glossen: interview

“Meine Fragen als Schriftsteller sind existentielle oder sie sind gar nicht” — Wolfgang Müller im Gespräch mit dem Berliner Autor Richard Wagner, Oktober 1999, Dickinson College

M: Du bist im Banat, in Rumänien zur Schule und zur Universität gegangen. Du warst im kommunistischen Jugendverband, sogar in der Partei. Hast du an den Kommunismus rumänischer Prägung oder an das kommunistische Ideal geglaubt? Und wenn ja, wo waren die Punkte, an denen Dein Unbehagen und schließlich dann Dein Dissens ansetzte?

W: Ich bin im Kommunismus aufgewachsen. Ich gehöre zum Jahrgang 1952, zu einer Generation, die nach dem Krieg geboren wurde. Mein bewußtes Leben beginnt in einer Zeit, in der der Stalinismus bereits zu Ende war. D. h. ich hatte nicht bewußt die Erfahrungen gemacht, die die Generation meiner Eltern im Stalinismus gemacht hatte und war deshalb dem Kommunismus gegenüber, wie andere aus meiner Generation auch, offener. Die mich prägende Zeit waren die sechziger Jahre. Das war in Rumänien eine offene Zeit, eine Zeit der Experimente und Reformen. Die Anfangszeit des späteren Diktators Ceauçescu war ganz anders als das, was man jetzt historisch kennt. Er galt als der Exponent eine jüngeren Reformbewegung in der Partei. Meine Ideale und die vieler anderer Leute aus der gleichen Generation waren die von 1968; d. h. ich war in meinen frühen Jahren überzeugt von der Idee des Reformkommunismus und bin auf Grund dieser Ideen auch in die kommunistische Partei gegangen, weil ich damals glaubte, daß man die Partei von innen verändern könnte. Es hatte sich aber sehr bald herausgestellt, daß das nicht so war. Meine negativen Erfahrungen mit dem Kommunismus und der damit verbundene Abschied in Raten kamen sehr früh und zwar besonders durch meine literarische Betätigung. Die wurde zu einem zentralen Punkt meines Konfliktes mit dem Regime, weil mit ihr implizit der Freiheits- und Meinungsfreiheitsbegriff verbunden war; das läßt sich nicht von einander trennen. Und so bin ich dann sehr früh angeeckt bei der Zensur, bei der Partei, bei allen. Die Verschlechterung der politischen Lage in Rumänien und die Installierung der Ceauçescu-Diktatur führten dann dazu, daß ich mich von dem rumänischen Kommunismus verabschiedete, zwar noch mit dem Euro-Kommunismus das eine oder andere vorhatte, aber dann Schritt für Schritt auch davon wegkam.

M: War die DDR irgendwann ein Ideal für dich?

W: Ein Ideal war die DDR nie. Ich habe mich als Marxist verstanden, aber meine marxistische Prägung ist weder durch die DDR noch durch den rumänischen Kommunismus bestimmt worden, hatte also nichts mit diesem bolschewistischen Marxismus zu tun gehabt, sondern eher mit einem westlichen Marxismus. Ich kam von der Frankfurter-Schule, von der Kritischen Theorie her, von Theodor Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas. und ich habe mich auch für Louis Althusser und Ernst Fischer interessiert, der in Osteuropa einen großen Einfluß hatte.

M: Wie habt ihre deren Bücher bekommen?

W: Das war relativ einfach in jener Zeit. Die deutsche Minderheit hatte ihre eigene lebendige Kultur in Rumänien, die eng verbunden war mit der Bundesrepublik. Ein Teil der deutschen Minderheit war ja ausgewandert bzw. geflüchtet nach dem zweiten Weltkrieg; die kamen dann wieder zu Besuch mit der zweiten Generation, mit ihren Kindern, die in Westdeutschland sozialisiert waren. Es war damals ziemlich leicht für sie, nach Rumänien zu reisen. Sie wurden ins Land gelassen in den sechziger Jahren. Es kam zu Kontakten. Mit diesen Leuten kamen dann die Bücher ins Land. Man konnte in den sechziger Jahren sogar eine Zeit lang, nicht lange, aber eine Zeit lang in der Buchhandlung westdeutsche Bücher kaufen. Außerdem wurde die deutsche Minderheit auch versorgt mit Büchersendungen von Internationes oder vom Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart.

