glossen 10: Bestandsaufnahme — Zur deutschen Literatur nach der Vereinigung
Von Tallhover zu Hoftaller oder Der ewige Spitzel
Karl-Heinz J. Schoeps

Nach der Wende von 1989-90 erwarteten Leser und Kritiker nicht nur den großen Wenderoman sondern, nach Öffnung der Stasi-Archive, auch den großen Stasi-Roman. Große Wenderomane wurden mehrfach angekündigt, nicht zuletzt Grassens Ein weites Feld oder Gert Neumanns Anschlag (Köln: DuMont Buchverlag, 1999), in der Zeit vom 25. März 1999 annonciert als “Endlich! Der Wenderoman.” Inzwischen sind bekanntlich auch einige Stasi Dokumentationen und Stasi-Romane erschienen.{1} Der meiner Meinung nach bedeutendste Stasi-Roman erschien jedoch bereits im Jahre 1986, also drei Jahre vor der Wende: Hans Joachim Schädlichs Tallhover, ein Roman, der damals natürlich nur im Westen erscheinen konnte, in den sein Verfasser bereits im Jahre 1977 aus der DDR emigriert war. Wie andere DDR-Autoren (so Loest oder Kunze) hat Schädlich sich auch unmittelbar mit der Stasi auseinandergesetzt. In seiner autobiographischen Erzählung “Die Sache mit B.”{2} versucht Schädlich, mit seiner Enttäuschung darüber fertig zu werden, daß sein von ihm bewunderter ältester Bruder ihn jahrelang als IM im Auftrag der Stasi observiert hatte - nach Wolfgang Müller “eine moderne Kain- und Abel Geschichte.”{3} In dem von Schädlich edierten Sammelband Aktenkundig (Berlin: Rowohlt, 1992) berichten verschiedene Autoren von ihren Erfahrungen mit der Stasi. In seinem im Jahre 1998 veröffentlichten Roman Trivialroman setzt sich Schädlich nochmals in fiktiver Form mit dem Phänomen Stasi auseinander. Dabei fällt das Wort Stasi in keinem Satz; bei der Gruppe von Typen, die uns je nach ihrer Funktion nur als Dogge, Qualle, Ratte, Aal, Wanze, Natter, Feder und Chef vorgestellt werden, könnte es sich auch um eine Truppe von Gangstern handeln. Doch im Roman selbst gibt es genügend Anhaltspunkte, daß es sich um Stasi-Leute handelt, die sich im Zerfallstadium ihrer Firma selbst zerfleischen, ehe sie von der Gegenseite auf recht humane Weise in Gewahrsam genommen werden und die Wende fast ausnahmslos recht gut überstehen. Ihre Bedürfnisse, Ansichten und Redeweisen, gespickt mit sexuellen Anspielungen, doch nicht so unerträglich wie bei Brussig, erscheinen trivial, doch Schädlichs Roman ist weder ein “soft porno” wie Brussigs Helden wie wir (obwohl Schädlichs Helden ähnlich miserable Typen sind) noch ein Trivialroman.

In seinem Roman Tallhover geht Schädlich jedoch weit über alle genannten Werke hinaus, denn er löst seine Polizei- und Spitzelfigur aus reiner Gegenwartsbezogenheit und stellt sie in einen weiten historischen Zusammenhang. Aus einem engbegrenzten und einem ausschließlich auf die DDR bezogenen Stasi-Roman wird Schädlichs Werk somit zu einem Roman der deutschen Misere, zu der er als letztes Glied einer langen Kette die Stasi rechnet. Die oben genannten Stasi-Romane sind sozusagen im Hegelschen Sinne in Schädlichs Roman aufgehoben.

Schädlichs Geheimpolizei - Roman umfaßt einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren; er beginnt im Vormärz-Preußen von 1842 und endet im DDR Deutschland von 1955. Stilistisch gelingt es dem Linguisten Schädlich, Sprache und Wesen der verschiedenen deutschen Geheimdienste im Wandel der Zeit in seinen Roman einzufangen; nach Inhalt und Form überragt Schädlichs Roman somit alle zeitlich nur an die DDR gebundenen Stasi Romane.

