandra spricht in der Erzählung von diesem Phänomen: Nach dem Zusammenbruch Troias, in der Erkenntnis des ewig fortwährenden Selbstzerstörungstriebs der Menschen, sagt sie: „Soviel weiß ich: Es gibt Zeitenlöcher. Dies ist so eines, hier und jetzt. Wir dürfen es nicht ungenutzt vergehen lassen“ (K 141). Für Christa Wolf wirkt gerade der Mythos als Katalysator, der solche Zeitenüberlagerungen begünstigt, da er, in seiner Repräsentativität menschlichen Verhaltens, die Erfahrungen der Gegenwart mit denen längst versunkener Zeiten verschmelzen läßt (MV 11): Man könne „an solchen scheinbar weit zurückliegenden Figuren die zeitgenössischen Probleme besonders deutlich herausfiltern“, stellte Christa Wolf in einem Interview fest: „[. . .] Da wird erkennbar, daß das Grundverhalten der Menschen in ählichen Situationen schon dem unseren ähnlich oder gleich war“ (MV 49).{10}

Die Kongruenz der übereinandergelagerten Epochen läßt die Zeit gleichsam stillstehen und erlaubt der Schriftstellerin, in der Gegenwart die Erfahrung der Jahrtausende nachzuvollziehen. In ihrem Essay „Begegnungen Third Street“ (HA 7-41) erklärte Christa Wolf ihre persönliche Erfahrung des Phänomens der Achronie. Sie sei von der mythischen Gestalt Medea nicht mehr losgekommen, die plötzlich in ihrem Bewußtsein aufgetaucht sei, ständig im Begriff, sich wieder aufzulösen. (HA 11-12). Durch den Schreibprozeß versuchte die Autorin, die schemenhafte Figur zu festigen und bleibend zu gestalten.

Ähnlich verhielt es sich bereits beim Erarbeiten der Kassandra-Gestalt. Auch hier schilderte Christa Wolf ihre Begegnung und Gestaltung der mythologischen Figur, dem Titel der Ersten Frankfurter Poetik-Vorlesung entsprechend, als „das zufällige Auftauchen und die allmähliche Verfertigung einer Gestalt“ (KV 9). Walter Benjamins „Historischer Materialismus“ definiert historische Erkenntnis ähnlich: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei“, schreibt Benjamin. „Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen in seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten“ (I 253). Auch er zieht den Schluß, daß die Erkenntnis der Gegenwart durch die Einsicht bedingt ist, daß Gegenwart und Vergangenheit unwiderruflich miteinander verflochten sind. Der Moment des „Vorbeihuschens“ der Vergangenheit entspricht für Benjamin einem fruchtbaren Augenblick der „Stillstehung“ der Zeit, die „im Werk“ des Einzelnen „das Lebenswerk“, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche den gesamten Geschichtsverlauf aufbewahrt“ (I 260). Er unterscheidet seinen Ansatz von dem des Historismus, der Geschichte anhand der großen Ereignisse und heroischen Repräsentanten des Weltgeschehens darstellt. Stattdessen will Benjamin das Augenmerk auf eine umfassende Darstellung der „Ereignisse richten, […] ohne große und kleine zu unterscheiden”, in der Einsicht, “daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist” (I 252).