M: Du sprachst von den stalinistischen Erfahrungen deiner Eltern.

W: Ja, die waren ganz konkret. Noch bevor sie Gelegenheit hatten, den Marxismus zu studieren, wurde die Generation meiner Eltern zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion geschickt, also 1945-49. In jener Zeit wurden alle sogenannten arbeitsfähigen Männer und Frauen aus der deutschen Minderheit zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Warum? Es galt das Prinzip der Kollektivschuld. Aus Rumänien wurde die deutsche Minderheit zwar nicht vertrieben wie in Polen oder Tschechien oder Ungarn, zum Teil; es gab auch keine Vernichtung der Deutschen wie in Jugoslawien. Also da gab es einen wesentlichen Unterschied. Die Rumänen haben das nicht gemacht. Aber sie haben der Sowjetunion dann eben die Arbeitskräfte ausgeliefert, und die Generation unserer Eltern war weitgehend davon betroffen. Das war das eine. Die zweite marxistische Lehre, die ihnen zuteil wurde, war die totale Enteignung von Haus und Hof. Es gab zwar für die gesamte Bevölkerung überall Enteignungen im kommunistischen Sinne, aber die deutsche Minderheit verlor alles, selbst die Besitztitel an den Häusern, in denen sie wohnten. Auch meine Familie, die zwar weiter in dem Haus wohnen durfte, besaß nach 1945 das Haus nicht mehr und bekam erst 1955 den Besitztitel wieder zurück. Zehn Jahre waren sie im eigenen Haus nur geduldet. Darüber hinaus wurden sie, wie überall in Osteuropa, als die anwesenden Deutschen dauernd zum Objekt der offiziellen Propaganda. Entsprechend dem gängigen verbalen Antifaschismus waren dann die Deutschen eben die Faschisten, die Nazis, egal, wer das nun war. Ich selber erinnere mich in meiner frühen Kindheit von erwachsenen Rumänen beschimpft worden zu sein als “Kind von Nazis”, obwohl das gar nicht zutraf. Aber das waren eben Leute, die Opfer der offiziellen Propaganda gewesen sind. Außerdem war es eine bequeme Art der Geschichtsbetrachtung für die Rumänen, die ja selber Kollaborateure Hitlers und des Dritten Reiches gewesen sind. Sie konnten so ihre Schuld auf die deutsche Minderheit übertragen und mußten nicht über ihre eigene Geschichte reden.

M: Sind Rumänen auch ins Arbeitslager gekommen?

W: Das Kriterium war ethnischer Natur, also die Volkszugehörigkeit. Mein Vater z. B. war gar nicht in der deutschen Armee gewesen, sondern er war in der rumänischen Armee. Im Winter 1944 ist er wegen seiner Volkszugehörigkeit von Rotarmisten abgeholt worden. Das war das Kriterium für seine Deportation. Was die Rumänen betrifft, so haben die als Kriegsgefangene auch zu leiden gehabt. Neben Deutschland hatte Rumänien an der Ostfront die größte Armee stehen, und die Kriegsgefangenen, die da gemacht wurden von der Roten Armee, sind für etliche Jahre in der Sowjetunion verschwunden, so wie das den Wehrmachts- und Waffen-SS-Angehörigen auch passiert ist.

M: Wie ist dein Vater nach diesem Erlebnis darauf gekommen, in die Partei einzutreten.