Die Hauptfigur des Romans, der Geheimpolizist Ludwig Tallhover, gehört in den Bereich der Fiktion; er ist kein abgerundeter Charakter sondern verkörpert das Prinzip des reinen Staatsdieners. Der Roman, so Schädlich in “Selbstvorstellung,” “ist die fiktive Biographie eines Beamten der politischen Polizei in Deutschland. Tallhover verkörpert das Prinzip der perfekten Überwachung Andersdenkender, das Prinzip der personellen und institutionellen Kontinuität der Verfolgung von Oppositionellen unter allen deutschen Regimen von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts” (Fußnoten 32, 7). Tallhover wurde im Jahre 1819 geboren, und zwar am Tage (23. März) und in der Stunde (17 Uhr) der Ermordung des konservativen Staatsrats Kotzebues (Tallhover 270). Sozusagen durch die Nabelschnur mit Kotzebue verbunden, wurde sein “Interesse für Leben und Arbeit von Herrn von Kotzebue geweckt” (Tallhover 270). Tallhover teilt vor allem dessen politische Gesinnung: “Namentlich leuchten mir seine politischen Ansichten ein, darunter sein logisches Votum gegen die Pressefreiheit” (Tallhover 270). Mit Kotzebues Mörder Ludwig Sand hat er den Vornamen gemeinsam; der “unbedingte Haß gegen den Mörder” (Tallhover 270) bestimmt sein ganzes Handeln. Der rätselhafte Sanders, der am Ende des Tallhover Romans von der Stasi verhaftet und zugeführt wird (257ff), ist niemand anders als die zeitgenössische Version dieses Ludwig Sand.

Tallhover fällt schon in der Schule als Spitzel seiner Mitschüler auf, der sich auch zu Hause nicht davor scheut, seine Mutter auf der Toilette durch einen Türspalt zu beobachten. Zu seiner beliebtesten Freizeitbeschäftigung gehört das Lösen von Puzzles. Freunde hat er keine, damit er niemandem Rede und Antwort stehen muß. Mit 23 Jahren, im Jahre 1842, tritt er in die Dienste der preußischen Geheimpolizei; er kommt unter die “Leitung und Obhut des Königlichen Polizei-Inspektors Hofrichter” (16), einem Vertrauten des Herrn Polizeipräsidenten von Puttkammer. Seine erste Aufgabe besteht in der Überwachung der liberalen Rheinischen Zeitung und deren Korrespondenten Karl Marx, Robert Prutz, Bruno Bauer sowie des republikanischen Dichters Georg Herwegh.

Tallhovers nächster Einsatz gilt den Sozialdemokraten, die unter Bismarck verboten waren. Doch die Bekämpfung der Sozialdemokratie bleibt auch nach dem Erlöschen der Sozialistengesetze eine Hauptaufgabe der Berliner Polizei. Dabei gerät der Schriftsteller Peter Hille (1854-1904) in ihr Visier. Polizeirat von der Mauderode läßt sich Hilles Schriften kommen und ordnet an, Hilles Roman Die Sozialisten (1886) genaustens zu studieren, da von Mauerode diesen Hille für einen gefährlichen Sozi hält. Hilles Roman bietet allerdings “keine Anhaltspunkte für sozialdemokratischen Umtrieb” (66), wie das von von Mauerrode geforderte Gutachten feststellt. Im Gegenteil, der Roman “enthält eine gewisse individualistische Absage an den Sozialismus” (66). Auch Tallhover selbst kann mit Hilles Texten wenig anfangen.

Die Polizeiberichte über Hille aus der Kaiserzeit lesen sich wie Stasiberichte aus der DDR, so das Protokoll von Schutzmann Fuchs: “ Die Beobachtungen, welche am 1., 2., 4., 5. und 6. d. Mts. ausgeführt wurden, haben Nachstehendes ergeben: Am 1. d. Mts. verließ Hille seine Wohnung nicht. Am 2. d. Mts., gegen 101/2 Uhr vormittags verließ er, mit einem Reisekoffer in der Hand, sein Logis und fuhr mit der Stadtbahn von Station Lehrter Bahnhof nach Schöneberg. Von da aus ging er direkt nach der Gleditschstr. 29, Hof linker Seitenflügel I Treppe, zur Witwe Pifka” usw. (84). In fast genau gleichem Stil kann man Ähnliches beispielsweise bei Loest in Die Stasi war mein Eckermann nachlesen. Doch die ganze Überwachung Hilles verläuft im Sande; es stellt sich nach dreieinhalb Jahren heraus, daß Hille politisch unverdächtig ist; die Beobachtung wird im April 1898 eingestellt. Tallhover ist unzufrieden, denn statt Hille hätte sich die Polizei intensiver um Uljanow kümmern sollen. Bei seinem Aufenthalt in Berlin im Jahre 1895 wird dieser Uljanow-Lenin zwar von der Berliner Geheimpolizei überwacht, doch zu Tallhovers Leidwesen war auch diese Beschattung nicht lückenlos, denn es gelang Lenin, ungeschoren aus Berlin nach Rußland zu reisen und in einem Koffer mit doppeltem Boden Bücher aus Deutschland (darunter Hauptmanns Die Weber) hinauszuschmuggeln.

