glossen 10: Bestandsaufnahme — Zur deutschen Literatur nach der Vereinigung
Die Hauptstadt in der Tiefe des Raums. Anmerkungen zu Büchern der neunziger Jahre
Richard Wagner

Es gab eine Zeit, da sprach man von einer DDR - Nationalliteratur. Genauer: Von dieser DDR - Nationalliteratur sprach die DDR. Andere sprachen von einer DDR - Literatur. Von der DDR - Nationalliteratur sprachen die Mächtigen der DDR und von der DDR - Literatur sprachen die Mächtigen des bundesdeutschen Feuilletons. Der Unterschied ergab sich aus der Präsenz oder dem Fehlen des Wörtchens Nation. Ansonsten traf man sich damals wie bei den meisten Angelegenheiten irgendwo in der Mitte. Jedenfalls versuchte mans.

Das bundesdeutsche Feuilleton hatte der DDR-Literatur über die Jahrzehnte einen festen Platz eingeräumt, aus dem sich das DDR - Bonus - Heft für die Autoren entwickelte, von dem wiederum die DDR zu profitieren suchte. Die guten DDR - Autoren galten als Medaillengewinner. Beide Seiten ließen sich die Sache durchaus etwas kosten.

Und all das geschah im Namen der Nation. Durch die Selbsternennung der eigenen Literaturproduktion zur Nationalliteratur hatte die DDR eine permanente Drohung ausgesprochen, die den Westen aus eben den Gründen der nationalen Raison und gemäß der Präambel des Grundgesetzes, in der die Wiedervereinigung als Staatsziel festgeschrieben worden war, zu Dauerzahlungen auch in literarischen Fragen veranlaßte. Sie sehen, das Interesse aneinander war groß.

Nach dem Mauerfall und dem Ende der DDR und damit auch der DDR - Nationalliteratur war Berlin, die klassische Stadt der deutschen Teilung plötzlich auch jener einzige Ort, an dem die praktizierte deutsche Vereinigung zu besichtigen war und ist. Berlin als Baustelle der Republik sollte auch ein beliebter Ort des Schreibens werden. Nicht nur, daß zahllose deutsche Autoren seither nach Berlin umgezogen sind, die Stadt wurde wieder einmal zum bezaubernden und inspirierenden Ort der Gegenwart erklärt.

Bald nach der Wende wurde das Bedürfnis nach dem zeitgemäßen dritten Ort jenseits von West und Ost deutlich. Es sollte der Raum der neunziger Jahre geschaffen werden. Und zwar in einer Stadt, die soviel Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts speichert wie keine andere deutsche Stadt. In der es alle Grenzen der Nachkriegszeit, die sichtbaren und die unsichtbaren, bis heute gibt. Die DDR ist ein Museum und Westberlin ist ein Museum. Zu den Ausstellungsstücken des einen gehören Mauermuseum und Luftbrücke zu denen des anderen beispielsweise die DDR - Bibliothek, eine Buchreihe mit den wichtigsten Werken jener verabschiedeten Nationalliteratur.

Um in diesen Büchern zu blättern, muß man die frühere Grenze, die Mauer, die heute wie eine unsichtbare Installation wirkt, überschreiten. Man geht zu diesem Zweck in den Osten, ins Haus des Aufbau - Verlags, in eine Buchhandlung, die “Leseland “ heißt und so wörtlich einen anderen Mythos des verschwundenen Staates zitiert. Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Jene Buchhandlung sieht nicht wie eine DDR - Buchhandlung aus, sie sieht wie jede andere Buchhandlung aus, zwischen Kiel und Leipzig, sie führt neben all den Büchern, die wir sonst auch zu sehen bekommen, eben noch die Bibliothek der DDR. Das ist an Unterschieden alles.

Die neunziger Jahre sind buchstäblich der Suche nach dem dritten Ort gewidmet, jenseits von Ost und West. Wenn mans ins Politische übersetzen will, ist es die Berliner Republik, ganz allgemein bleibt es Deutschland, nach dem Ende der Nachkriegszeit.

In Berlin kann man die exemplarischen Beispiele für diese Suche finden. Es sind Orte, wie der Potsdamer Platz, jahrzehntelang eine Brache, unbetretbares Grenzgebiet in der Mitte der Stadt. Dort, wo nach dem Abbau der Grenzbefestigungen, nichts mehr war, konnte das Neue sich sozusagen ungestört breitmachen. Auf diesem Platz haben Daimler und Sony einen künstlichen Stadtteil ohne jede Geschichtsbezug errichtet beziehungsweise, sie sind noch dabei ihn zu errichten.

