glossen: aufsätze
Überlegungen zu Formen autobiographischen Schreibens in der östlichen Literatur der neunziger Jahre
Christine Cosentino


Anfang der neunziger Jahre blühten im neuvereinigten Deutschland Formen von nichtfiktiver Literatur, die man im weitesten Sinne des Wortes dem Begriff der Erinnerungsliteratur zuordnen könnte. Dazu gehörte eine Flut von Autobiographien - zumeist Selbststilisierungen mit Verklärungen und Verdrängungen -, ebenfalls Essays, Aufsätze, Interviews, Protokolle, Dokumentationen, Recherchen und Auseinandersetzungen. Im zeitlichen Umfeld des Literaturstreits um Christa Wolf und der Stasi-Debatten übten sich östliche Autoren im Versuch, vorläufige politische Bilanzen zu ziehen. Manchmal betont die Titelwahl einiger dieser Werke bereits, daß der Autor eine Art Schlußwort zu seinem Leben in der DDR zu sprechen gedenkt. Es erschienen u.a. Stefan Heyms abrechnender Lebensrückblick Nachruf (1988), Hermann Kants rechtfertigend eiferndes Erinnerungsbuch Abspann (1991), Günter Herlts Sendeschluß (1992) sowie Heiner Müllers salopp aufs Tonband geplauderte Memoiren Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992). Spezifisch dem Thema der Stasiüberwachung gewidmet waren Erich Loests erinnernde Aufarbeitungen Der Zorn des Schafes (1990), Hans Joachim Schädlichs Essay-Sammlung Aktenkundig (1992), die von Hermann Vinke herausgegebene Dokumentation zu Christa Wolf Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog (1993) oder Jürgen Fuchs’ erst kürzlich erschienene Recherche Magdalena (1998).

Generell reflektierte essayistische Prosa - wie auch immer kontrovers - die Konflikte und Veränderungen in der eigenen Geschichte und in der Geschichte des Landes nach 1989. Andeutungsweise seien folgendende Veröffentlichungen erwähnt: Christa Wolfs Im Dialog (1990) und Auf dem Weg nach Tabou (1994), Stefan Heyms Einmischung (1990) und Filz (1992), Christoph Heins Die fünfte Grundrechenart (1990) und Texte, Daten, Bilder (1990) oder Günter de Bruyns Jubelschreie, Trauergesänge (1994). Es sei dahingestellt, inwieweit diese erinnernden Reflexionen im Zeichen bohrender Gewissensforschung oder wortreicher Rechtfertigung verfaßt wurden. Generell gilt die Bilanz eines Kritikers, der die literarische Ausbeute dieser ersten Jahre folgendermaßen einschätzt: “Die Jahre nach 89 werden in jeder Literaturgeschichte als eine Zeit vielfältig tastender historischer und politischer Selbstbefragung vermerkt.”[1]

Aus der Fülle der Selbsteinschätzungen und Selbstporträts seien im folgenden Formen autobiographischen Schreibens betrachtet. Wie fragwürdig die Wahrheitsannäherung innerhalb eines rückblickenden Lebensberichtes ist und welch subjektiven Faktoren sie sich unterordnet, führt Günter de Bruyn in seinen theoretisch-methodischen Überlegungen zur Autobiographie aus, die er in einem Essayband mit dem Titel Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie (1995) veröffentlichte. De Bruyn, der selbst zwei autobiographische Werke - Zwischenbilanz (1992) und Vierzig Jahre (1996) - verfaßt hatte, untersucht subjektive zeitbezogene Teilwahrheiten in Erinnerungsstrukturen geradezu gnadenlos. Im Versuch skrupelloser Ehrlichkeit will er daher seine eigenen Lebensberichte als nichts anderes als “Lesarten” seines Lebensweges aufgefaßt wissen. Er kommentiert dazu: “Jeder bewußte Mensch, glaube ich, versucht, ein inneres Selbstporträt zu entwerfen; jeder macht sich eine Lesart seines Lebensweges, vielleicht auch seiner Lebenslegende zurecht.”[2] Sind Lebensberichte in der emotional aufgeladenen Atmosphäre der unmittelbaren Postwendezeit entstanden, so ist die subjektive Einfärbung weitaus spürbarer als in Werken, die in zeitlicher Distanz entstanden sind. In einem Zeitraum, in dem politische Ereignisse und Erlebnisse noch nicht zur Historie geworden sind, sieht sich der Schreibende immer der Gefahr ausgesetzt, in gegenwärtige Polemiken verstrickt zu werden, auf Verwundungen und Selbsttäuschungen zu reagieren, Rechtfertigungen zu suchen oder auch bewußt/unbewußt zu verschönen und zu verfälschen. Erinnerungsbücher, die - wie die oben bereits erwähnten - in der unmittelbaren Zeit des politischen Umbruchs entstanden sind, fallen daher häufig der Kategorie schnell verfertigter Rechtfertigungs- oder Anklageliteratur zu.

