Aus: Helga Kurzchalia, Halbschlaf. Berlin: Rotbuch Verlag, 2000.

New York, Berlin und die dritte Phase der Weltrevolution

Am nächsten Tag besuchte mich Rudi, der dem Geburtstag ferngeblieben war. Er lebte in letzter Zeit sehr zurückgezogen. Die Therapie hatte er längst abgebrochen. Obgleich ihm seit den Ereignissen um Biermann noch immer das seelische Gleichgewicht fehlte. Ein Wechselbad der Gefühle, von dem er meinte, daß es ihn binnen kurzem an die Grenzen seiner nervlichen Belastbarkeit gebracht hatte. Vor einigen Wochen hatte er die Flucht ergriffen und war im Traum nach Amerika geflogen. New York sei ihm vom ersten Moment an so vertraut erschienen, als hätte er niemals woanders gelebt. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Keine Spur von Mattigkeit. Der erste Weg führte ihn in die Vereinten Nationen, deren Gebäude ich nur aus dem Fernsehen kannte. Rudi stürzte zum Rednerpult ans Mikrofon, um die Welt über unsere mißliche Lage aufzuklären. Er sprach, als liefe ihm die Zeit davon. Die Diktatur des Kleinbürgertums, des Sängers Ausbürgerung. Darüber, daß unser kleines Land in einer tiefen Krise stecke, die "international" auf keinen Fall unterschätzt werden dürfe. Seine Worte hätten ins Schwarze getroffen. Die Abgeordneten waren außer sich, und der Vorsitzende, ein Vertreter Kameruns, hatte Rudi wie einen Bruder umarmt und ihm als Zeichen seines Vertrauens sogar die nächste Präsidentschaft angetragen. "Damit einer aus dem Osten das Geschick der Völker in die Hand nehme." Rudi war erleichtert, von allein erwacht zu sein.

Aber sein Traum sei wie eine Initialzündung gewesen, und schon am nächsten Tag hätte Rudi eine Protestresolution gegen Biermanns Ausbürgerung geschrieben. Mit hochroten Wangen vor der alten Omega-Schreibmaschine, über deren Tastenfeld er mit zwei Fingern gestolpert sei. "Aber was war schon ein Brief!" Seit Biermanns Ausbürgerung stieß Rudi überall auf Merkmale einer revolutionären Situation. Als würde er an der Spitze einer großen Bewegung mitmarschieren, sann er über eine tiefgreifende Veränderung nach. Die Zeit schien reif für einen Umsturz. Ich war erstaunt über seine Unbelehrbarkeit. Daß er immer noch an dem anderen Sozialismus festhielt, wie an einem Rettungsanker. Rudi bedauerte, daß ich damals nicht dabei gewesen war. Ich hätte Berlin nicht wiedererkannt. Unsere Stadt glich einem Hexenkessel. Wochenlang hatte man nur das Thema Biermann diskutiert. Rudis Aufregung signalisierte mir, etwas Bedeutsames verpaßt zu haben. Ich kannte das Gefühl. Wie früher, wenn ich an der Hand meines Vaters spazierenging und von den Aufregungen der Nachkriegszeit hörte. Wie er die Innentüren seines F 9 mit dutzenden Geldscheinbündeln gepolstert und damit im Westen heimlich Aktien gekauft hatte. Für einen überlebenswichtigen Betrieb in der sowjetischen Besatzungszone. Als würde er immer noch auf Seiten der Schwachen und Besitzlosen stehen. Als müßte ich meinen Vater loben, statt von meinen Erfolgen aus der Schule zu reden. Ich rutschte auf die Sesselkante und hörte zu, was Rudi sagte. "Es ist erst ein halbes Jahr her. Die Stimmung war von enormer Sprengkraft!" Damals hatte Rudi, wie so oft, bei Lenin nachgeschlagen ("Was tun?") und wie im Rausch ein Programm entworfen, das er radikal-demokratisch nannte.

Ein Programm fürs ganze Land. Eine Räterepublik. Seine Mutter hatte die Hände ausgebreitet, ihre Augen verdreht. Daß ihr Ältester einfach nicht erwachsen wurde! Daß er unbeirrbar nach Welterkenntnis strebte. Aber diesmal war Rudi nicht zu besänftigen gewesen und hatte am gleichen Abend Bilofsky angerufen, den alten Freund der Familie, der sich schon seit Jahren mit der Entwicklung unserer Gesellschaft befaßte. Bilofskys Vater hatte noch Bebel gekannt. Das flößte Rudi Vertrauen ein. Wie einer, der nach dem Zipfel der Geschichte haschte, um für den nächsten Tag Mut zu fassen.