Die nächste Gelegenheit, Lenin in ihre Gewalt zu bekommen, erhält die preußische Geheimpolizei im Jahre 1917, als er nach dem Ausbruch der Revolution in Rußland mit Genehmigung höchster deutscher Militärbehörden (Oberste Heeresleitung unter General Ludendorff) mit seinem Gefolge in einem plombierten Wagen und unter Aufsicht von preußischen Offizieren von Abwehr und Nachrichtendienst durch Deutschland nach Rußland reist. Tallhover ist entsetzt über die Erlaubnis der Obersten Heeresleitung, die Russen ungeschoren durch Deutschland reisen zu lassen: “Wir hatten sie in der Hand. [. . . ] Eine einmalige Gelegenheit, [. . . ] Lenin, Sinowjew, Radek in deutscher Gewalt. Zwar der Krieg wäre weitergegangen. Aber eine Oktoberrevolution hätte es nicht gegeben” (95). Hätte man, so Tallhover, im Jahre 1917 “gründlicher Lenins Schriften studiert als die Fahrpläne nach Saßnitz” (151), so hätte man gewußt, das die Oktoberrevolution in Rußland nur ein erster Schritt zu Weltrevolution war. Lenin brauchte, so Tallhover, den Frieden nicht um des Friedens willen sondern “für den Sieg seiner Revolution” (151). Doch kaum jemand außer ihm, Tallhover, “hat das Programm der Weltrevolution ernst genommen” (152). Der Pakt mit Lenin wurde für Tallhover ein Spiel mit dem Feuer und General Ludendorff zu einem Werkzeug Lenins (152).

Tallhovers nächste Gelegenheit, russische Revolutionäre in die Hand zu bekommen, bietet sich, als Radek am 19. 12. 1918 zum ersten Parteitag der Kommunisten nach Berlin kommt. Tallhover spürt Radek auf und läßt ihn verhaften. Doch Tallhovers Befürchtung, daß Radek ihm “durch die Lappen” geht (124), ist nur zu begründet. Im politischen Interesse der Reichsregierung, der Reichswehr und der deutschen Wirtschaft wird das Verfahren gegen Radek eingestellt, denn man hofft, mit Hilfe Rußlands, den Versailler Vertrag zu überwinden (139). Radek bleibt noch eine Weile in Schutzhaft, in der er prominente Besucher empfängt (darunter Außenminister Rathenau), ehe er in private Wohnungen entlassen wird und kurz darauf, am 20. 1. 1920, nach Rußland zurückkehren darf; “Tallhover ist außerordentlich unzufrieden” (148).

Als Tallhover nach der Machtübernahme Hitlers im Jahre 1933 als Gestapo-Beamter in Diensten des neuen Regimes steht, sucht er die noch lebenden deutschen Ärzte Lenins auf und setzt sie unter Druck, um sie für das neue Reich zu gewinnen. Nach einem Gespräch mit Tallhover ist Professor Bumke bereit, dem Nazisystem “als Sachverständiger und beratender Facharzt im Bereich der Bevölkerungs- und Rassenpolitik” zu dienen (174). Auch Professor Foerster schwenkt auf die Nazi-Linie ein, nachdem Tallhover ihn auf berufliche und persönliche Nachteile hingewiesen hatte, wenn er sich nicht von seiner jüdischen Frau und seinem jüdischen Oberarzt trennt. Die revolutionären Begleiter Lenins sind außer seiner Reichweite, doch erledigen die russischen Militärgerichte unter Wyschinski, dem Staatsanwalt der Union, die Drecksarbeit für ihn. Sinowjew, den er gerne gekriegt hätte, steht nun vor einem Moskauer Tribunal, auch Sokolnokow, Radek und andere. Tallhover bewundert Wyschinski; “von ihm können wir lernen” (185).