Wie Christa Wolf geht es auch Benjamin um das das Hörbar-Machen des Echos der Stimmen “verstummter” Gestalten der Vergangenheit. Für Kassandra stellte Christa Wolf die Frage “Wer war Kassandra, bevor man von ihr schrieb?” (KV 127, 138) und verwies darauf, daß die Figur uns ja nicht in Selbstzeugnissen, sondern nur in der Sicht der Dichter überliefert ist. Bei Medea geht es um die Rehabilitation einer Frau, die durch die literarische Überlieferung als Kindermörderin denunziert wurde. Beide sind Verliererfiguren, und Christa Wolf nimmt die Verliererperspektive an, um ihre Geschichte neu zu erzählen.{11} Wie Walter Benjamin vor ihr, versteht auch sie die Herkunft des gegenwärtigen Menschen nicht nur als Resultat der „ Mühe der großen Genien [. . . ], sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen” (I 254). Um die Geschichte neu zu erfassen, will Christa Wolf wie Benjamin dieses bisher stumme Element in die Betrachtung mit einbeziehen: “Die Frauen [. . . ], die Dienstboten, die Sklaven selbstverständlich, aber auch alle Fremden, die `Barbaren` [. . . ]“ (MV 13). So gelangt sie in der Studie des Medea Stoffes durch das Hervorholen von Unterdrücktem und nicht Mitgeteiltem zu einer neuen Sicht der Figur, die sie nun, statt als skrupellose Bruder- und Kindermörderin, als Opfer einer politischen Intrige und Vernichtungskampagne darstellt. „Zu finden, was niemals war“ (MV 12), den Mythos neu zu erfassen, indem die traditionelle Interpretation angefochten wird und neue, produktive Fragen gestellt werden, ist ihr Anliegen. Dabei ignoriert sie das etablierte Medea-Bild der literarischen Überlieferung nicht einfach, sondern bezieht es durch das Zeugnis der Personen der Handlung des Romans mit in die Diskussion ein. In der Überlieferung des Medea-Stoffes leitet Christa Wolf die Dämonisierung der Figur aus deren Verliererstatus ab. Christa Wolf entwirft in ihrem Roman ein soziales und politisches Netzwerk von Vorurteilen und Unterdrückung, in dem Medea vernichtet werden mußte. Medeas Geschichte wurde dann von den Überlebenden, den Siegern aufgeschrieben; das Bild, das von ihr bleibt, dient dementsprechend den Interessen der Sieger. Gegen diese Art der Geschichtsinterpretation polemisierte Walter Benjamin, wenn er dem Historismus vorwarf, sich in die Sieger einzufühlen und wenn er die jeweils Herrschenden als „die Erben aller, die gesiegt haben“ denunziert, deren Weg über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter […] Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in den es von dem einen an den andern gefallen (I 254) Sein Anliegen, so Benjamin, sei es, “die Geschichte gegen den Strich zu bürsten” (I 253).

Ebenso Christa Wolfs Sicht der Dinge, wenn sie im Aufsatz “Von Kassandra zu Medea” feststellt, daß die Sieger entschieden und noch immer entscheiden, “wie diese Geschichten weitererzählt, umgeformt, umgedeutet und in die Geschichte der [. . . ] gesellschaftlichen Hierarchie [. . . ] eingebaut wurden” (MV 13). Nicht Medea ist für Christa Wolf barbarisch, sondern eine Weltsicht, die die Identifikation mit den Siegern und die Ausgrenzung der Verlierer voraussetzt und gutheißt, ohne alternative Deutungen zu erwägen. Sie erklärte diesen Gedanken bereits in den Frankfurter Poetik-Vorlesungen: Die abendländische Gewohnheit, “den Weg der Sonderung, der Analyse, des Verzichts auf die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zugunsten [. . . ] der Geschlossenheit von Welbildern und Systemen“ zu gehen, habe die Entwicklung einer einseitigen Ästhetik der Sieger begünstigt (KV 139). Im Roman Medea ist Jason der Repräsentant dieser Helden-Ästhetik. Nach der Rückkehr aus Kolchis wird er von den Korinthern immer wieder genötigt, die Geschichte der Argonautenfahrt und der Erringung des Goldene Vließes, zu erzählen. Medea hatte Jason geholfen, die Schlange, Wärterin des Vließes, durch ein Schlafmittel zu beschwören, und so das Goldene Vließ zu stehlen. Jason weiß: Mit jedem Mal, da er sein Abenteuer erzählt, „hat die Geschichte sich ein wenig verändert, so wie die Zuhörer es von mir erwarteten“ (M 57). Medeas helfende Rolle wird im Laufe der Überlieferung herabgespielt, Jasons Heldenmut wird hochgestapelt. Medea durchschaut das: „Sie haben aus jedem von uns den gemacht, den sie brauchen“, sagt sie zu Jason. „Aus dir den Heroen und aus mir die böse Frau“ (M 57). Im Roman wird am Exempel der Rezeption von Jasons Version der Argonautenfahrt, mit ihrer zunehmend positiven Umdeutung des Männerbildes und ihrer Abwertung des Frauenbildes, die Fragwürdigkeit unserer Tradition historischer Berichterstattung vorgeführt. Christa Wolf zeigt: Wo die Überlieferung ansetzt, beginnt zwangsläufig auch die Verfälschung im Sinne der Machthaber.