Dieser Ort wurde von der Bevölkerung ohne Zögern angenommen. Ich denke, er wurde gerade wegen seiner Künstlichkeit angenommen. Der zweite Ort, den ich nennen möchte, ist der Prenzlauer Berg. Er war in den achtziger Jahren, zur Zeit der DDR, Szene und er ist es auch in den Neunzigern. Eine Kultur- und Studentenszene aus West und Ost hat sofort von dem Bezirk Besitz ergriffen, als gelte es dort nach der Vereinigung die neue Kunst zu schaffen. Nicht im trägen Westen, beim vielbeschworenen Sieger der Geschichte, sondern hier in den Ruinen der Utopie, im Prenzlauer Berg, richteten sich die Künstlerkinder ein, in einem Leben der schnellen Einfälle, denn hier war alles möglich, weil ja eine Welt zusammengebrochen war, und der Zusammenbruch sich, dank der Vereinigung, in rasender Geschwindigkeit in die eigenen Bilder verwandelte.

Und diese Bilder konnten für die neuen Generationen in Ost und West zu Pop - Bildern werden, weil ihre Beziehung zu den Phänomenen der Vergangenheit eine recht flüchtige war und ist. Auf diesem Hintergrund machte sich die Literatur auf den Weg in den offenen deutschen Raum.

Und dieser offene Raum erwies sich nicht zuletzt als Trümmerlandschaft. Die Öffentlichkeit ist bis heute voll davon. Die Trümmer kommen als Sprachtrümmer daher, fünfzig Jahre und mehr sind zu besichtigen. Die Frage der politischen Zusammenhänge verwandelt sich zunehmend in die nach den Grundlagen der heutigen Lebensläufe. Und da ist auf jeden Fall die Literatur gefragt.

Zuerst einmal mußte in ultimativer Satire die Hinterlassenschaft der DDR beschrieben werden. Dies tat Thomas Brussig, 1965 in Berlin geboren, mit seinem Roman “Helden wie wir”(1995). Der Roman hat eine Kapitelgliederung in Monologen des Ich - Erzählers, deren Grundlage vermeintliche Tonbandgespräche mit einem amerikanischen Journalisten bilden.

Wer ist nun dieser Hauptheld mit dem unaussprechlichen Namen Klaus Uhltzscht, der von seinem Heranwachsen und seinen frühen Jahren in der DDR berichtet, vom repressiven Familienleben und immer wieder von seinen Sex - Phantasien und Abenteuern. Es stellt sich heraus, das Uhltzscht ein ehemaliger Stasi- Mann ist, und dazu noch aus einer Stasi - Familie kommt. Man könnte in makabrer Engführung des Wortes von Uwe Kolbe sagen: er wurde “hineingeboren”. Indem Brussig diesen Mann erzählen läßt, und ihn sich gerade an der Verkorkstheit und Spießigkeit der Familie reiben und von jenen aberwitzigen Sex - Phantasien leiten läßt, greift er in satirischer Weise die Grundlagen der DDR als trostlose Provinz und ihre unglaubliche Selbstüberschätzung an.

Durch die Erzählperspektive aus einer bezeichnenden Naivität des Helden heraus, dessen Hirn geradezu von dem Sprachtrümmern der DDR verschüttet wurde, bleibt von deren behaupteter Realität so gut wie nichts übrig. Der Größenwahn des Erzählers ist der Größenwahn der DDR, mit der so radikal aufgeräumt wird, daß sogar noch ihre Wende - Mythen mit dran glauben müssen: Schon der Titel “Helden wie wir” verrät das Ausmaß der Respektlosigkeit.