Ende der neunziger Jahre kam es zu einer neuen Welle autobiographischen Schreibens, die im Zeichen eines größeren zeitlichen Abstands stand. Diese jüngsten Lebensgeschichten sind in verschiedener Form gestaltet: als reine Autobiographie, als fiktiv verpackte Autobiographie oder als diaristisches Schreiben. Präzise Grenzziehungen innerhalb dieses Genres sind kaum möglich. Betrachtet werden sollen Günter de Bruyns Lebensbericht Vierzig Jahre (1996) und die ihm vorausgehende Zwischenbilanz (1992); Monika Marons umfassende Familiengeschichte Pawels Briefe (1999), Fred Wanders Erinnerungen Das gute Leben (1999), Fritz Rudolf Fries’ Tagebuchaufzeichnungen Im Jahr des Hahns (1996) und Christoph Heins autobiographisch verpackter Roman Von allem Anfang an (1997). Von diesen Werken ist keines eine komplette, das ganze Leben umfassende Autobiographie. De Bruyn umreißt in der Zwischenbilanz die Stationen seiner Kindheit in der Weimarer Republik, seiner Jugend in der Nazizeit und seines Erwachsenwerdens beim Beginn der DDR am Anfang der fünfziger Jahre; die Vierzig Jahre sind DDR-Geschichte, wie der Titel angibt. Maron bietet - mit dem Großvater in der Hauptrolle - eine Familienchronik, in die die Enkelin ihre eigene Biographie organisch einzugliedern versucht. Der Österreicher Fred Wander bezieht sich auf den Zeitraum von 1958-1982, d.h. auf die Jahre, die er in der DDR verbracht hatte. Fritz Rudolf Fries beläßt es bei einer sehr begrenzten Anzahl von Jahren, in denen alles für ihn gefährlich in der Schwebe stand, nämlich bei den Jahren 1979, 1984, 1993 und 1995, Jahre, die - laut chinesischem Horoskop - im “Jahr des Hahns” stehen. Hein schildert die Geschichte (s)einer Kindheit in den fünfziger Jahren in der DDR. Alle der hier genannten autobiographischen oder fiktiv-autobiographischen Ich-Sprecher bezeichnen sich selbst oder gehören per Assoziation in das Umfeld eines “Außenseiters”, “Einzelgängers”, “Anderen” oder sogar “Fremden”. Hier sei an Hans Mayers Werk Außenseiter (1975) erinnert, das am Beispiel von Frauen, Homosexuellen und Juden das Problem verachteter Personalisierung in einer fetischisierten Gesellschaft beleuchtet, die allein “quantitativ erhebliche Regelfälle, statt der qualitativen Einzelfälle”[3] anerkennt. Inwieweit diese existentiellen Besonderheiten innerhalb eines Kollektivs in den Fällen von de Bruyn, Maron, Wander, Hein und Fries überzeugen, sei an entsprechender Stelle untersucht.

Um generell die Unterschiede in der Erinnerungsliteratur der hier zu behandelnden Autoren herauszustellen, sei ein kurzer Blick auf Günter de Bruyns Arbeitshypothese geworfen, da diese Maßstäbe für eine Diskussion des Autobiographischen setzt. Eingehend legt er seine Überlegungen in der bereits erwähnten Analyse Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie dar. Er bezieht sich bereits im Titel dieser Abhandlung auf die wohl berühmteste deutsche Autobiographie, Goethes große Konfession Dichtung und Wahrheit. Die Reihenfolge der Goetheschen Begriffe “Dichtung und Wahrheit” abwägend ändernd, scheint de Bruyn zunächst das Gewicht auf “Wahrheit” zu verlagern, auf schonungslose Authentizität, die Goethe in Dichtung und Wahrheit das “kaum Erreichbare” nennt; nolens volens befindet sich der erzählende Autor jedoch sofort wieder im Bereich der Dichtung, Dichtung allerdings nicht im Sinne von “Erfindung, sondern [...] als Verdichten des Geschehenen, als Konzentrieren des Vielfältigen und Zufälligen oder auch als gedankliches Durchdringen oder Deuten” (WD 31). De Bruyn zitiert folgende Ausführung Goethes:

Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der [Auto-]Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht darausgebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne [...] (WD 35).