In vorauseilendem Gehorsam , “ohne besondere Aufforderung, lediglich aus Sorge, der passive Widerstand und die stille Sabotage von Geistlichen beider Konfessionen könnten die Ziele der nationalsozialistischen Staatsführung gefährden” (197), entwirft der Gestapo-Mann Tallhover Maßnahmen gegen die Kirchen. Er fordert unter anderem strenge Überwachung durch “Einbau von V-Männern in alle Landes- und Provinzialkirchen, unauffällige Kontrolle der Gottesdienste, sorgfältige Überwachung der Verbindungen zum Ausland und Überwachung der theologischen Fakultäten” (201). Als Mitglied einer Sonderkommission des Reichssicherheitshauptamtes reist er 1943 in das Sonderlager des KZs Sachsenhausen, um Verhören besonderer Gefangener beizuwohnen, darunter demjenigen von Dschugaschwili, dem Sohn Stalins. Zum Ärger Tallhovers wird Dschugaschwili jedoch “auf der Flucht erschossen.” Das hätte unbedingt verhindert werden müssen, denn “was nützt ein toter Dschugaschwili (211).

Von Sachsenhausen läßt Schädlich seinen Tallhover unvermittelt einige Jahre später in der DDR als Stasimann auftauchen. Auch im Arbeiter und Bauernstaat versucht Tallhover, ein treuer Diener seiner Herrn zu sein. Wiederum verfaßt er eine Denkschrift gegen die Kirchen, bei der er zahlreiche Stellen aus dem Dokument, das er für die Nazis verfaßt hatte, wortwörtlich übernehmen kann. Doch wie unter den Nazis ist er von dem Echo der DDR-Behörden auf sein Memorandum enttäuscht. Ja, sein Ministerpräsident (Grotewohl) verhandelt gar mit Kirchenvertretern. Tallhover verfaßt einen Brief an den Ministerpräsidenten, in dem er sein Unverständnis darüber ausdrückt, das jener mit einem so “reaktionären Theologen” wie Dibelius verhandeln und eine Normalisierung im Verhältnis von Kirche und Staat vereinbaren konnte (222).

Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 ist Tallhover für bedingungsloses Durchgreifen seitens der DDR Organe. Doch diese erweisen sich als hilflos und rufen die Russen. Am 27. Juni 1953 wird Tallhover jedoch zusammen mit seinem Chef Zaisser fristlos entlassen, da beide verkannt haben, “wo der Feind steht” (225). Tallhover fristet nun seine Tage im Staatsarchiv und hält durch Lektüre von Akten aus dem jetzigen und dem vorigen Jahrhundert Rückschau auf sein Leben und die Versäumnisse der Systeme, denen er gedient hatte. Dabei lebt er, wie so mancher seiner DDR Genossen, in dauernder Angst vor seiner Nazi Vergangenheit, hatte er doch im Dezember 1942 an der Erschießung von russischen Kriegsgefangenen teilgenommen wie auch der Chef der kasernierten Volkspolizei Generalleutnant Müller. Diese Verbrechen dürfen nun keinesfalls ans Licht kommen. Tallhover versucht, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er ja nur seine Pflicht getan habe, und das unter jedem System: “Ich weiß, was ich weiß, und ich tue, was ich kann. Heute wie damals. Damals für die Sache und heute für die Sache” (244). Vorwürfe macht er sich nur, daß ihm so vieles nicht gelungen ist. Schlimmer noch, er sieht sich als Versager. In einem grotesk-kafkaesken Romanschluß klagt er sich selber an. Im besten Wyschinski Stil bereitet er seine Anklage vor; er ist Angeklagter und Ankläger zugleich. Er muß erkennen, daß politisches Kalkül und bürokratische Dummheit sowie menschliche Schwächen und pure Schlamperei die saubere Arbeit der Geheimpolizei verhindern. Tallhover besteht auf seiner Verurteilung, denn er hat versagt “im Dienst an der Idee des reinen ordnenden Staates” (273). Er zählt seine historischen Versäumnisse; sie reichen von der Rheinischen Zeitung, die nicht verboten wurde, über Lenin, den er ungehindert durch Deutschland reisen und Radek, den er entkommen ließ bis zu seinem Versagen, die konterrevolutionäre Gefahr vor dem 17. Juni 1953 rechtzeitig erkannt zu haben. Der Ankläger Tallhover verurteilt den Angeklagten Tallhover zum Tode. Der Angeklagte enthält sich einer Verteidigungsrede und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß sein Opfer nicht umsonst gewesen sei, sondern den Weg zu “einem höheren Grad von Vollkommenheit” in der “Überwachung und Verfolgung von Aufsässigen” (274) weisen möge. So harrt Tallhover am Sonntag den 13. 2. 1955 im Keller seines Hauses dem Tod entgegen und hofft, daß seine Genossen ihn töten werden.