Die Abnabelung ist eine vom gesamten Paradigma. Das große Finale exorziert das Faktum DDR. Auf der großen Demo am 4.11.89 verwechselt der Zuschauer Klaus Uhltzscht die Rednerin Christa Wolf mit der Eislauftrainerin Jutta Müller. Darauf folgt eine satirische Gegenlektüre der Bücher von Christa Wolf, die sich zu einer Demontage der intellektuellen Verrenkungen dieser DDR - Ikone auswächst. “Nun ja, Christa Wolf hatte einen Liebesroman geschrieben, der, wie Sie sich erinnern, als Erektionstöter gute Dienste tat, und ähnlich feurig waren ihre politisch intendierten Schriften.” (S. 307)

Aber schon kommt es zur nächsten Steigerung, nämlich dem Bericht über die Maueröffnung durch den Schwanz des größenwahnsinnigen Exhibitionisten Uhltzscht, die letzte Wahrheit über die Wende, angesichts eines zögerlichen, passiven Volks. “Aber ich bin fast schon wieder froh darüber, daß ich bei der Stasi war” (so der Hauptheld)” Ich kann mir die entsprechenden Fragen stellen. Ich habe die Chance zum Kern meiner Erbärmlichkeit vorzustoßen. Ich brauche gar nicht erst anzufangen mit diesen erbärmlichen Ausreden, ‘Ich habe niemandem geschadet...’, ‘Aber andererseits konnte ich dadurch...’, ‘Ich habe schon damals...’ Eine völlig verzerrte Diskussion, und keiner merkt es!” (312). Sagt Brussigs Held.

Was es bedeutet, wenn die politischen Grundlagen einer Lebenswelt wegfallen, wenn plötzlich Freiheit angesagt ist, beschreibt Ingo Schulze in seinen Simple Storys (1998), im Untertitel: ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Schulze ist 1962 in Dresden geboren. Er entstammt der gleichen Generation wie Thomas Brussig, eine Generation für die die achtziger Jahre mit ihren Auflösungserscheinungen der DDR als Staatsmodell prägend waren.

Ingo Schulze setzt die Short Story ein, um die Lebensläufe einer DDR-Provinzstadt und deren Brüche im Jahre 1990 zu beschreiben. Er spricht von Altenburg in Thüringen, und die Kritik hat das Buch mit Sherwood Anderson und seinem “Winesburg. Ohio” verglichen.. Betrachtet man die einzelnen Kapitel und ihre ausführlichen inhaltlichen Überschriften, so fühlt man sich allerdings auch an Jean Paul erinnert. Kapitel 1 mit dem Titel Zeus etwa wird so vorgestellt: “Renate Meurer erzählt von einer Busreise im Februar 90. Am zwanzigsten Hochzeitstag ist das Ehepaar Meurer zum ersten Mal im Westen, zum ersten Mal in Italien. Den mitreisenden Dieter Schubert treibt eine Buspanne vor Assisi zu einer verzweifelten Tat. Austausch von Erinnerungen und Proviant.”

Die amerikanische Short Story schafft zwar den Erzählraum, die Literarisierung des Personals dieser Wendezeitgeschichten wird aber eher durch die Skurrilformeln des alten deutschen Romans geleistet. Auf jeden Fall erweist sich Schulze als ein Autor seiner Generation, frei von den Zwängen und Klischees der sogenannten DDR - Literatur, die sich noch in ihren harmlosesten Texten als Produkt der Diskursverwaltung entpuppte.

In Schulzes Geschichten entlarven sich die Menschen der Provinz stets selber. In zahllosen Dialogen, die den Text weitgehend steuern, erscheint der Lebenswandel der kleinen Leute als eine Verkettung von Umständen. Die Vergangenheit der Diktatur wird durch das abgebildete Gerede zur Anekdote gerundet, in der immer wieder Gedankenlosigkeit, Opportunismus und Kollaboration aufblitzen.

Das banale “Vorbei ist vorbei!” von einer der Personen geäußert, grundiert eine Welt der Wende - Verlierer und Gewinner, in der es darauf anzukommen scheint, sich je schneller und zielstrebiger auf das Regelwerk des Westens zu stürzen. Diese Menschen sind immer wieder damit beschäftigt sich in der vorgegebenen Welt einzurichten. Sie sind auf ihren Lebenslauf fixiert, und alles, was geschehen ist und geschieht, zieht gleichwertig an ihnen vorbei. Man kann darüber schmunzeln, das Lachen kann einem auch vergehen.

Schulze fächert die Welt des Umbruchs mit seiner Strategie der Sachlichkeit anschaulich auf. Er zieht eine Summe des Lebenswandels der Provinz, die wie kein anderes Phänomen den Stoff der DDR und ihrer Nachfolge ausmacht.