Wissend um die Zauberkraft des Erzählens, sieht de Bruyn autobiographische Dichtung als “die Fähigkeit, das Vergangene gegenwärtig zu machen, Wesentliches im Sein und Werden zu zeigen, Teilwahrheiten zusammenzufassen zu dem Versuch der ganzen Wahrheit über das schreibende und beschriebene Ich” (WD 32). Dabei geht es ihm vorrangig um die Grundsätze der Schonungslosigkeit, Redlichkeit, Ehrlichkeit, um ständiges Mißtrauen sich selbst gegenüber. “Widersprüche, die sich nicht auflösen wollen”, so folgert er, “sollte man nicht vertuschen, sondern stehen lassen, mit einem Erklärungsversuch vielleicht” (WD 42). Als Chronist seiner selbst betont er drei Stränge im eigenen autobiographischen Schreiben: erstens, die Selbstauseinandersetzung, Selbsterforschung und Selbsterklärung in der Rechenschaftslegung; zweitens, die Einordnung des Ichs in historische Geschehnisse, d.h. “Geschichtsschreibung von unten” (WD 20); drittens, die Formung biographischer Tatsachen zu einem Kunstwerk.

1992 schrieb Günter de Bruyn den ersten Teil seiner Autobiographie, die er Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin[4] nennt. Darauf folgte im Jahre 1996 eine Fortsetzung mit dem Titel Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht[5]. Im ersten, programmatisch wirkenden Paragraphen des ersten Kapitels in der Zwischenbilanz, das er “Geschichtsquellen” nennt, setzt der Autor den Ton, indem er den Leser augenzwinkernd über die Methode seines Autobiographierens informiert. Mit Hilfe von Quellenmaterial - damit meint er zum Beispiel Stammbücher, Tagebücher, Fotos, Postkarten, Briefe, Notizen und Zettel - wird er versuchen, sein Leben unverstellt und unverblümt zu rekonstruieren, wohl wissend, daß absolute Wahrhaftigkeit unmöglich ist und daß das Selbsterlebte im Prozeß des Erzählens poetisch verdichtet, also verändert und erzählbar wird:

Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion. Nachdem ich in Romanen und Erzählungen lange um mein Leben herumgeschrieben habe, versuche ich jetzt, es direkt darzustellen, unverschönt, unüberhöht, unmaskiert. Der berufsmäßige Lügner übt, die Wahrheit zu sagen. Er verspricht, was er sagt, ehrlich zu sagen; alles zu sagen, verspricht er nicht. ( Z 7)

Daß der Versuch eines schonungslosen Rückblicks tatsächlich gelungen war, zeigt sich sowohl im einstimmigen Lob der Kritik als auch in der hohen Auflagezahl der Zwischenbilanz. Das Werk wurde ein literarisches Ereignis. “De Bruyn führt die Genauigkeit des Essays in die Memoirenliteratur ein”, meldet sich ein Kritiker, denn selten habe ein Werk “so detailreich und in solch - versteckter - stilistischer Präzision über den Kleinbürgeralltag in einer Diktatur berichtet”[6], heißt es. “Nirgendwo sonst in der neuen deutschen Literatur [sei] die Nähe von Fakt und Fiktion, die Webstelle, wo Erinnertes in Erfundenes übergeht, so deutlich geworden wie in diesem Buch.”[7] Der Lebensbericht sei “ein großes, doch oft auch schmerzhaft befremdendes Buch”[8], die “Biographie gewordene Bescheidenheit.”[9] Die Erinnerungen würden geradezu “zum klassischen Bestand jener künftigen deutschen Bibliothek” gehören, “die sich im Rückblick vergleichend und unterscheidend mit den beiden deutschen Diktaturen dieses Jahrhunderts beschäftigt.”[10] Deutschlands führender Kritiker, Marcel Reich-Ranicki, tat ein übriges, indem er die “innere Spannung” des Buches lobte, “die in der zeitgenössischen deutschen Literatur nicht sobald ihresgleichen hat.” Er sieht den Erfolg dieser Autobiographie in der Psychologie der “Mittellage” des Chronisten de Bruyn begründet, nämlich darin, daß dieser sich als einen ängstlichen Menschen darstellt, der im Krieg nichts anderes als überleben will, also dem deutschen Publikum eine “Identifikationsfigur” liefert.[11] Günter de Bruyn schien im gerade vereinigten Deutschland das zu werden, was er wohl keineswegs angestrebt hatte: eine Art “Konsensfigur” der Deutschen. “Es besteht der Eindruck”, bilanziert Ulrich Baron, “daß derzeit nach einer neuen, gesamtdeutschen Konsensfigur gesucht wird, einem weisen, nachdenklichen und gerechten Schriftsteller wie de Bruyn eben, den man überall vorzeigen kann.”[12]