Die Theorie zu seinem Tallhover-Roman und zur Auswahl der in diesem dargebotenen historischen Episoden lieferte Schädlich in seiner Rede “Polizeigeschichten,” mit der er sich im Jahre 1986, dem Erscheinungsjahr seines Romans, für den Marburger Literaturpreis bedankte.{4} Es geht Schädlich, der die Macht der politischen Polizei (sprich Stasi) am eigenen Leibe verspürt hatte, darum, der Natur einer solchen Organisation und ihrer verhängnisvollen Rolle in der deutschen Geschichte auf die Spur zu kommen. In Anlehnung an Friedrich Schillers Schrift “Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte” versucht er darzulegen, warum und zu welchem Ende er sich für die Geschichte der deutschen politischen Polizei interessiert. Dieses weite Feld bietet, so Schiller-Schädlich, “dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts”, “dem denkenden Philosophen so wichtige Aufschlüsse” (41). Die Auswahl der historischen Episoden, in denen Schädlich seinen politischen Polizisten agieren läßt, begründet Schädlich wiederum mit einem passenden Zitat aus Schillers Schrift: “Der Polizeigeschichtenschreiber hebt diejenigen Begebenheiten heraus, ‘welche auf die heutige Gestaltung der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen . . . und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muß’” (45). Es liegt auf der Hand, das Geheimpolizisten und Unterdrückungsmethoden zum festen Bestandteil der deutschen Misere vom Feudalismus über Imperialismus, Nationalsozialismus und Kommunismus gehörten, von deren Folgen die deutsche Geschichte bis heute geprägt ist. Die einzige Ausnahme ist die Weimarer Republik, die in Tallhover mit keiner Silbe erwähnt wird. Die Erklärung dazu liefert Schädlich ebenfalls in seiner “Polizeigeschichte.” In diesem ersten demokratischen deutschen Staat war das Feld für die Geheimpolizei recht eng begrenzt; für die Talente eines Tallhover gab es nur geringen Spielraum. “Mein politischer Polizist,” so Schädlich in “Polizeigeschichten,” “durchschreitet die Ordnungen in Deutschland von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und sieht sich unterschiedlich vergnügt. Am wenigsten vergnügt in der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik, in welcher die ‘parteipolitische Neutralität, die Legalität und Integrität’ der politischen Polizei von den führenden Vertretern der republikanischen Partei betont wurde” (43). Im Gegensatz zu Diktaturen unterliegt die politische Polizei in einem demokratischen System der politischen Kontrolle, d.h. die Kontrolleure werden kontrolliert, damit die Demokratie nicht in Gefahr gerät. In Diktaturen kann eine Demokratie nicht gefährdet werden, also unterliegen die Polizeiapparate keiner öffentlichen Kontrolle und “schalten und walten einzig im Interesse dieser Regime” (43) Mit seinem Polizeiroman will Schädlich auch denjenigen ins Gewissen reden, die den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie leugnen, oder sich nach einem diktatorischen (sprich marxistischen System) sehnen; bis zur Wende 1989/90 gab es davon ja eine Reihe von Leuten im Westen (in der BRD sowie in den USA): “Vielleicht, daß [durch seinen Roman] ein Gedanke hervorgerufen wird über den bemerkenswerten Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, welcher mangels lebendiger Anschauung [wie er sie hatte] öfter übersehen oder aus mächtigen Gründen frech geleugnet wird; vielleicht, daß der denkbaren Ansicht weitergeholfen wird, es sei von besserem Nutzen, auf die bestallten Aufpasser aufzupassen anstatt das Kind Demokratie mit dem Bade auszuschütten” (46). Doch ehe wir den Geheimpolizisten Tallhover in Grund und Boden verdammen, stellt Schädlich sich und uns, seinen Lesern, auch eine ganz persönliche Gewissensfrage: “Könnte ich, könnten Sie so sein wie er? Was wäre mit mir, was wäre mit Ihnen gewesen, wenn etwas, das man Erziehung, Zeitumstand undsoweiter nennt, so und so gewesen wäre” (44). Mit anderen Worten, wie hätte er sich, wie hätten wir uns verhalten, wenn wir nicht in Jahre 1935 in Deutschland geboren wären, sondern 10 Jahre früher?