Ein Foto ist es, das am Anfang der Erzählung von Hans Ulrich Treichel “Der Verlorene” (1998) steht. Treichel ist 1952 in Westfalen geboren, zugehörig einer Nachkriegsgeneration, deren gesamte Entwicklung von den Kriegsfolgen und den Auseinandersetzungen damit geprägt worden ist, ohne selber in die Angelegenheit eingreifen zu können. Alles, was sie betrifft, ist bloß überliefert. Die Flucht, die die Familiengeschichte in der Erzählung bestimmt, und das weit über den Vorgang selber hinaus, wird durch das Foto im Familienalbum für den Erzähler zeichenhaft beschrieben. Die Flucht ist für den nachgeborenen Erzähler, der selber keine Erinnerung haben kann an das, was sein Leben so überdeutlich markiert, nichts als das Foto von der Flucht. Es ist das Foto des älteren Bruders, der auf der Flucht aus dem Osten bei Kriegsende verloren ging. Von der Mutter einer anderen Frau aus dem Treck anvertraut, als die Russen plötzlich da waren, und “das Schreckliche passiert sei”, wie sie sagt. Das Foto dieses abwesenden Bruders bestimmt das Leben des heranwachsenden Kindes: “ Während mein Bruder Arnold schon zu Säuglingszeiten nicht nur wie ein glücklicher, sondern auch wie ein bedeutender Mensch aussah, war ich auf den meisten Fotos meiner Kindheit zumeist nur teilweise und manchmal auch so gut wie überhaupt nicht zu sehen.”(S. 9) Die Abwesenheit des Verlorenen wird zur Metapher für die Idiosynkrasien des Nachkriegslebens in der Bundesrepublik. Flucht und Vertreibung werden durch die Rituale der Tätigkeit symbolisch verarbeitet. Da ist der Vater der Schweineköpfe einkauft und das damit verbundene Essen als Schlachttag zelebriert. Denn: “Der Vater hätte den Hof erben und selbst ein Bauer werden sollen; und zumindest an dem Tag, an dem er sich mit seiner Familie und den Gästen um das frische Hirn versammelte, fühlte er sich auch so.” (42) Es ist eine Ersatzhandlung und sie wird wie so manche andere in der Zeit zur Triebkraft des Wirtschaftswunders, nach dem die gebrochene Identität geradezu verlangte.

Anzumerken ist, daß seit der Vereinigung, das Thema von Krieg und Nachkrieg, Nationalsozialismus und den Folgen sowohl in den Debatten als auch in der Literatur einen neuen Auftrieb erhalten hat. Offenbar hat die Vereinigung ein neues Bedürfnis nach der Verhandlung oder mindestens der Bestandsaufnahme der Grundlagen ausgelöst.

Wenn jemand aus der Nachkriegsgeneration diese Ereignisse noch einmal unter die Lupe nimmt, so geschieht es mit einer für die Gegenwart bedeutsameren Nachdenklicheit als das mit weiter zurück liegenden Büchern der Fall sein kann. Treichel ist der Unbeteiligte, der als Erzähler das Gewicht von der Täter - und Schuldfrage auf die Frage nach den Folgen für die Lebensläufe verlagern kann. Indem uns eine Spießerfamilie der Nachkriegszeit im deutschen Westen vorgeführt wird, werden uns die Spätfolgen des Dritten Reichs deutlich gemacht, die das Menschenbild in Deutschland bis heute prägen. Auch die Nachgeborenen sind Betroffene und Deutschlands Gegenwart ist immer noch ohne den langen Schatten der Geschichte kaum zu verstehen.

Ebenfalls von den langen Schatten der Vergangenheit erzählt der Roman “Der Vorleser”(1995) von Bernhard Schlink (geb. 1944 in Bielefeld). Er erzählt davon, ohne diese Vergangenheit ins Zentrum der Handlung zu rücken. Dieses Zentrum bildet vielmehr eine langwierige, ungewöhnliche Liebesgeschichte, die zwischen einem Halbwüchsigen und einer wesentlich älteren Frau beginnt. Eigentlich ist es eine klassische Initiationsgeschichte in die Dinge der Liebe und des Lebens, wäre da nicht, ja wäre da nicht die deutsche Geschichte. Es ist die unmittelbare Nachkriegszeit, in der der Erzähler, auf diese Frau trifft, die ihn schicksalhaft beschäftigen wird. Es wird zwar Stück für Stück ihr Lebensproblem als ehemalige KZ-Aufseherin mit einer nahezu kriminalistischen Aussparungstechnik gelüftet, ihr Geheimnis sozusagen, aber der erzählerische Motor bleibt die Liebesgeschichte. Es ist eine Ich - Erzählung, und dem Erzähler geht es um sein Verhalten in der Frage des Umgangs mit der Protagonistin und damit mit der Vergangenheit, die schließlich die Voraussetzungen schafft für das Leben im Nachkriegsdeutschland,