Günter de Bruyns Sensibilität eines christlich-pazifistischen Individualisten und seine “Unfähigkeit zum Leben im Kollektiv” (Z 27) prädestinierten ihn sowohl in der Nazizeit als auch in der DDR zum Außenstehenden. Hans Mayers Definition eines Außenseiters als eines Einzelwesens, das sich den Zwängen der Gemeinschaft nicht einordnen kann und will, bestätigt sich bei ihm geradezu klassisch. Nicht nur wurde er wegen seiner katholischen Herkunft im protestantischen Berlin zum introvertierten Außenseiter, auch unter den kritischen Schriftstellern der DDR galt er als skeptischer Einzelgänger, weil er sich nie mit der von oben verordneten Weltanschauung identifiziert hatte. Keiner der hier zu betrachtenden Autoren hat die Verknüpfung der existentiellen Stimmungslagen von Außenseitersein, Fremdheit, Angst, Entfremdung und Schweigen anschaulicher und überzeugender dargestellt als de Bruyn. Die Zwischenbilanz und die Vierzig Jahre sind geradezu durchwuchert von der Programmvokabel “Angst”, und Bekenntnisse wie die folgenden wiederholen sich in mannigfachen Variationen: “Die ganze Kriegszeit, das heißt die ganze Jugend hindurch war mein Aufnahmevermögen von Angst vernebelt und von den Folgen der Pubertät verwirrt. Aus dem Schutz der Familie entlassen, wurde überall Anpassung gefordert, die ich nur äußerlich leisten konnte; innerlich blieb ich der Fremde, der in ständiger Angst vor Entlarvung lebt” (Z 134). Modellhaft für Rebellion gegen fetischisierten Gemeinschaftsgeist blendet der Autor in seiner Schilderung einer Kindheitsepisode die Handlungsweise einer couragierten Tante ein, die in mehrfacher Spiegelung das demonstriert, was er selbst - so gibt er vor - , sein Leben lang nur begrenzt zu leisten vermochte. Er erinnert sich an folgendes: mit seiner schauspielernden katholischen Tante, die im protestantischen Berlin gleich zweifach aus dem bürgerlichen Rahmen fiel, geht das Kind während der Nazizeit zum jüdischen Familienarzt, vor dessen Haus sich SA-Männer postieren. Die Tante, die Angst und Schweigen nicht kennt, gerät in Zorn und rät dem Jungen: “Immer wenn ich mit Uniformierten zu tun bekäme, sollte ich sie nach dem Namen fragen, damit sie an ihre Verantwortlichkeit als Einzelwesen erinnert würden; denn die Anonymität einer gleichförmigen Masse erzeuge Gewissenlosigkeit und Brutalität” (Z 81). De Bruyn hat diesen Rat nicht unbeherzigt gelassen, denn daß er nicht nur pauschal der angepaßte, ängstliche Mitläufer war, sondern durchaus auch Stellung beziehen konnte, bewies er in seinen späteren DDR-Jahren bei der Unterzeichnung der Biermann-Petition und in seiner mutigen öffentlichen Mißbilligung der Zensur.