Gerade deshalb fühlt sie sich von Stoffen aus der vorklassischen Mythologie angezogen, deren Gestalten an der Schwelle unserer literarischen Tradition stehen. Sie eignen sich, einen neuen Ansatz historischer Interpretation zu versuchen. Figuren wie Kassandra und Medea entstammen einer vorschriftlichen Epoche, die Erinnerung an sie ist uns aber nur durch schriftliche Zeugnisse erhalten. Was wir, so Christa Wolf, über sie “durch männliche Überlieferung erfahren haben”, muß “nicht zwingend `die Wahrheit´ sein” (MV 12). Aus den Spuren dieser vorschriftlichen Erinnerung unter Einbeziehung der vorhandenen Tradierungen erstellte sie ihr Medea Bild, das nicht nur die Figur – übrigens sehr plausibel – neu zeichnet, sondern auch diskutiert, wie es zur Dämonisierung dieser Gestalt kommen mußte: Die Frau muß verleumdet, gedemütigt, gejagt, vernichtet werden. In die Zukunft hinein muß ihr Ruf als Kindsmörderin befestigt werden. Die Mörder der Kinder gedenken ihrer Opfer in einem heuchlerischen Kult. Ein Versuch, den mörderischen Verhältnissen durch Einsicht, Aufklärung, Verhaltensänderung beizukommen, ist abgewehrt. Die Geschichte nimmt ihren Lauf” (MV 16).

Christa Wolfs Ansatz, Medea neu zu schreiben, zeigt wieder die Verwandtschaft zu Walter Benjamin, der verlangt: In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört (I 253).

Christa Wolfs Medea-Bild ist ein nonkonformes Beispiel historischer Interpretation im Sinne Walter Benjamins. Die Kette der Verleumdung der Medea-Gestalt ist mit ihrem Roman unterbrochen. Wie verhält es sich aber mit der Dimension der Hoffnung, die Benjamin in seiner These anspricht? Immerhin endet Christa Wolfs Roman mit einem Fluch, den Medea über die Korinther verhängt. Und wie verhält es sich mit dem kryptischen Ausspruch Medeas am Schluß des Buches: “Wohin mit mir? Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort” (M 236).

Innerhalb der hier diskutierten Auffassung von geschichtlicher Zeit müßte Medeas Frage, ob sie jemals wirklich “dazugehören” kann, verneint werden. Kassandra und Medea verfügen in der Darstellung Christa Wolfs über die Gabe, die wahren Verhältnisse ihrer Gegenwart richtig zu sehen und die Folgen für die Zukunft abzuschätzen. In gewisser Hinsicht stehen sie damit über und außerhalb ihrer Zeit, der diese Erkenntnis fehlt. Dennoch sind sie in ihrer physischen Präsenz als Gestalten einer Handlung im Verhängnis ihrer Umstände gefangen. Sie gleichen dem allegorischen Engel der Geschichte, den Walter Benjamin in seiner neunten These des “Begriffs der Geschichte” folgendermaßen entwirft:

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfühten. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm (I 255).

Die Perspektive, die Kassandra und Medea bei Christa Wolf einnehmen, entspricht der des Angelus Novus von Walter Benjamin. Vor dem Löwentor von Mykene rekapituliert Kassandra die Geschichte Troias, die auf der metahistorischen Ebene für den Selbstzerstörungstriebs der abendländischen Kultur steht. Medea sitzt auf der Wartebank vor dem Gerichtssaal, in dem die Korinther, im Namen des Fortschritts, ihre Verbannung beschließen werden. Kassandra und Medea sehen und erkennen, welche Folgen dieser Fortschritt bringen wird. Der Fortschritt gehört den Siegern und die gehen oft über Leichen. Weder Medea noch Kassandra wollen sich mit den Siegern identifizieren, da sie erkennen, daß die Verblendung des Fortschrittsglaubens einen sich stets erneuernden Zyklus von Unterdrückung und Selbstzerstörung, dem “Trümmerhaufen” in Benjamins Allegorie entsprechend, erzeugt. Ob in Kolchis und Korinth oder in unserer Gegenwart, sich den “neuen Verhältnissen anzupassen, die sich als die überlegenen, fortgeschritteneren verstehen, was nicht heißen muß, daß sie die humaneren sind”, heißt auch die Augen vor dem Verhängnis der Geschichte zu schließen. Da Medea, wie der Angelus Novus, in ihrer Erkenntnis der Sachverhalte der historischen Entwicklung immer einen Schritt voraus ist, kann es keine Zeit geben, in die sie passen könnte. Es kann auch niemanden geben, den sie befragen könnte. “Das ist die Antwort”, erkennt sie am Ende des Buches.