Nur so wird das unideologische Porträt einer solchen Frau in seiner ganzen Deutlichkeit möglich. Erst die unmögliche Liebesgeschichte macht dieses Porträt einer Täterin anschaulich, um nicht zu sagen plausibel.

Schlinks Roman wurde ein großer literarischer und ein noch größerer Publikumserfolg. Einer der größten Erfolge der neunziger Jahre. Sein Buch stellt die moralischen Fragen unaufdringlich, es stellt sie philosophisch. Auf diesem Hintergrund ist nicht die Begegnung der beiden Protagonisten entscheidend sondern ihre Wiederbegegnung unter veränderten Bedingungen. Er als Erwachsener, Jurist und Beobachter im Gerichtssaal, sie als Angeklagte, die zu verurteilen ist. Und durch diese Wiederbegegnung lüftet sich für ihn ihr eigentliches Geheimnis, das im Grunde ein privates ist. Dieses private Geheimnis aber, daß darin besteht, daß sie Analphabetin ist, wird ihr zum Verhängnis. Es steht zeitlebens zwischen ihr und der Normalität, und er, der Romanheld läßt es ihr. Und seine Entscheidung ist Strafe und Respekt zugleich.

Zwischen ihm, dem Mann, mit der Gnade der späten Geburt und der Täterin gibt es keine Brücke, auch die Gefühle können keine bauen. Es ist die Täterin, die ihn in die Angelegenheiten der Liebe einführt, sich ohne Erklärung entfernt und den Horizont besetzt hält, und nichts anderes sein kann, als die große Täterin. Eine deutsche Geschichte, bis heute.

“In den ersten Jahren nach Hannas Tod haben mich die alten Fragen gequält, ob ich sie verleugnet und verraten habe, ob ich ihr etwas schuldig geblieben bin, ob ich schuldig geworden bin, indem ich sie geliebt habe, ob ich und wie ich mich von ihr hätte lossagen, loslösen müssen. Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich für ihren Tod verantwortlich bin. Und manchmal war ich zornig auf sie und über das, was sie mir angetan hat. Bis der Zorn kraftlos und die Fragen unwichtig wurden. Was ich getan und nicht getan habe und sie mir angetan hat - es ist nun eben mein Leben geworden.” (205) So weit Bernhard Schlink.

“Als mein Vater, der aus einer Familie mittelmäßiger Schauspieler stammt und dem jede Art von Kostümierung verhaßt ist, weil er als Kind auf schmutzigen Vorstadtbühnen kleine Affen, Indianer und Papageien hat mimen müssen, und dem noch heute das schadenfrohe Gelächter des Publikums in den Ohren dröhnt, als mein Vater also an einem regnerischen Sonntagnachmittag meine Mutter dabei erwischte, wie sie im Badezimmer heimlich bunte Perücken, eine nach der anderen und offensichtlich mit großem Vergnügen, aufprobierte, konnte er nicht umhin, sie fürchterlich zu strafen. Er tat dies, indem er sie, die sich schreiend eine knallrote Perücke über die Ohren preßte, aus dem Badezimmer schleifte und so lange mit seinem Gürtel verprügelte, bis sie geständig war und das Versteck ihrer Kostüme preisgab.” Das ist der Anfang einer kurzen Geschichte von Felicitas Hoppe ( geb. 1960 in Hameln). Die Geschichte hat den Titel “Die Pilger” und steht in dem Buch “Picknick der Friseure”(1996). Der Vorgang, der uns hier erzählt wird, ist plausibel und paradox zugleich. Sein Sinn ist ein literarischer aber auch der einer Lebensmaxime.