Obwohl Schädlich in seinem Roman bestimmte Episoden aus der deutschen Geschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts darstellt, besteht der Roman keineswegs aus einer willkürlichen Aneinanderreihung von Bruchstücken. Wie er in seinem Schillerartikel betonte, traf Schädlich die Auswahl der Episoden nach dem Grad ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Was den Roman zusammenhält, sind die Figur des Tallhover (oder das Prinzip Tallhover) und die Methoden der Geheimpolizei, die sich über die Jahrzehnte kaum geändert haben. Genau nachprüfbare historische Personen und Begebenheiten werden mit erfundenem Material zu einem Ganzen zusammengefügt, bei dem “erfundene Wirklichkeit mit wirklich Gefundenem derart verknüpft wird, daß selbst ein Gelehrter schwer zu unterscheiden vermag, wo die Grenze zwischen Erfindung und Wirklichkeit verläuft” (45). Diese Mischung von Gefundenem mit Erfundenem erhebt den Text zu einem poetischen Gebilde, oder, wie Schädlich es mit Schiller ausdrückt: diese Mischung “ ‘erhebt [. . . ] das Aggregat zum poetischen System’ ” (45). Zu dieser Struktur und der überformenden poetischen Idee gesellt sich die stilistische Durchformung des Romans. Dialoge, wirkliche und fiktive Dokumente, Polizeiberichte, Vernehmungs- und Überwachungsprotokolle, innere Monologe und auktoriale Berichte wechseln einander ab. Die wirklichen und erfundenen Protokolle sind entsprechend ihrer Entstehungszeit und dem geistigen Niveau des Protokollanten abgefaßt; schlichte Protokolle des Schutzmanns Dimke (vgl. englisch dim = geistig beschränkt) stehen neben dem gehobenem Bürokratendeutsch Tallhovers. Die Absicht, die Schädlich mit seinem Roman verfolgt, teilt sich dem Leser in diesem Dokumentarstil mit, ohne daß der Autor belehrend eingreifen müsste. Seine Darstellung “handel[t] von höchst Konkretem und bleib[t] doch eine bestimmte Konkretheit schuldig” ("Erzählen" 52), damit, ganz im Sinne der Rezeptionstheorie, ein Freiraum bleibt für die “mitwirkende Phantasie des Lesers” ("Erzählen" 52), oder, mit Brecht formuliert, damit der Leser mit dem Verstand dazwischen kommen kann. Schädlich schreibt nicht, um die Welt zu verbessern oder anzuklagen, wie er in seiner Rede “Vom Erzählen erzählen” im Jahre 1989 ausführt, sondern aus Vergnügen am Erzählen, d.h. am stilistischen Formulieren, und im Bemühen, sich und anderen einen Sachverhalt erkennbar zu machen.{5} Schädlich leugnet nicht, daß er bei der Auswahl und der Form seiner Stoffe von seiner Herkunft und Prägung bestimmt ist, und das bedeutet in seinem Falle das Leben in einer Diktatur, in einer Welt “ der ‘allseitigen’ Lenkung und Kontrolle des Denkens, Sprechens und Schreibens” ("Erzählen" 51). Vor dieser umfassenden Kontrolle floh er einst aus dem Literaturstudium an der Humboldt Universität in das Studium der Linguistik an der Universität Leipzig,{6}, von dem dann später wiederum seine eigene Literatur gewaltig profitierte, in dem sie ihm ein Gefühl für sprachliche Nuancen und Formulierungen vermittelte. Diese Kontrolle weckte sein “Interesse an dem Verhältnis des einzelnen zur Geschichte,” und zwar “des einzelnen als eines Unmächtigen zu übergeordneten Mächten, in der Vergangenheit und in der Gegenwart” ("Erzählen" 53). Dieses Interesse steht offensichtlich auch hinter seinem Tallhover-Roman, ein Roman, “der aus der Abneigung gegen das Autoritäre” geschrieben ist, “das vom berechtigten Anderen so gerne absieht, weil es nur das Eigene für das Berechtigte nimmt” ("Erzählen" 53).