W: Ja, also mein Vater hat lange gezögert und wollte natürlich nicht in die kommunistische Partei gehen. Aber er hatte dann einen Job, den er sonst nicht hätte behalten können. Es war kein besonderer Job; er war der Direktor oder Leiter eines kleineren Mühlbetriebes am Ort. Um diesen Job aber behalten zu können, mußte man Parteimitglied sein. Das war mit ein Grund für einen regelrechten Opportunismus, der da gang und gäbe war und sich in der Zeit Ceauçescus noch verstärkt hatte. Es gab eben eine Verbindung zwischen Berufskarriere und Parteizugehörigkeit. Und so wurde mein Vater Mitglied. Es gab in der Familie auch Diskussionen darüber, und dann wurden immer Bemerkungen gemacht, daß er Kommunist geworden wäre oder daß er sich mit den Kommunisten gemein gemacht hätte. Es gab immer eine ungute Stimmung bei diesem Thema, weil es in der Familie Leute gab, die sich völlig dagegen gestellt hatten, wie z. B. mein Großvater, der deswegen auch keine richtige Arbeit bekam, dann auch keine Rente hatte und noch im hohen Alter auf dem Bau arbeiten mußte, weil er sich überall mit den Kommunisten überworfen hatte. Er hatte eine Wagner-Meisterwerkstatt, in der Pferdewagen, also diese hölzernen Leiterwagen, gebaut wurden. Da hatte man ihm verboten, das selbständig zu betreiben. Er aber hatte sich geweigert, in die Kollektivwirtschaft einzutreten und in seiner eigenen Werkstatt als Arbeiter und Angestellter weiter zu machen. So ist er eben ohne Arbeit geblieben.

M: Bist du mit rumänischen Kindern zur Schule gegangen?

W: Die Schulen waren nicht voneinander getrennt zur meiner Zeit, nur die Klassen. Davor gab es eine Zeit, in der sogar die Schulen getrennt waren, verwaltungsmäßig. In meiner Zeit war es so, daß es im Dorf eine Schule gab, aber innerhalb dieser einen Schule getrennte deutsche und rumänische Klassen. Man traf sich nur in den Pausen.

M: Gab es Spannungen unter den Kindern unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit?

W: Es gab einerseits schon Spannungen, die mit dieser Trennung zu tun hatten, weil man sich auch ethnisch definierte, auch auf dem Schulhof zum Teil. Zum anderen kannte man sich aber auch von der Straße her und aus der Nachbarschaft, wo die Kinder miteinander spielten. Daher eskalierte diese Spannung, wenn sie auftrat, auch nicht. Es gab wirklich keine Probleme da. Das Haus, in dem ich aufwuchs, stand am Ende einer Straße. Vor uns war ein Haus mit Rumänen. Neben uns war ein gemischtes Haus, in der eine halb serbische halb ungarische Familie wohnte. Daneben war eine ungarische Familie, und dann an der Ecke, wo die Straße so eine Biegung machte, da wohnte noch mal eine deutsche Familie. Die Kinder in dieser Nachbarschaft spielten und trafen sich auf der Straße.

M: Und die gemeinsame Sprache war Rumänisch?

W: Je nach dem, welche Kinder dabei waren. Wenn die rumänischen Kinder dabei waren, sprachen wir rumänisch. So lernte ich Rumänisch. Mit den Kindern dieser serbisch-ungarischen Familie, die in die deutsche Klasse gingen, sprachen wir Deutsch. Die Minderheiten sprachen untereinander Deutsch, und die Rumänen sprachen nur Rumänisch. Sie lernten bezeichnenderweise unsere Sprache nicht.

M: War das eine multikulturelle Gesellschaft im Kleinen?

W: Das Banat war immer eine Region mit mehreren ethnischen Gruppen, und es ist bestimmt ein Gebiet gewesen, in der das Multikulturelle realer gehandhabt worden war, als das heute der Fall ist. Heute redet man mehr davon, als man es praktiziert. Dort redete man nicht davon, aber man praktizierte es, weil es sich so ergab. Ich hielt es immer für einen Denkfehler, daß man meint, multikulturell heißt das völlige Durcheinandermischen, und alle umarmen sich, und es wird sozusagen Weltmusik gespielt. Damals war es so, daß zwei ethnische Gruppen in den Ortschaften durchaus getrennt lebten, auch früher, vor dem Krieg, lebten die getrennt nach Straßen. Man hatte keinerlei Probleme miteinander, aber man lebte auch im Abstand zu einander, d. h. man redete einander nicht hinein. Ich glaube, daß das sehr wichtig war für das Praktizieren einer solchen Koexistenz und daß das heute verloren gegangen ist als Gedanke, weil man den Abstand für negativ hält.

M: Wann hast du angefangen zu schreiben?

W: Ich habe sehr früh angefangen, als ich zum Gymnasium ging. Ich habe meine ersten Gedichte mit siebzehn in Zeitungen veröffentlicht und habe von da an kontinuierlich veröffentlicht. Als ich einundzwanzig war, ist mein erster Gedichtband erschienen, und dann habe ich mich als Schriftsteller begriffen.