Kürzestgeschichten wie die von Felicitas Hoppe kündigen sich nicht an. Sie sind plötzlich da, praktisch mit ihrem ersten Satz entziehen sie der Gegenwart den scheinbar sicheren Boden. Wer jeden Halt zu verlieren bereit ist, möge sich auf sie einlassen.
Die Verunsicherung wird durch den Sprachgebrauch erreicht. Noch meinte man als Leser zu wissen, wo welches Wort hingehört und schon geht man den untergeschobenen Redewendungen der Autorin auf den Leim. “Während mein Vater seiner Verwaltungspflicht nachkommt, bedienen meine Schwestern die Gäste im Hinterzimmer, freundliche ältere Herren, die es in der Regel ohne viel Aufhebens tun” , heißt es da unvermittelt (Der Balkon, 11) . Felicitas Hoppes Sprachbilder weiten sich zu Erzählbildern aus. Sie sind märchenhaft und absurd zugleich. “Noch halte ich Messer und Gabel bei Tisch, aber von der Stirn rinnt mir der Schweiß in Bächen hinab in den Kragen, während hinter dem Fenster die Tochter des Müllers, als trüge sie nichts auf den Schultern, in die weit geöffneten Arme der Liebhaber fällt und sich für immer in ihren Anblick vertieft.” (“ Leben und Werk”, 77) Man muß nur kurz über die Liebhaber nachdenken und schon weiß man, nie war die macht des Plurals größer. Weil das alles grotesk und absurd ist, ist es auch wahr. Mit diesem Glauben belangt einen die Lektüre.

Kürzestgeschichten rühren oft an den Grundlagen der Familie. Sie ist wie kaum ein anderes Thema in der Kürzestgeschichte unterzubringen, wahrscheinlich weil an ihr so gut wie nichts stimmt, und zwar immer schon, es aber kaum einer wahrhaben will. Die Familie ist zeitlos und alltäglich zugleich. Felicitas Hoppe macht das Problem kenntlich, sie spricht von den Beziehungs - und Familien zuständen der neunziger Jahre in einem glaubhaften Robert- Walserschen Ton. “Wie du weißt, sagte am Morgen der Rechtsanwalt, während man in der Küche schon Sahne schlug und das Klirren von Gläsern und Gabeln hörte und die Gärtner prachtvolle Blumenkörbe durch den Garten schleppten, als solle augenblicklich geheiratet werden, wie du weißt, gibt es zwei Sorten Unglück. Und er stopfte seinem Sohn Reisegeld in die Taschen und jagte ihn durch das Gartentor hinaus bis zum Bahnhof, wo der Sohn des Rechtsanwalts auf einen vorbeifahrenden Zug sprang und sich nicht umdrehte, denn es war niemand da, um nasse Tücher zum Abschied zu schwenken.” (“Die Mitte des Lebens”, 53).

Eine ausgewiesene Kennerin der Familien -und Beziehungsdesaster ist auch Birgit Vanderbeke, 1956 im brandenburgischen Dahme geboren, aufgewachsen im Westen. Sie hat in ihren Erzählungen einen eigenen Realismus entwickelt, der durch sprachliche Treffsicherheit, Lakonie und Witz die Zeitumstände in den sprichwörtlich privaten Geschichten aufhellt. Bei Vanderbeke erscheint das Zeitalter als Lebenszeit und damit wird die Erforschung der Gefühle zur fortgesetzten Zeitdiagnose.

Von der Liebe unter den heutigen Umständen spricht Birgit Vanderbeke in ihrer Erfolgserzählung von 1997 “Alberta empfängt einen Liebhaber”. Darin wird in mehreren Anläufen eine Geschichte geschrieben, die auf vertrackte Weise auch die Geschichte der Erzählerin ist, die wiederum zur literarischen Figur wird. Eine große Liebe wird in der kleinen Form auf die unspektakuläre Lebensformel gebracht. Die Literatur aber wird zum Kommunikationsmittel einer gestörten Beziehung.
Die Frau als Mizzebill, eine der skurrilsten und einprägsamsten Vanderbeke - Erfindungen machts möglich. Was eine “Mizzebill” ist, läßt die Autorin Nadan sagen, den lebenslangen Geliebten von Alberta: “Eine Mizzebill ist so ziemlich das Übelste, was einem Mann passieren kann. Eine Plage. Ungefähr eine Heuschreckenplage. Da kann man nichts machen. “ (26) Von dieser so unwiderruflich festgestellten Machtlosigkeit handelt dann auch die Erzählung, Die beiden Protagonisten, Alberta und Nadan, scheitern immer wieder in der Annäherung aneinander, sie wähnen sich fern voneinander und kommen doch nicht voneinander los.