Schädlichs Hauptthema, das sein gesamtes Werk, nicht nur den Tallhover-Roman, wie ein roter Faden durchzieht, ist das Problem der selbstangemaßten Autorität, die nicht demokratisch legitimiert ist. Die Inhaber von solchen Autoritätspositionen sind die ärgsten Feinde der meisten Schriftsteller; ihre Mittel sind Zensur (“Diese Köpfmaschine im Reiche des Geistes” — ein wörtliches Zitat aus Tallhover) und “Verfolgung, Einsperrung, Verjagung und -schlimmstenfalls Tötung von Schriftstellern” ("Erzählen" 54), wie Schädlich in seinem Tallhover-Roman an den Schriftstellern Herwegh und Hille demonstriert.

Als Günter Grass mit Frau Ute im August 1986 nach Indien reisten, führten sie im Reisegepäck Fontane und Schädlich mit. Ute Grass liest Fontane, Günter Grass vertieft sich in Schädlichs Roman Tallhover, den der Autor Grass in einem Umbruchexemplar mit auf die Reise gegeben hatte. Grass findet den Geheimdienstroman gut, nicht jedoch dessen Schluß und beschließt: ”Nein, Tallhover kann nicht sterben.”{7} Rund acht Jahre später erweckt Grass den Tallhover (wie auch Fontane) in seinem umstrittenen und viel diskutierten Erfolgsroman Ein weites Feld zu neuem literarischen Leben; der Stasiagent Tallhover wird als Hoftaller zum “Tag-und Nachtschatten” von Wuttke-Fonty-Fontane. Hoftaller knüpft da an, wo Tallhover abbricht: “Was die Tallhovers beginnen, setzen die Hoftallers fort.”{8} Hoftaller ist, wie Fonty, im Jahre 1919 (dem hundertsten Geburtstag Fontanes und Tallhovers) geboren, überlebt bei Grass die Wende von 1989/90 und hält am Ende des Romans Ausschau nach einem neuen Betätigungsbereich - vielleicht beim CIA, vielleicht beim Mossad, vielleicht in Lateinamerika - denn sein Spezialwissen wird überall gebraucht: “Im Prinzip ändert sich nichts.”{9} Wie Fontane so hat auch Schädlich tiefe Spuren im Grassschen Roman hinterlassen. So leiht nicht nur Tallhover sondern auch Schädlichs Kriminalkommissar Hofrichter dem Grassschen Hoftaller einen Teil seines Namens. Auch die Idee, seine Hauptfigur Fonty in einem Archiv arbeiten zu lassen, stammt möglicherweise von Schädlich, der seinen Tallhover nach der Entlassung im Staatsarchiv Akten wälzen und Rückschau halten läßt. Grassens Romanist durchwoben mit direkten Bezügen auf Tallhover und dessen Autor. So steht Schädlichs Roman, ein Geschenk von Hoftaller, neben Fontanes Werken in Fontys Bibliothek (239). Schädlichs Tallhover hatte früh eine Vorliebe für Puzzle Spiele; bei Grass schenkt Fonty seinem ständigen Begleiter ein Puzzlespiel (von einer Großtankstelle) zum 70. Geburtstag. In Grassens Beschreibung eines (fiktiven?) Heisig Bildes, das deutsche literarische Prominenz aus 100 Jahren versammelt, ist dicht hinter Herwegh ein Mann mit dem Namensschild Tallhover am Revers zu erkennen, der ein Zeitungsblatt des Zentralorgans (der SED, Neues Deutschland) als vielteiliges Puzzle zusammensetzt, bei dem das Adjektiv “schädlich” sichtbar wird (50) - ein aufschlußreicher Grass Tribut an sein literarisches Vorbild. Grass übernimmt nicht nur wörtliche und nachgestaltete Fontane-Zitate sondern zitiert auch ausgiebig aus Tallhover, wobei er echte mit abgewandelten Schädlich-Zitaten mischt. Die Liste ließe sich fortsetzen, doch muß das einer besonderen Studie zur Intertextualität überlassen werden. Im Unterschied zu Schädlichs Tallhover kommt Grassens Hoftaller jedoch recht harmlos daher. Er wirkt oft mehr als väterlicher Freund Fontys denn als bedrohlicher und radikaler Geheimpolizist wie durchgehend bei Schädlich. Grassens Hoftaller ist eine im ganzen nicht ohne Verständnis gezeichnete Figur, die nur selten sein “Objekt” bedroht. Schädlichs Tallhover dagegen ist der Unterdrücker im Reinformat, für den weder Autor noch Leser ein Jota Sympathie aufzubringen vermögen. Wenn Schädlich seinen Tallhover vor der Zeiten -Wende von 1989 in seinem Keller enden läßt, dann ist für ihn mit dem Prinzip Tallhover auch ein Prinzip Hoffnung verbunden: die Hoffnung, die sich daraus ergibt, das die Geheimpolizei nicht so allmächtig ist, wie sie es vorgibt. Doch als Prinzip ist sie nicht verschwunden, auch nach der Wende nicht, und da ist Günter Grass zuzustimmen. Mit Brecht formuliert, “Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.” Das bestätigt im Jahre 1998 nun auch Schädlich in seinem Trivialroman, wenn die Spitzel in seinem Roman ein neues Betätigungsfeld in ihrer alten Funktion finden, denn “Spitzel ist Spitzel. . . . Gute Schnüffler werden immer gebraucht.”{10}