M: Du hast von Anfang an nur auf Deutsch geschrieben?

W: Deutsch ist meine Sprache. Für mich war Rumänisch die Staatssprache und eine Verkehrssprache. Aber die Sprache, in der ich denke, in der alles bedeutsam ist, was man denkt, fühlt, macht, das ist Deutsch.

M: Gibt es irgend etwas aus dieser Zeit im Banat, dem du nachtrauerst?

W: Nein, wenn ich das so direkt beantworten soll, nein. Du mußt bedenken, ich habe da nicht im Konsens gelebt, auch mit meinen Landsleuten nicht. Meine Landsleute, die Banatschwaben, sind als eine Gemeinschaft immer sehr konservativ gewesen und intolerant. Sie waren in der Regel nicht bereit, ihre Vergangenheit auch nur zu bedenken. Sie haben sich immer als Opfer gefühlt, haben immer von diesen Opfergeschichten gesprochen, die auch zutrafen. Aber sie haben immer versäumt zu erzählen, was sie selber davor getan hatten und was die Vorgeschichte davon war, nämlich, ihre Implikation in den Nationalsozialismus und das Dritte Reiche, ihre Teilnahme an der Waffen-SS und die Sonderrolle der deutschen Minderheit in der Antonescu-Diktatur während des zweiten Weltkrieges. Das haben sie immer alles ausgeblendet. Gleichzeitig haben sie auch einen ungeheuren Druck gemacht auf die junge Generation, die ihnen zu entgleiten drohte. Wir waren mit der Moderne konfrontiert, und wir wollten in die Moderne hinein, weg von diesem Folklorismus und diesen Ritualen der alten Dorfgemeinschaft. Die wollten da nur immer Feste feiern mit Walzer, Polka und ihren alten Trachten. Das wollte ich nicht, ich habe es immer gehaßt. Ich habe in den sechziger Jahren lange Haare getragen, wogegen sie sich dauernd ausgesprochen haben, genau so wie das Regime. Der Dorfpolizist, der Milizmann, wie er in Rumänien hieß, war praktisch in der Frage meiner Haarlänge der selben Meinung gewesen wie meine Landsleute. Die Musik, die ich hörte, hielten sie im Grunde, genau so wie Hitler, für "Negermusik". Es war die Zeit des Beats. Man hörte von den Rolling Stones bis zu Jimmy Hendrix alles. Diese Bewegung, also diese Jugendbewegung der sechziger Jahre, die sich sehr stark im und durch den Beat ausdrückte, die absolut grenzüberschreitend war und weltweit funktionierte und die dann auch politisch geworden ist, der habe ich mich zugehörig gefühlt. Dieses neue Lebensgefühl wollten sie nie und nimmer akzeptieren. Damit waren sie für mich genau so repressiv wie das Regime. Allerdings waren meine Eltern nicht so, die ließen mich tun.

M: Wie kommt jemand wie du dazu, diesen politischen und kulturellen Konservatismus nicht mitzumachen.

W: Ja, ich kann das nicht vollständig erklären. Er hat mich schon sehr früh abgeschreckt. Ich wollte mich da nicht einordnen. Er hatte für mich etwas Militärisches und etwas von Zwang. Und wenn ich mich so frage, was mein eignes Gefühl ist und was mir am wichtigsten ist, und was mir auch früher am wichtigsten war, auch später in meinen Entscheidungen, das war immer die Freiheit, Freiheit nicht politisch gemeint, sondern die Freiheit als Lebensprinzip. Ich wollte frei sein und dieses frei sein war irgendwie sehr früh drin, schon in der Kindheit. Ich habe allerdings auch sehr früh viel gelesen. Es hatte also mit vielen Faktoren zu tun. Auch mit der Stimmung in meiner Familie. Daß da zum Beispiel verschiedene Meinungen waren und Dispute ausgetragen wurden, an denen ich als Kind teilnehmen konnte. Mein Großvater hat seine Meisterwerkstatt eine lange Zeit illegal weiter betrieben. Dort trafen sich die alten Männer und politisierten, wie sie das nannten. Und ich durfte dabei sein, bin also konfrontiert worden mit ziemlich unterschiedlichen Dingen, die jenseits dessen waren, was man so in der Schule erzählt bekam. Diese sehr frühe Distanz zum Dorf und allem, was damit zu tun hatte, kann man auch rein raummäßig beschreiben. Das Haus stand am Rande des Dorfes, und knapp drei Kilometer weiter war ein Fluß. Mein Vater ist als Kind an diesem Fluß aufgewachsen. Er hat den größten Teil seiner Kindheit bei seinen Großeltern verbracht, und die hatten am Anfang des Jahrhunderts dort eine Wassermühle, eine Flußmühle. Später hat meine Großvater dort als Fischer gearbeitet. Mein Vater war sehr an diesen Fluß gebunden und hat mich dann von Kind an dahin gebracht. Ich war mehr am Fluß als im Dorf, und das mag auch ein Grund dafür gewesen sein, daß das Dorf für mich ein fremder Ort gewesen ist. Wenn ich heute irgendwie in diese Gegend komme, fahre ich zum Fluß und nicht ins Dorf.