In der Straßenbahn rekapitulierte Rudi, worüber er Bilofsky berichten wollte. Es war wie bei einer Leistungskontrolle. Er betrat mit beklommenen Herzen das Arbeitszimmer. Unter Bilofskys Blick kam er sich wie ein Schüler vor, der sich erst fingerschnippend zu Wort gemeldet, aber auf dem Weg zur Tafel den Satz des Pythagoras vergessen hatte. Rudi merkte erschrocken, daß er sein radikal-demokratisches Programm nicht mehr als logisches Ganzes darstellen konnte. Als wäre sein Entwurf in der Straßenbahn geblieben und führe allein zur Endstation. In diesem Moment, sagte Rudi zu mir, hätte er im Kopf eine gähnende Leere gespürt. "Eine gähnende Leere", wiederholte ich flüsternd und stellte mir vor, wie der Alte mit bedeutungsschwerem Schritt sein Arbeitszimmer durchmessen hatte wie ein Königreich. Vor ihm seinen Thronfolger. Bilofsky versuchte den jungen Mann zum Reden zu ermuntern. Ob Rudi vielleicht meinte, daß die DDR bei der gesellschaftlichen Umgestaltung eine Schlüsselfunktion hätte. Bestimmt fragte er sich, was im Prozeß der Demokratisierung aus dem Überbau wird. Nicht zu vergessen der subjektive Faktor, über den Lenin sich so aufschlußreich geäußert hatte. Demokratie und Sozialismus. Rudi gestand, über die Frage der Volksherrschaft in den letzten Wochen viel nachgedacht zu haben. Vielleicht würde die deutsche Ost-West-Konstellation bald von Vorteil sein. Standen wir an der Schwelle zur dritten Weltrevolution? Er berichtete nur bruchstückhaft, was er wieder und wieder erwogen hatte. Die Fragen schossen kreuz und quer durch seinen Kopf, und er schilderte widersprüchlich, was er auf dem Hinweg noch für unwiderlegbar gehalten hatte. Ein radikal demokratisches Programm. Bilofskys zerfurchte Miene spiegelte den Ernst der Lage, aber leider war ihm nicht anzusehen, was er von Rudis Ideen hielt. Er hatte ihm lediglich geraten, schnellstens an den Schreibtisch zurückzukehren. In der Abgeschiedenheit seines Arbeitszimmers würde sich seine Gedanken von selbst ordnen. Er sprach mit der Entschiedenheit eines Mannes, der seinen Platz am Schreibtisch sah. Später setzte er hinzu, Rudi könne ihm ja die nächste Fassung ruhig in den Briefkasten werfen.

Erst beim Abschied hätte sich etwas von der Reserviertheit gelöst, die der Alte ihm gegenüber an den Tag gelegt habe. Als Rudi rekapitulierte, wodurch der Stimmungswandel herbeigeführt worden sei, lachte er mit so unerwarteter Heftigkeit, daß ich angstvoll zusammenschrak. Er ahmte Bilofsky nach. War es, daß Rudi ein radikal demokratisches Programm entworfen oder sich an den Inhalt nicht mehr erinnert hatte. Rudis Oberkörper wurde von einem Lachkrampf geschüttelt. Ich griff beruhigend nach seinen Ellenbogen, bis auch ich nicht mehr an mich halten konnte und hinter vorgehaltener Hand losprustete. Daß er sich im entscheidenden Augenblick an sein eigenes Programm nicht mehr erinnert hatte! Rudi genoß mein Mitgefühl. Die dritte Phase der Weltrevolution! Mit einem Satz sprang er hoch und spielte mir ihren Abschied vor. Ihre großen Nasen hatten einander zugenickt. Ein Aufblitzen in den Pupillen. Zwei Utopisten im geheimen Einverständnis. Für Sekunden kämpfte Rudi mit dem Verdacht, nur das Sprachrohr des Alten zu sein, der ja sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als Entwicklungsprobleme der Gesellschaft zu beschreiben. Das Programm, eine Einflüsterung aus Kindertagen. Rudi verstieg sich in die Behauptung, der Freund seiner Eltern hätte ihn gar absichtsvoll am Reden gehindert. Aus Angst, die Konsequenzen am eigenen Leib erfahren zu müssen.