Anmerkungen


{1} An Dokumentationen liegen unter anderem vor: Reiner Kunze, Deckname “Lyrik” (Frankfurt a.M.: Fischer 1990), Erich Loest Die Stasi war mein Eckermann (Göttingen: Steidl und Linden: Leipzig, 1991), Peter Böthig und Klaus Michael, Hrsg. Machtspiele. Literatur und Staatssicherheit (Leipzig: Reclam, 1993), und Joachim Walthers umfangreiches Werk Sicherungsbereich Literatur: Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik (1996). Unter Stasi-Romanen sind vor allem Wolfgang Hilbigs Ich (1993) und Thomas Brussigs Helden wie wir (1995) zu nennen, die beide aus der Perspektive eines simplen und recht miesen Stasi-Agenten berichten. Die Romane stellen interessante Analysen miserabler Einzelexistenzen dar, doch in dem weitaus besseren Hilbig Roman wird dabei die ganze Brutalität der DDR Geheimpolizei verharmlost.

{2} Kursbuch Heft 109 (1992): 81-89.

{3} Wolfgang Müller, ‘’Über Dreck, Politik und Literatur’: Zu politischen und ästhetischen Positionen Hans Joachim Schädlichs nach dem Fall der Berliner Mauer,” Colloquia Germanica 30. 4 (1997): 365.

{4} Abgedruckt in Hans Joachim Schädlich, Über Dreck, Politik und Literatur. Aufsätze, Reden, Gespräche, Kurzprosa (Berlin: Literarisches Colloquium, 1992) 41-47.

{5} Rede zur Verleihung des Thomas-Dehler-Preises 1989, zuerst erschienen in Deutschland-Archiv, Heft 1, 1990; abgedruckt in Dreck, 48-56.

{6} Vgl. dazu “Selbstvorstellung” in Fußnoten zur Literatur 32 (Bamberg: U Bamberg, 1995), 5 und Wolfgang Müller, “Ein Gespräch mit Hans Joachim Schädlich” in GDR Bulletin 22. 1 (Spring 1995): 18.

{7} Günter Grass, Zunge zeigen (Frankfurt a.M.: Luchterhand, 1991) 19.

{8} Günter Grass, Ein weites Feld (Göttingen: Steidl, 1995) 397.

{9} Ein weites Feld, 771.

{10} Hans Joachim Schädlich, Trivialroman (Berlin: Rowohlt, 1998) 145.


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