M: Hast du noch Geschwister?

W: Nein, ich bin ein Einzelkind. Das ist eine Sache, die vielleicht auch eine Rolle spielt, bei diesen Dingen.

M: War es schwer für deine Eltern, als du weggingst?

W: Es war eine Katastrophe, 1987, das war mir auch bewußt. Denn als ich damals ging, konnte man ja auch nicht voraussehen, daß zwei Jahre später die Diktatur in sich zusammenfällt. Als ich mich damals von meinen Eltern verabschiedete, war es eigentlich ein Abschied für immer. Es wurde nicht ausgesprochen, weder ich sagte was, noch sie, aber es war für uns klar, daß wir uns nie wiedersehen würden. Sie blieben zurück. Das war schon eine recht tragische Situation.

M: Und wann hast du sie zum ersten Mal wiedergesehen.

W: Im Januar 1990. Im Dezember 1989 ist Ceauçescu erschossen worden, im Januar 1990 bin ich zum ersten Mal hingefahren, und seitdem bin ich regelmäßig dort.

M: Du hast Germanistik und Rumänistik studiert. Welche Autoren habt ihr gelesen...

W: Ich war eigentlich ein, wie soll ich sagen, ein Selbststudierender an dieser Hochschule, und wenn du mich heute fragst, was wir da offiziell gelernt haben, so muß ich sagen, ich kann mich nicht daran erinnern. Ich war eingeschrieben und bin zu irgendwelchen Vorlesungen und Seminaren gegangen, aber es waren ganz wenige Dinge, die mich wirklich interessiert haben. Das andere habe ich in der Bibliothek gelesen. Es gab nur noch wenige gute Professoren, weil die meisten von den Kommunisten vertrieben worden waren, andere, jüngere, waren ausgewandert. Geblieben waren vor allen Systemkonforme einerseits und recht provinzielle Leute andererseits. Es gab einen, der hatte unter anderem etwas über Brecht gemacht, über die frühe Lyrik. Das war mir sehr wichtig, denn diese Brechtsche Lyrik der zwanziger Jahre hatte auch bei mir eine Rolle gespielt, in meiner Lyrik. Dann habe ich, was mir wichtig war für den sprachtheoretischen Hintergrund meiner Literatur, bei einer Professorin Vorlesungen zur modernen Sprachtheorie gehört. Es gab da in den siebziger Jahren einen sprachtheoretischen Ansatz aus der DDR, und die hat den auf Grund von entsprechenden Standardbücher aus der DDR vorgetragen, was sonst in Rumänien an diesen Hochschulen nicht zu hören war. Da bin ich auf einige Sachen sprachtheoretischer Art gebracht worden, an denen ich selber dann noch weiter arbeiten konnte.

M: Was war das für ein Ansatz.

W: Das war vor allem eine neuere Betrachtung der Grammatik. Von daher war der Weg zur konkreten Poesie nicht allzu weit, obwohl das in den Vorlesungen allein von der Grammatik her behandelt wurde, also nichts mit Literatur zu tun hatte. Mein Interesse an Wittgenstein entsprach dem so ein bißchen, obwohl es so direkt nichts damit zu tun hatte. Ansonsten war das eher eine schlechte Universität.