Die Erzählung verschränkt drei Perspektiven, wodurch Realität und Text sich laufend gegenseitig untergraben. Das Buch ist nicht autobiografisch, es macht das Autobiografische aber zur Erzählfigur. Indem hinter der Erzählung zugegebenermaßen auch eine wahre Geschichte steht, läßt sich die Authentizität buchstäblich ins Spiel bringen. Ohne Spiel keine Erkenntnis, könnte man sagen.

Die beiden Protagonisten machen in jedem Jahrzehnt seit den Siebzigern jeweils einen neuen Anlauf, um doch noch die große Liebe zu gestalten. Beim ersten Mal ist es noch zu sehr Jugendliebe, geprägt von den Zügen der Zeit, in der auch das Küssen mit dem Vietcong zu tun haben mußte. Beim zweiten Mal, in den Achtzigern, ist dagegen alles schon zu sehr normalisiert, eine geplante Parisflucht endet in einem deutschen Hotel an der Autobahn und Alberta erlebt ihren Nadan sozusagen im Vorgriff auf den Ehemann als Langweiler. Beim dritten Mal dann scheint der Ausweg gefunden. Beide leben in geordneten Bahnen und Alberta empfängt nun einen Liebhaber, zu dem der einstige Geliebte geworden ist. Es ist ein fast heiteres Eingeständnis des Scheiterns und für die Neunziger mit ihren grundsätzlichen Ernüchterungen durchaus ein praktikabler Weg.

“Mir war, ich hätte einmal in einem großen leeren Haus gestanden und den Satz gehört: Weißt du, ich möchte dich glücklich machen. Der Satz war mir absurd erschienen. Ich hatte entgeistert gesagt: Aber was, um Himmels willen, hat das mit Glück zu tun. Ich muß einen Augenblick unaufmerksam gewesen sein und verstrickt in meine Entgeisterung darüber, daß ein Mensch einem anderen zu sagen imstande ist: Ich möchte dich glücklich machen. In diesem Augenblick merkte ich, wie eine schmale, sehr kühle Hand sich weich und verführerisch auf meine legte. Ich dachte: Stimmt ja, Alberta empfängt einen Liebhaber.” (116).

Den prinzipiellen Fragen der Geschlechtersituation widmet sich Thea Dorn (geb. 1970 bei Frankfurt am Main) in ihrem Roman “Die Hirnkönigin” (1999). Dies ist ein Buch das gleichermaßen aus literarisch Fixiertem wie aus dem Rohmaterial der Berliner Realität schöpft. Im Unterschied zu den vielen frechen Frauengeschichten, die letzten Endes doch nur die herrschende Geschlechterordnung bestätigen und auf dem Humor der Rollenfrau sitzen bleiben, stellt Thea Dorn keine Fragen, sie läßt ihre Protagonistinnen zur Tat schreiten.

Die Journalistin Kyra Berg hat sich vom Feuilleton verabschiedet und dem Ressort Mord zugewandt. Kyra schreibt an einer Serie über Berliner Mörderinnen.

Thea Dorn arbeitet mit den Strategien des Kriminalromans. Sie bedient sich des Serientäter Bilds und macht daraus die Serientäterin. Das ist nun weniger eine Frage der Realität als des erzählerischen Funktionierens einer Idee. Das Buch ist gleichzeitig eine Antwort auf ein Genre der Kriminalliteratur und ein neuer Ansatz der skeptischen Diagnose zur Geschlechterfrage. So ist es logischerweise voller umgedrehter Männerphantasien, die zum erzählerischen Antrieb werden. “Zurückgelehnt, die Sonne im Gesicht, verfolgte Kyra, wie sich der Kellner mit weichem Hüftschwung durch den Verkehr schlängelte. Sie stellte sich vor, wie sie ihm nachging, von hinten Schürze, Hose, Hemd vom makellosen Körper riß, ihn auf eine heiße Motorhaube legte und vögelte, bis der Lack Blasen schlug.” (46)