Er ahmte den Professor nach, indem er mit großen Schritten durch mein Zimmer lief. "Ich kenne dich besser, als du glaubst", rief er, die Selbstgefälligkeit des Alten parodierend. Mit der rechten Hand schirmte er die vom Lachen tränennassen Augen ab, die linke trug er zur Faust geballt in der Hosentasche. Der Alte, der ihm eben noch mißtrauisch hinterhergeblickt hatte, fing unmotiviert zu kichern an. Inzwischen stand Rudi am Gartentor, für das meine quietschende Schranktür herhielt, und auf meinem Teppich sah ich Bilofskys Rhododendron wachsen, den Rudi keines Blickes gewürdigt hatte. Während er abwechselnd sich und den Professor spielte, kam er immer mehr in Bewegung und schilderte mir im Vorüberlaufen, wie er den Sozialismus von grundauf reformieren wollte. Zwischen Höhenflug und Absturz schlug sich Rudi an die Brust. Wie sonderbar allein die Absicht! Was blieb, als den Verstand verlieren oder einander zum Besten halten. Mein Freund brach in Gelächter aus. Wir schüttelten uns abermals. Rudi und Lenin. Lenin und Biermann. Bilofsky und Rudi in Sorge um uns und die dritte Phase der Weltrevolution, die ihre beiden Getreuen immer noch im Ungewissen ließ. Da kam Jacob aus dem Kinderzimmer. Unterm Arm trug er seine Sparbüchse, aus der er ein paar Groschen geangelt hatte, die er jetzt wie zum Trost in Rudis Hosentasche steckte. Rudi erschrak bei der Vorstellung, sich auf Jacobs Kosten einen schönen Tag zu machen. Ich schwieg betroffen. In einem plötzlichen Stimmungsumschwung lud Rudi sich den Kleinen auf die Schultern und galoppierte wiehernd durch unser Zimmer. "Fort mit den Geistern!" Jacob jauchzte: "Es lebe Rudi! Unser König!" Von Dalino hatten wir nur wenig gesprochen. Aber daß "unser kleines Land" dort kaum Erwähnung fand, hielt Rudi immerhin für bemerkenswert.

In Sicherheit!

Ich habe Rudi bei seiner Mutter besucht. Er führte mich in das Wohnzimmer, vollgestellt mit Fünfzigerjahremöbeln. Rudis jüngere Schwester war in eine Zeitung vertieft. Die Mutter, klein von Wuchs, stand mit dem Rücken zu mir und hielt ihre Schultern nach vorne gebeugt, so daß die zu langen, dünnen Arme hilflos an ihr herunterbaumelten. Ich setzte mich schweigend auf den Stuhl. Die anderen schwiegen auch. Wir wußten, daß Rudis Verhaftung bevorstand, allein der Zeitpunkt war ungewiß. Jeden Moment würden sie gegen die Wohnungstür schlagen, die die Mutter von innen verschlossen hatte. Während der Regen ans Fensterglas klatschte, suchte ich fieberhaft nach einem Ausweg. Wir könnten uns dumm stellen und unschuldig tun, bis Rudi außer Reichweite und in Sicherheit war. Weglaufen, flüchten, entkommen. Vielleicht sollte ich mit. Ich hatte gedanklich mehrmals Anlauf genommen, doch Rudi ließ sich nicht dazu bewegen, eine Rettung in Erwägung zu ziehen. Im Gegenteil, er schien sehr gefaßt. Auch seine Mutter und Schwester saßen regungslos da. Als stünde eine unsichtbare Wand zwischen uns, von der meine Worte wie Pingpongbälle abprallten und nach ein paar Hüpfern untern Schrank kullerten. Rudi erhob sich vom Sofa. Ich beobachtete erstaunt, wie er seinen Stuhl in den Flur trug und unter dem Garderobenständer eine Zuflucht suchte. Mit seinen rotglühenden Ohren glich er einem Kind, das für sich allein Versteck spielte. Rudi nahm zwischen den Mänteln auf einem Hocker Platz. Hinter dem Pelzkragen seiner Mutter lugte die eine Schulter hervor. Er trug die Jacke seines Vaters. Den Kopf zwischen den Jacken, Mänteln, Tüchern und Schals verborgen, hatte er sich offenbar seinem Schicksal ergeben. Seine aneinander gepreßten Knie verrieten, daß er sich von hier nicht mehr fortrühren würde. Ich drehte mich fragend nach der Schwester um, die in der Mitte des Zimmers seine Sachen in einen großen Pappkoffer legte. Für die lange Reise brauchte er einen warmen, dicken Pullover. Rußland, dachte ich. Sibirien. Ich stand auf und gesellte mich zu seiner Schwester, die immer hektischer in einem Berg von Stricksachen wühlte. Sie beugte sich vor und sah aus, als würde sie in seinen Sachen ertrinken. Ich nahm eine Tasche und half ihr beim Suchen. Als auch ich nichts Brauchbares fand, wurde ich unter Tränen wach.

In der Wohnung war es sehr still. Bernhard lag schlafend neben mir. Leise ging ich ins Bad und starrte auf mein Spiegelbild, bevor ich mich wieder schlafen legte und im Kopf einen ersten, langen Brief an Dito entwarf.