Trotz des düsteren Romanendes läßt Christa Wolf Raum für Hoffnung. “Die Geschichte nimmt ihren Lauf”, schreibt sie in „Von Kassandra zu Medea“, "doch die Literatur darf ihre verschiedenen Möglichkeiten durchspielen. Den Mitspielern bleibt überlassen, welche ihnen einleuchtet. Soll, in der leeren Mitte des Labyrinths, unangefochten der Minotaurus herrschen? Wird da immer eine Ariadne sein, die dem männlichen Menschen, der das Ungeheuer besiegt – nicht zuletzt in sich selbst – den Lebensfaden in die Hand gibt, an dem er sich aus der Finsternis heraustasten kann?” fragt sie (HA 168).

Indem sie die verschiedenen Möglichkeiten durchspielt und eine Variante wählt, die den verstummten Stimmen der Geschichte Gehör schenkt, wird für Christa Wolf das historische Bewußtsein erweitert: “Es muß [. . .] immer selbstverständlicher werden, daß der männliche und der weibliche Blick gemeinsam erst ein vollständiges Bild von der Welt vermitteln.“{12} In der Neudeutung des Mythos, in dem wir die Achronie der Geschichte erfahren, liegt, so Christa Wolf, die „Sehnsucht von uns allen, gemeinsam einen Ausweg aus dem Labyrinth zu suchen und ihn, vielleicht, zu finden [. . . ]“ (HA 168).




Anmerkungen


{1} Christa Wolf, „Von Kassandra zu Medea“, Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild, Hg. Gerhard Wolf (Berlin: Janus Press, 1998) 11-17 (12), (Sigle MV).

{2} Christa Wolf, „Begegnungen Third Street“, Hierzulande Andernorts (München: Luchterhand, 1999) 7-41(Sigle HA).

{3} Fritz Grafs Artikel “Medea, The Enchantress From Afar”, Medea. Essays on Medea in Myth, Literature, Philosophy, and Art, Hg. James J. Clauss and Sarah Iles Johnston (Princeton: Princeton University Press, 1997) 21-43, bestätigt, daß Pindar, der den Medea-Stoff vor Euripides behandelte, Medea keine Schuld am Tod ihrer Kinder zuschreibt (35).

{4} Christa Wolf, Medea. Stimmen (München: Luchterhand, 1996).

{5} Volker Hage, “Kein Mord, nirgends”, Der Spiegel 9-1996, 202-207 (202, 207).

{6} Manfred Fuhrmann, “Honecker heißt jetzt Aietes,” Frankfurter Allgemeine Zeitung 53, 2. März 1996.

{7} Hage 207.

{8} Gerhard Wolf (Hg.), Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild (Berlin: Janus Press, 1998) (Sigle MV).

{9} Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte,“ Illuminationen (Frankfurt: Suhrkamp, 1977) 251- 261 (Sigle I).

{10} Christa Wolf und Petra Kammann, „Warum Medea?,“ Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild, Hg. Gerhard Wolf (Berlin: Janus Press, 1998) 49-57.

{11} Jutta Marx erarbeitet diesen Aspekt der Kassandra-Figur in ihrem Artikel „Die Perspektive des Verlierers – ein utopischer Entwurf“, Erinnerte Zukunft (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1985) 161-179.

{12} Christa Wolf und Petra Kammann, „Warum Medea? Christa Wolf im Gespräch mit Petra Kammann am 25.1.1996“, Christa Wolfs Medea. Voraussetzungen zu einem Text. Mythos und Bild, Hg. Gerhard Wolf (Berlin: Janus Press, 1998) 49-57 (52).


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