Das Geflecht von widerwilliger Anpassung, Außenstehen, aber auch Verwurzeltsein im obrigkeitshörigen Preußentum und hierarchisch verhaftetem Katholizismus wird dem Leser ohne jede Entschuldigung oder vorschnelle Erklärung vor Augen gehalten. De Bruyn erzählt es einfach, legt es dar. Er tut es aus dem Abstand der Jahre, beginnt im Jahr 1986, macht - nach kurzer, mit Dokumenten belegter Rekonstruktion der Familiengeschichte - seine Stimmungslagen “einsehbar”[13], also auf diese Weise dem Leser verständlich. Im Wesentlichen handelt es sich in der Zwischenbilanz um die ersten 23 Jahre des 1926 in Berlin geborenen Autors, also um die Zeitspanne zwischen dem Ende der zwanziger und dem Beginn der fünfziger Jahre. Die Stationen sind die folgenden: seine Kindheitserlebnisse während des Niedergangs der Weimarer Republik, die erste Liebe im Schatten der nationalsozialistischen Machtwillkür, dann seine Leiden und Lehren als Flakhelfer, im Arbeitsdienst und als Soldat, dann die Nachkriegszeit, die wenigen Lehrerjahre und das folgende Bibliothekarsstudium in der eben gegründeten DDR. Skizziert wird das Bedrückende in zwei Diktaturen, aber auch das erschreckend Normale im Leben dieses mißbilligend Schweigenden, das für viele Zeitgenossen exemplarisch war. Die Tatsache, daß dieser introvertierte Einzelgänger den Holocaust nur marginal erwähnt, wirkt geradezu wie ein Psychogramm der deutschen Nationalkrankheit im Dritten Reich. Mit schonungsloser Ehrlichkeit registriert de Bruyn das Unbequeme, das man dem eigenen Wohlergehen zuliebe besser unterlassen hatte: “Nie hatte ich von der Ermordung jüdischer Menschen (vielleicht weil ich nie nach ihnen gefragt hatte) auch nur andeutungsweise gehört. [...] Wer keine persönlichen Bekannten unter ihnen hatte, dem kamen sie, als sie ihm aus den Augen waren, auch schnell aus dem Sinn - oder er behielt für sich, was er dachte; denn Mitleid oder gar Sympathie zu zeigen, konnte gefährlich sein” (Z 244-245). Mit diesem Bekenntnis wird ein Stück Lebenserkenntnis transportiert. De Bruyn betreibt “Geschichtsschreibung von unten”, denn das Ich wird in die Geschehnisse der Zeit eingeordnet und historische Erfahrungen und Einsichten werden an kommende Generationen weitergegeben.

Da de Bruyn aus dem Abstand der Jahre schreibt, also “ein Altgewordener rückblickend vom vergangenen Leben erzählt” (WD 51), kommt es zu interessanten Verknüpfungen der Tempi und Erzählperspektiven. Historische Ereignisse und die Prioritäten eines Heranwachsenden, der vorrangig alles in bezug auf die eigene Person wahrnimmt, stehen keinesfalls immer im Einklang, werden vom reflektierenden Autor jedoch in eine erzählerische Ordnung gebracht. “Die eigne Verwobenheit ins Historische, die in der Rückschau interessiert”, sagt de Bruyn, “wurde nur am Rande bemerkt; der ausbleibende Brief der Geliebten konnte wichtiger sein als ein verlorener Krieg” (Z 134). Der reife Autor, für den die Flut der Geschehnisse sich bereits zur Historie geklärt hat, verknüpft daher die Zeitebenen mit entsprechenden Kommentaren:

Historische Details, die dem Zeitgenossen unerheblich waren, können dem Nachgeborenen symptomatisch sein; das kommende große Unheil kündigt sich durch Kleinigkeiten schon an. Die Chronik meines Geburtsjahres ist voll davon, und auch der Tag meiner Geburt zeigt in zwei Ereignissen auch schon die Katastrophentendenz: Göbbels wird zum Gauleiter der NSDAP in Berlin ernannt, und die Reichsbahn und Reichspost führen um Mitternacht die 24-Stunden-Zählung ein [...] Wahn und Präzisionsdenken schreiten gleichzeitig voran. (Z 23)