Die Konstruktion ist kulturhistorisch unterfüttert, sie macht das Thema in seinen abendländischen Grundlagen auf. Die Täterin identifiziert sich mit Athene, der aus dem Haupt des Zeus geborenen, und eine der Schlüsselszenen hat als Ort das Pergamon - Museum und den Pergamon - Altar. Der Griechen - Mythos erlaubt gleichzeitig die Anonymität der “Täterin” als Erzählerin. Es ist von einer paradoxen Logik, daß die Kulturchiffren den Krimivorgang abdichten. Wir haben so nicht nur zwei Protagonistinnen, sondern auch zwei Erzählperspektiven, die von Kyra und jene des Athene - Doubles, das mit seiner körperlosen Stimme den Text mitbestimmt. “Sie warf den Kopf in den Nacken und schaute hin zu den Göttern, die rings von den Rängen dem Blut - und Feuerwerk Beifall spendeten. Die Götter waren stolz auf sie, sie hatte die Tat vollbracht. Sie - die einzige. Mit Tränen der Freude und des Stolzes in den schwefelgelben Augen verneigte sie sich vor ihrem hohen Publikum. Sie eilte zu der Athene an der Stirnseite des Saals und küßte ihr die Füße. Athene war groß, Athene war unüberwindlich.... Sie tanzte und küßte Athene die Füße und tanzte und küßte, bis die Flammen endgültig erloschen waren.” (181)

Bei Thea Dorn mischen sich die Diskurse, sie geben dem abendländischen Hintergrund seine postmoderne Präsenz, in der Vieles dunkle Chiffre ist und trotzdem wirksam wird.

Handeln wird für die Frauen möglich, indem sie die Kulturbilder wörtlich nehmen. Dadurch erhalten die Taten die notwendige metaphorische Dimension, die der Handlung den literarischen Sinn gibt. In der Konsequenz unserer Kultureinkreisung rückt das Hirn in den Mittelpunkt. Streicht man das ganze Geschlechtergeplänkel um die Gefühle und die Frage, wer recht hat, mal weg, dann bleibt eben das Hirn.

Und so ist der Beweggrund der Täterin, die sich schließlich als eine Art Kopfgeburt entpuppt, das Verstehen. Und verstehen heißt in unserer Kultur sehen. Sie tötet. Sie trennt den trivialen Körper vom Eigentlichen, wenn man so will. Es interessiert sie nur der Männerkopf. Und sie will nicht hinnehmen, daß bei all diesen älteren Herren das perfektionierte Hirn in einer umgekehrten Entwicklung zum verfallsdatierten Körper steht, und daß dieser unsägliche Körper, das Hirn in seinen Abgrund zieht.

Die neunziger Jahre müssen wohl dem Überdenken der Grundlagen gewidmet sein. Alles was sicher war in Deutschland, war seit dem Zweiten Weltkrieg provisorisch. Und alles was provisorisch war, gilt im nachhinein als sicher. Wir haben das Problem der Ostalgie aber auch jenes der Verklärung der alten Bundesrepublik. Der Fall der Mauer und das Ende der deutschen Teilung haben zur Folge, daß alle Fragen neu gestellt werden müssen. Vor dieser generellen Infragestellung hat die deutsche Öffentlichkeit Angst. Das zeigt die Aufgeregtheit in den öffentlichen Debatten, sei es über das Holocaust - Mahnmal, über Martin Walser oder Peter Sloterdijk. Wenn der Begriff Berliner Republik Sinn macht, dann wohl doch in diesem Zusammenhang. Berliner Republik bedeutet Abschied vom Provisorium, und die Gewißheit, daß die Zukunft offen ist. Das ist für Deutschland nicht ungefährlich, für die Literatur aber ein guter Nährboden, wie wir an einigen Beispielen sehen konnten. Berlin ist zwar Mode und Trend aber auch ein guter Grund zum Schreiben.



LITERATUR

Brussig, Thomas. Helden wie wir. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1995.

Dorn, Thea Die Hirnkönigin. Hamburg: Rotbuch Verlag, 1999.

Hoppe, Felicitas. Picknick der Friseure. Reinbek: Rowohlt Verlag,1996.

Schlink, Bernhard. Der Vorleser. Zürich: Diogenes Verlag,1995.

Schulze, Ingo. Simple Storys. Berlin: Berlin Verlag, 1998.

Treichel, Hans - Ulrich. Der Verlorene. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1998.

Vanderbeke, Birgit. Alberta empfängt einen Liebhaber. Berlin: Alexander Fest Verlag, 1997.


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