M: Das war die Universität in Temeswar?

W: Ja. Die Universität an sich war relativ klein. Aber es gab neben der Germanistik schon eine Reihe anderer Fächer. Die Germanistik war eine Art Nische für die deutsche Minderheit. Wenn man sich mit der deutschen Kultur beschäftigte, dann studierte man halt Germanistik, um bei der eigenen Kultur und der eigenen Sprache zu bleiben.

M: Gab es Lektoren aus der Bundesrepublik oder der DDR?

W: Es gab in jener Zeit sogenannte Gastlektoren aus der DDR, die sehr unterschiedlich zu betrachten sind. Einige von ihnen versuchten, sich einzumischen in unsere literarischen Aktivitäten und uns mit DDR-Propaganda nicht nur zu versorgen, sondern auch einzuschüchtern, zum Teil. Zum anderen waren es eindeutig Leute, die aus der DDR irgendwie heraus wollten und in diesem anarchischen Balkanismus Rumäniens sich irgendwie besser einrichteten. Das merkte man denen auch an. Sie gaben uns auch Bücher, zum Beispiel die, die in der DDR bei den Lesern gerade beliebt waren, weil sie kritisch und daher kaum anders als unter der Hand, als “Bückware”, zu bekommen waren. Dann gab es welche, die überhaupt kein Interesse mehr an irgend etwas hatten. Leider muß man sagen, gab es auch solche, die uns angezeigt und für die Stasi gearbeitet haben.

M: Du arbeitest für Radio- und Fehrnsehstationen und außerdem für deutsche Zeitungen. Es scheint mir, daß besonders in deinen letzten Romanen In der Hand der Frauen, Lisas geheimes Buch und Im Grunde sind wir alle Sieger deine Schreibweise einen Teil ihrer Kraft aus der Arbeitsweise der Medien nimmt, zum Beispiel aus der Flächigkeit der visuellen Medien, der Schnelligkeit der Schnitte, dem Stakkato der wechselnden Themen.

W: Ja, ich versuche, die Realitäten von heute zu beschreiben, Probleme heute, Verhaltensweisen von Menschen. Diese drei Romane, die du gerade genannt hast, spielen alle in Berlin, und ich versuche zu verstehen, was wie abläuft in so einer Stadt. Da ist die Frage der Wahrnehmung für mich eine sehr wichtige geworden, auch durch meine Implikation in Medien selber. Es interessiert mich, wie die Leute nicht nur die Realität als Realität wahrnehmen, sondern auch, wie diese Realität vielfach gebrochen wird, wie sie, eigentlich sprachlich, wahrgenommen wird und wie diese Sprache zusammengebaut wird durch die Medien. Auch wie alles gleichwertig wird und wie eine Geschichte ihre unterschiedliche Form bekommt, indem sie durch das Fernsehen zur Kenntnis gebracht wird, durch das Radio, durch die Zeitung und wie sie dabei real wird für die Leute, sich in ihre Alltagswahrnehmungen hineinschiebt, das alles ist für mich von großem Interesse. Insgesamt ergibt das alles eine Wahrnehmungsebene, die gemischt ist, wo die Dinge ihre Konturen verlieren und auch ihre Überprüfbarkeit fragwürdig wird, wo die Sprache, genau wie in der Literatur, eine neue Bedeutung bekommt, eine neue Stärke. Ohne Sprache ist ja nichts mehr denkbar. In einer urbanen Welt ist die Realität ja nicht stumm, sondern sie spricht ununterbrochen. Das Problem ist, daß in einer traditionellen Welt die Wahrnehmung stumm ist. Da ist eine Welt, die schweigt und man spricht in sie hinein, während die urbane Welt zu einem spricht, und sie spricht in ungeheuer falschen Tönen. In der traditionellen Welt da war die Nachtigall oder der Hund irgendwie präsent. Aber wenn man in der urbanen Welt etwas hört, kann das eventuell der Hund gewesen sein, aber er muß es nicht gewesen sein...

M: Vielleicht war es die Tonbandaufnahme von einem bellenden Hund...

