glossen: rezension


Marlene Streeruwitz. Nachwelt. Ein Reisebericht. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1999. 399 S.

“Man fährt an einen Ort. Spricht mit Leuten. Sammelt Unterlagen. Entscheidet, was glaubhaft, was nicht. Und dann faßte man alle Informationen zusammen.” Mit diesem Vorhaben ausgerüstet, schickt die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz die Protagonistin ihres neuen Romans Nachwelt im März 1990 auf eine zehntägige Reise nach Los Angeles. Dort soll die Wiener Dramatikerin Margarethe Doblinger Recherchen für eine Biografie über die Bildhauerin Anna Mahler durchführen, um sie aus dem Schattendasein des Vaters, dem Komponisten Gustav Mahler, herauszuholen und ihr die nötige Anerkennung als Künstlerin zu verschaffen. Doch schon bald zeigt sich, daß das Nachzeichnen der Lebensgeschichte eines anderen eine viel komplexere Angelegenheit ist als ursprünglich angenommen. Die Informationen über Anna Mahler, die sie aus den zahlreichen Interviews und Gesprächen mit Bekannten Freunden und Ehemännern erhält, erweisen sich als äußerst widersprüchliche Facetten eines Lebens, die sich nicht in den Rahmen einer “wahrheitsgetreuen”, biografischen Dokumentation pressen lassen. Denn “wer kann schon entscheiden, was wahr ist an diesen Geschichten und was Fiktion?” Zu dieser Erkenntnis gelangt Margarethe gegen Ende des Romans. Erleichtert und glücklich verwirft sie ihren Plan, diese Biografie zu schreiben: “Sie mußte nicht mehr diese vielen Wirklichkeiten in Sätze zwängen. Urteile. Diese Leben anderer ausdeuten. Wie war sie auf die Idee gekommen. So etwas machen zu wollen. Die Idee war auf einmal lächerlich. Das mußten andere machen. Andere, die sich sicherer waren. Sie konnte ja nicht einmal über ihr eigenes Leben Auskunft erteilen.” Auch der starke Wunsch der Exilantin Manon, ihrer Freundin Anna Mahler endlich die ihr gebührliche Anerkennung der Nachwelt (daher auch der Titel des Romans) zukommen zu lassen, kann Margarethe nicht davon überzeugen, diese Biografie doch auf Papier zu bringen.

Was hier vordergründig wie ein Scheitern aussieht, entpuppt sich jedoch als persönliche Lebensbereicherung der Protagonistin. Durch die Konfrontation mit den Erinnerungsfragmenten über Anna Mahler, die sie als starke, nach Unabhängigkeit drängende Persönlichkeit ausweisen, fängt Margarethe an, ihr eigenes Leben zu hinterfragen. Ihre Lebensgeschichte überblendet jene Geschichten über Anna Mahler, die die Autorin als Versatzstücke systematisch in den Text einmontiert. Dadurch entstehen letztendlich biografische Bruchstücke von zwei widersprüchlichen, komplexen und nicht erfaßbaren Frauenleben, die aber auch eines gemeinsam haben: Beide Frauen versuchen, wie Streeruwitz es in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen (1998) formuliert, “die eigene Machart herauszufinden. Und die Konstruktionsgeheimnisse aufzudecken. . . . ohne an dieser Aufdeckung zugrunde zu gehen oder das Weiterleben in eine nicht endenwollende Qual zu verwandeln.”

Margarethes Suche nach ihrer Identität zwingt sie zum Nachdenken über ihr bisheriges Leben und über ihre Liebesbeziehung mit dem in Wien verbliebenen Freund, dem Internisten Helmut. Die innere Nabelschau aus der geographischen Distanz zu Europa stürzt Margarethe jedoch in einen Gefühlswirrwarr, mit dem sie nur schwer zu Rande kommt. Zum einen fühlt sie sich fremd und alleingelassen in der ungewohnten Umgebung von Los Angeles und wartet sehnsüchtig auf Anrufe von Helmut und ihrer geliebten Tochter Friedl. Zum anderen lassen die Erinnerungen an frühere Gespräche, Auseinandersetzungen und Situationen mit Helmut Enttäuschung, Wut und Zweifel an ihrer Liebe aufkeimen. Margarethe wird zusehends klarer, daß sie in dieser Beziehung diejenige ist, die ständig Kompromisse macht, sich nie durchzusetzen vermag, eigentlich gar nicht weiß, was sie will.

Reflexionen dieser Art werden durch Margarethes Eigenwahrnehmungen und durch Wahrnehmungen von ihrer unmittelbaren Umgebung unterbrochen. Körpererfahrungen und psychische Krisenzustände, aber auch minutiöse Beobachtungen und Eindrücke vom kalifornischen Alltag prägen den Erzählcharakter des Romans. Diese Schilderungen erfolgen in einer schmucklosen, nüchternen Sprache ohne psychologische Ausdeutungen. Kurzatmige Sätze im Stakkatostil, mit denen sich Streeruwitz bereits in anderen Romanen wie etwa in Verführungen (1996) und in Lisas Liebe (1997) auszeichnet, werden auch hier konsequent durchgehalten und trotzen jeglichen Harmonisierungswünschen. Mit dieser “Brechung der Welt in ihre beschreibbaren Bestandteile” setzt die Autorin ihre theoretischen Ausführungen der Frankfurter Poetikvorlesungen in die Praxis um: Die Autorenposition wird zur “Rückführung der Komplexität von Sein auf pragmatische Entitäten, die nicht mehr aufeinander reduziert werden können. In der Autorenposition werden diese Entitäten gewichtet. Und. Sie werden einer Anordnung unterworfen, die subjektivere und objektivere Gegenwart konstituiert.” Was aber aufgrund der nüchternen Sprache und des stockenden Redeflusses aussieht wie eine wahllose Anhäufung von Momentaufnahmen, von “Entitäten”, ergibt trotzdem einen intensiven Erzählstrom mit formstrengen Aufbau.

Wie zuvor schon in dem Roman Verführungen erzählt Streeruwitz also auch in diesem Roman von Frauen, die überfordert sind von den gesellschaftlichen Ansprüchen, eine perfekte Mutter, Geliebte, Tochter, Berufstätige zu sein. Der Alltag wird zum Existenzkampf, Beziehungen zu Männern enden im Kampf der Selbstbehauptung, erfüllen aber nicht die Erwartungen der Protagonistinnen. Übrig bleibt: die Sehnsucht nach Liebe. Was jedoch diesen Roman als besonders gelungen auszeichnet, ist die Verschmelzung von Inhalt und Form, durch die Streeruwitz eine äußerst hohe Intensität dualer Spannungsverhältnisse erzeugt, in denen sie Margarethe ihre Lebenserfahrungen machen läßt: zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Europa und Amerika.

Siegrun Wildner
University of Northern Iowa