glossen: rezension


Hans Joachim Schädlich. Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop. Rowohlt Verlag, Hamburg, 1999, 96 Seiten, 29,80 DM.

Ob aus einer Ausgabe für Kinder oder Erwachsene, jeder kennt zumindest einige Fabeln, die dem griechischen Dichter Äsop (6. Jh. v. Chr.) zugeschrieben werden, etwa "Der Fuchs und die Trauben", "Der Hirt und der Wolf" oder die "Zwei Frösche". Wenig jedoch ist von dem Mann bekannt, der diese Fabeln erzählt haben soll, die später, nach einer längeren mündlichen Überlieferung in verschiedenen Formen aufgeschrieben wurden. Daher bringt man dem vom Rowohlt Verlag publizierten Text über diesen großen griechischen Dichter, der auf deutsche Autoren wie Luther, Lessing und Goethe einen großen Einfluß gehabt hat, sehr viel Sympathie entgegen.

Schädlichs Gib ihm Sprache basiert auf dem von Günter Poethke übersetzten anonymen griechischen Äsoproman, der 1974 in der Dieterischen Verlagsanstalt erschienen ist. Sein Text zeugt nach der Doppelerzählung Mal hören, was noch kommt. Jetzt, wo alles schon zu spät ist(1995) und dem Trivialroman(1998), die sich auf der Oberfläche mit Gegenwartsproblemen beschäftigen, von Schädlichs erneuter Beschäftigung mit überzeitlichen, parabelhaften Erzählformen, die sowohl episch als auch pointiert, kritisch als auch gleichnishaft sind. Es sind Formen, die so recht seinem künstlerischen Temperament entsprechen, einen bedeutenden Einfluß auf sein Gesamtwerk hatten und sich in reiner Form in seinen Parabeln Sprachabschneider(1980) und Der Kuckuck und die Nachtigall(1996) wiederfinden. Gib ihm Sprache ist als eine Biographie Äsops zu verstehen, die auch eine Reihe seiner Fabeln enthält; es ist dazu eine Parabel auf das Leben eines wachen, rebellischen Geistes, deren Implikationen noch uns Heutige berühren.

Der im Rowohlt Verlag in einer schönen Ausgabe veröffentlichte Text wird als eine Nacherzählung ausgewiesen, doch Schädlichs Text scheint mir weniger eine Nach- als eine Neuerzählung der griechischen Vorlage zu sein. Zwar bleibt die Biographie Äsops, wie sie in der Vorlage erzählt wird, weitgehend erhalten, aber Schädlichs Sprache ist durchaus die seine, eine dem Gegenstand und der Figur des Dichters, dieses "zahnlosen", "schielenden", plattnasigen und brillanten Mannes angemessene Sprache. Sie ist genau, auf Wesentliches verdichtet, teilweise ironisch und ohne eine Spur von Selbstmitleid und Melancholie. Folgendermaßen erfahren die Leser vom Tod Äsops in Delphi: "Besser, ich hätte Syrien, Phönizien, Judäa bereist!’" Er verfluchte die Delpher, rief Apollon an, ihn zu erhören und stürzte sich selbst vom Felsen."

Bedenkt man den Lebensweg Äsops in diesem kleinen Text, mag man ahnen, woher Schädlichs Affinität zu diesem Mann aus der Antike kommt. Äsop ist ursprünglich ein Stammelnder, einer der sich nur schlecht ausdrücken kann, ein Landsklave, der sich jedoch durch seinen Witz aus den verschiedenen Schlingen windet, die man ihm legt. Das Geschenk der Göttin Isis, die ihm die Fähigkeit der Dichtkunst verleiht, macht ihn zum Fabeldichter, zum überlegenen, rebellischen Haussklaven des Philosophen Xanthos und schließlich zum freien, geächteten und bedrohten Aufklärer und Weisen, macht ihn zu einem, dem ein selbstbestimmtes Leben möglich wird. Einen Intellektuellen würden man ihn mit heutigem Vokabular nennen, wenn diese Bezeichnung sich nicht auf Anpassung zu reimen begonnen hätte.

Denn ein Anpasser ist Äsop auf keinen Fall, obwohl er es oft bitter nötig hätte. Auf seine Herren angewiesen, reizt er sie doch bis aufs Blut, und er läßt es sich wohl ergehen, wo Bescheidenheit die klügere Verhaltensweise gewesen wäre. Fast möchte man meinen, Schädlichs Erzählung wäre ein Beitrag zur Diskussion der neunziger Jahre um Täter und Mitläufer unter den Intellektuellen in der zweiten deutschen Diktatur. So wie Äsop hätte man sich zu DDR-Zeiten, oder davor, vielleicht auch verhalten können, scheint dieser Text nahezulegen. Aber er sagt es nicht in einem didaktischen Stil, eher so nebenbei, auf amüsante, auf leichte, eben auf äsopsche Weise. Man muß schon genau hinsehen, wenn man die Gemeinheiten, die Äsop angetan werden, nicht überlesen will oder die Abgründe an Erfahrung, die sich in einigen seiner Ratschläge auftun. "Wirf einen gehässigen Menschen, auch wenn er dein Bruder ist, nach dem Essen aus dem Haus! Er kommt nur, um anderen zu erzählen, was du tust und sagst," heißt es an einer Stelle. Wer Schädlichs "Die Sache mit B." gelesen hat, seinen hilflos trauernden Bericht über den IM-Bruder, mag ermessen, worum es hier geht.

Wolfgang Müller
Dickinson College