W: Ja, es ist alles möglich. ... so daß diese Wahrnehmung völlig verdreht ist. Das ist natürlich ein völlig andere Ansatz für die Literatur. Literatur kann nicht so tun, als ob sie "den Hund erkannt hätte", sondern sie nimmt eine Sprechweisen auf, zitiert sie und verändert sie, verfremdet sie, in dem sie sie in eine literarische Form bringt. Das ist für mich der entscheidende Zusammenhang. Meine Implikation in Medien hat mir dann auch vor Augen geführt, wie verschieden Schreibweisen sein können. Wenn ich einen Kommentar für das Radio schreibe, fang ich ganz anders an, als wenn ich beginne, eine Kurzgeschichte zu schreiben. Man merkt im Gespräch mit den Redakteuren, was denen wichtig ist. Zum Beispiel wollen sie nur kurze Sätze haben, keine Nebensätze und solche Dinge. Das sind nicht nur grammatikalische Fragen, sondern Fragen der Wahrnehmung. Ich neige dazu, die Dinge in Frage zu stellen. Sie möchten das nicht. Sie mögen nicht, daß da Dinge, die behauptet werden, noch mal in Frage gestellt werden in einem Kommentar. Das kann man in einer Glosse schon eher machen, aber man merkt immer, daß diese Rundfunkredakteure sehr zu einfachen Schlüssen neigen. Ein Text kann sehr verschieden sein, und wenn man damit konfrontiert wird, was ein Text alles ist und alles sein kann, dann schreibt man auch als Schriftsteller anders.

M: Ist diese urbane Welt mit ihren verschieden Stimmen, ihren simulierten Stimmen — es ist erstaunlich, wie viele Leute mit den und in den Clichés des Films und der Werbung leben — der Bereich der Freiheit, der dir schon als Kind so wichtig war?

W: Die Stadt war für mich immer das, was ich meinte. Ich wollte nicht das Dorf, sondern die Stadt. Das ist auch heute so. Ich lebe einfach gern in der Stadt. Das hat auch damit zu tun, daß ich dort anonym sein kann. Die Stadt erlaubt Anonymität, und erst die Anonymität erlaubt die Freiheit. Das Dorf ist personalisiert. Das Dorf ist eine Laienspielbühne. Da hat jeder seine Rolle und seinen Text. Jede Freiheit, die man sich im Dorf erlaubt, ist eine Regelverletzung, und sie wird als Regelverletzung betrachtet. Ich will mich diesen Jurys, die das Dorf dirigieren, nicht aussetzten. Mich interessiert es nicht, mich zu rechtfertigen vor irgendwelchen Leuten. Ich will auch nicht als Clown dastehen, der ja im Dorf unter Umständen noch akzeptiert wird. Da sagen die Leute dann: “Der ist verrückt, der ist unser Verrückter.” Wenn dann die Gäste aus dem Nachbardorf kommen, stellt man die Verrückten vor und sagt: “Hier ist unser toller Verrückter.” Das interessiert mich nicht. Ich will einfach nicht gefragt werden, warum ich dies oder jenes tue.

M: Aber geht nicht in dieser urbanen Kakophonie simulierter Stimmen etwas verloren, was vielleicht in der Beschränktheit des Dorfes vorhanden ist, nämlich Authentizität. Ich frag mich, wie man diese Vielfalt mögen kann, wenn sie erkauft wird mit einem Verlust an Authentizität.

W: Was ist Authentizität? Worin besteht die Authentizität im Dorf. Die Leute repräsentieren doch die Schrauben aus dem Ritualgefüge. Also sind sie nicht authentisch, sondern Figuren. Sie meinen authentisch zu sein, weil sie die Natur sehen, wenn sie die Tür aufmachen. Deshalb haben sie fälschlicherweise den Eindruck, sie sind genau so echt wie der Baum, der vor ihnen steht. Das ist wahrscheinlich ein Mißverständnis, von dem die abendländische Kultur seit langer Zeit profitiert. Die Stadt bekennt sich dazu, daß sie künstlich ist. Das ist etwas Geschaffenes. Die im Dorf meinen, sie sind Gottes Geschöpfe, während die Städter diesen Hang haben zu sagen, sie haben alles, was da ist, selber erfunden. Das ist natürlich ein Verlust des Begriffs von Authentizität, der da in der Debatte vorherrscht, bzw. die abendländische Kultur heimsucht. Dieser Begriff sucht ja die abendländische Kultur richtiggehend heim. Es wird immer darauf gezielt, auf diese Authentizität. Ich nehme das Künstliche an, es interessiert mich. Daß ich nach Westberlin gegangen bin, hatte auch damit zu tun. Westberlin war die künstlichste Stadt Europas, künstlicher ging es gar nicht. Ich bedauere es, daß es einen Teil dieser Künstlichkeit nicht mehr gibt. Da habe ich mich wohlgefühlt, weil das alles nicht echt war, weil da die Lüge ausgeräumt war, die in der abendländischen Kultur ist.

