glossen: rezension


Christoph Hein. Von allem Anfang an (Berlin: Aufbau-Verlag, 1997).

Christoph Hein, der sich zu DDR-Zeiten als mutiger Zensur- und Systemkritiker hervorgetan hatte, machte nach der Wende die optimistische Behauptung, daß “man in seiner kurzen Lebenszeit zwei Leben führen kann. Die alten Themen habe ich noch; jetzt kommen neue hinzu”. Als er dann 1993 den Roman Das Napoleon-Spiel veröffentlichte, erwies es sich, daß das Sichaneignen neuer Themen ein doch recht schwieriges Unterfangen war. Der Roman über den gelangweilten Zyniker und Erfolgsmenschen Wörle war ein Mißerfolg. 1997 erschien Heins neues Prosabuch Von allem Anfang an, das man als eine fiktiv verpackte Autobiographie aus den fünfziger Jahren verstehen kann. Mit diesem Werk hat Hein nun tatsächlich - man kann es getrost behaupten - sein neues Thema und eine breite, ja, gesamtdeutsche Leserschaft gefunden.

Das Buch besteht aus neun Episoden, die locker aneinandergereiht sind und von der rückschauenden Perspektive eines dreizehnjährigen Ich-Erzählers, des Pastorensohns Daniel, erzählt werden. Die Komposition ist kreisförmig. Anfang und Ende handeln von ähnlichen Situationen: in der ersten Episode bereitet sich Daniel auf seine Übersiedlung nach Westberlin vor, wo bereits sein Bruder David lebt, den die Familie in der letzten Szene dort besucht hatte. Die Person, die die beiden Szenen verbindet, ist die opportunistische, im Verrat geübte, fanatisch katholische Mitschülerin Lucie. Hatte ihr Daniel vorher noch arglos von der Flucht des Bruders berichtet, so hat er jetzt, im ersten Kapitel, “von allem Anfang an” seine Lektion gelernt. In der gemütlich-heimeligen Atmosphäre der sächsischen Kleinstadt in der sich gerade etablierenden DDR weiß das Kind bereits von freundlicher Verlogenheit, bedenkenlosem Mitmachen und notwendigem Selbstschutz.

Biographische Übereinstimmungen zwischen dem Autor Hein und der Kunstfigur Daniel sind offensichtlich. Beide kommen aus Schlesien, sind Pastorensöhne, die in der atheistischen DDR ihr Abitur nicht machen durften. Beide gehen nach Westberlin. Dieses Autobiographisch-Fiktive ist eingebettet im politisch-historischen Kontext der fünfziger Jahre bis zum Ungarn-Aufstand im Jahre 1956. Vorrangig aber dreht es sich um einen sehr privaten Bereich von Freundschaften, Pubertätserlebnissen und Atmosphärischem aus Familie und Schule. Hervorstechend in diesem Episodengeflecht ist das wunderbar gelungene Porträt einer lebensbejahenden, kindlich-naiven Tante, das dem Leser unvergeßlich bleiben wird. Von allem Anfang an ist zwar Fiktion, hinter der fiktiven Figur, die vordergründig aus der Perspektive eines verwirrten Dreizehnjährigen berichtet, spürt man jedoch hintergründig durchweg den reifen Autor, der aus der Distanz der Jahre und mit historischem Wissens eine Art “Geschichtsschreibung von unten” (de Bruyn) betreibt. Das unaufdringliche Verschlungensein der beiden Erzählperspektiven, das dem kindlichen Wahrnehmungsvermögen keine Gewalt antut, ist ein gelungener Kunstgriff.

Wie geschickt diese beiden Ebenen verquickt sind, zeigt sich in der letzten Miniatur des Buches, als die Familie den älteren Bruder David in Westberlin besucht und auf einem Lichterlaufband auf dem Kurfürstendamm vom Aufstand in Ungarn erfährt. Die für das Kind Daniel verwirrende westliche Berichterstattung wird ihm Stunden später in der völlig anderen Version der östlichen Schule zur Qual. Doch ebenfalls - damals schon - beobachtet der staunende Junge inmitten der Vielfalt westlichen Lebens die lässige Ungerührtheit der am Restaurant vorübereilenden Westler. Als “weltstädtisch” begreift der naive Teenager deren Gleichgültigkeit. Diese Haltung eines grassierenden Materialismus konnte dem bewußt registrierenden Autor/Sprecher der neunziger Jahre nicht unbekannt gewesen sein.

Von allem Anfang an ist ein gelungenes Buch. Die historische Kulisse ist deutlich wahrnehmbar, allerdings - aus dem Abstand der Jahre - unaufdringlich konzipiert. Vor allem aber ist das Buch die Geschichte einer Kindheit bzw. Jugend in der DDR, die trotz des unumgänglichen politisch-historischen Kontextes vorrangig nichts anderes ist als eben eine Jugendgeschichte: durchaus nicht ungewöhnlich, überregional anmutend, ansprechend.

Christine Cosentino
Rutgers University