M: Welche Themen interessieren Dich?

W: Mir geht es als Schriftsteller nicht nur um meine eigenen Fragen. Es ist ja öfter so bei den deutschen Schriftstellern, daß sie meinen, alles was sie selber bewegt, könnte der Welt helfen. Ich beschäftige mich nach außen hin mit dem, was ich sehe. Wenn ich in einer Stadt wie Berlin lebe, dann frage ich mich, was die Probleme dieser Leute sind, warum sie sich so und nicht anders benehmen? Warum substituieren sie ständig etwas aus diesen künstlichen Welten, die sie sich aneignen? Sie wollen sich überall irgendwo anlehnen, sei es an einer Ideologie. Neuerdings weniger daran, weil das ganze zusammengerumpelt ist. Darum lehnen sie sich an Ikonen an, aus welchem Bereich auch immer. In der gesamten Popindustrie werden ja ununterbrochen Ikonen angeboten; die gesamte Kulturindustrie produziert ständig Ikonen. Warum ist das nötig und warum ist das möglich? Weil die Leute so verunsichert sind in ihrem Ich, weil sie meinen dieses Ich ist irgendwie nicht genügend ausgebildet, eben weil sie diese Wahrnehmungen des Nichtauthentischen haben. Es fehlt ihnen irgendwie das Besondere. Jeder will doch etwas Besonderes sein. Unsere Welt, gerade die westliche Welt, bedient das ja auch, in dem sie jedem einredet, etwas Besonderes zu sein. Dabei sind alle Menschen Serie, schon deshalb, weil sie sich von der gleichen Ikone bedienen lassen. Also wenn alle irgendwie anfangen, sich mit Madonna auseinanderzusetzen, dann ist nicht jeder Madonna-für-sich, sondern jeder nur in der russischen Puppe, sonst gar nichts. Das ist so eine Problematik, die mit der Urbanität immer größer geworden ist. Ein anderer Aspekt dieser Problematik ist das Fehlen oder das Verschwimmen von Hierarchien; das Dorf hat ja klare Hierarchien. Da ist nicht nur das Ritual, sondern das Dorf ist auch hierarchisch zusammengeschraubt. Das Dorf ist eine Überlebensmöglichkeit für eine Gemeinschaft, solange alle ihre Schraubenrolle akzeptieren. Es ist im Grunde das Modell für die Konstruktion der traditionellen Welt. In dem wir heute die Freiheit in den Mittelpunkt gerückt und uns in die Urbanität begeben haben, haben wir diese Konstruktion verlassen. Jetzt ist natürlich alles möglich, aber andererseits sind alle Werte wacklig geworden. Die Schrauben sind in jeder Hinsicht gelockert. Ich schreibe über einen solchen Zustand. Ich will keine Antworten geben, sondern ich verweise auf diesen Zusammenhang, und ich beschreibe das so komödiantisch, wie es mir erscheint.

M: Man kann ja zwei Haltungen zu dieser Situation einnehmen. Man könnte auf der einen Seite sagen: “Toll, dieser Reichtum an Stimmen und an Möglichkeiten. Man könnte aber auch in Schrecken verfallen. Ich habe den Eindruck, daß in deinen Texten unter der Oberfläche der Satire, der Komik und des Humors eine gewisse Melancholie durchscheint.

W: Meine Fragen als Schriftsteller sind existentielle oder sie sind gar nicht. Unterhalb des komödiantischen Diskurses ist natürlich der Abgrund der Existenz. Wenn diese Ebene nicht erkennbar würde, sollte man die Texte wegschmeißen.