Diese ständige Knüpfung der Beziehung von Ich und Geschichte ist in der folgenden fortsetzenden Autobiographie Vierzig Jahre weniger augenscheinlich, da hier nicht der unerfahrene Heranwachsende, sondern der an der Zeit Interessierte, bewußt in ihr Agierende berichtet. Der erwachsene Einzelgänger, dem jeglicher Kollektivzwang zutiefst zuwider war, hatte bereits eine Lektion gelernt. Der nächste Band der Lebensbilanz demonstriert, warum sich de Bruyn

die geistige und moralische Mühsal der kommunistischen Utopie hatte ersparen können. [...] Denn formal und methodisch waren die beiden Ideologie-Antipoden sich ähnlich. Fahnen und Marschkolonnen, jubelnde Massen und stereotype Parolen, die Perfidie, Zwang als Freiwilligkeit auszugeben, und die erneute Vergottung eines weisen, allmächtigen Führers erzeugten gleiche psychische Reaktionen, die bei mir als Widerwillen auftraten, vermischt mit Angst. (Z 376)

Doch ergeben sich bei der Rekonstruktion eines Zeitbildes der DDR Gesellschaft notgedrungen ganz andere Probleme, die für alle der hier zu besprechenden Autoren gültig sind. Noch mangelnde Distanz und ein daher nicht selten äußerst subjektiv verstellter Blick können jene sichere souveräne Erzählhaltung beeinträchtigen, die aus dem Abstand der Jahre historisch Bedeutsames vom weniger Bedeutsamen trennt.

Wie in der Zwischenbilanz schreibt de Bruyn auch in den Vierzig Jahren wohltuend ehrlich, selbstkritisch und ironisch, weder anbiedernd noch stilisierend. Die Schonungslosigkeit, die er sich selbst abfordert, besticht. Andererseits ist dieser Lebensbericht nicht frei von “lückenhaftem Erinnern”, also jener Gefährdung der autobiographischen Echtheit, die de Bruyn in Das erzählte Ich durchaus erkennt und analysiert. Der Autor, der sein Privatleben fast völlig ausspart, ist ein scharf beobachtender Chronist des DDR-Alltags und dessen Nischen und Notgemeinschaften. Das Buch ist voll von Berichten über Auseinandersetzungen mit Funktionären, Lektoren und Zensoren, über Freunde wie Christa und Gerhard Wolf, über die perfide Taktik der Sicherheitsorgane (wie die von der Stasi angestrebte Anwerbung de Bruyns, der er nicht genügend widerstanden zu haben glaubt), über de Bruyns “innere Emigration” bis zum Ende der DDR und über seinen Rückzug in die trügerische Idylle einer alten Mühle im Märkischen. De Bruyns Gesamtprojektion wichtiger politischer Zäsuren in der DDR-Geschichte überzeugt jedoch nicht immer und erscheint zeitweilig von persönlichen Motivationen überschattet. Als “patchiness”[14] im Erinnerungsprozeß bezeichnet der englische Germanist Dennis Tate diese Unklarheiten und führt als Beispiele u.a. den ausgesparten Prager Frühling von 1968 und den Optimismus des Tauwetters von 1971 an, Ereignisse, die von persönlichen Krisen im Leben des Autors (wie die eigene nervliche Verfassung und der geistige Verfall der Mutter) verdrängt werden. In einem “Gespräch” im Tagesspiegel von 1996 erklärt de Bruyn diese Lücken mit seiner politischen “Desillusionierung”[15] dem System gegenüber. Zäsuren hatten für ihn nicht den Wichtigkeitsgrad, den andere, ehemals systemgläubige Intellektuelle empfanden. Das hakt in seine Position des Außenseiters ein, der abseits vom öffentlichen Lebens steht. Der Autor, der die SED-Doktrin von den zwei separaten deutschen Kulturen nie geteilt hatte, sah sich von Anfang an als gesamtdeutschen Dichter ohne Ideologie, für den die Auflösung der vertrauten Gesellschaftsordnung später keinen schmerzhaften Riß verursachte. Die Vierzig Jahre sind daher frei von jeglicher Rechtfertigungsgeste, gewähren jedoch nicht immer die Weitergabe historischer Erfahrungen durch eine “Geschichtsschreibung von unten”.

De Bruyn, der anfangs als Dorfschullehrer, dann zehn Jahre im Bibliothekswesen gearbeitet hatte, wurde 1961 freier Schriftsteller, der bis zum Ende der DDR parteilos blieb. Die Staatsorgane begegneten ihm mit Mißtrauen und mußten ihn trotzdem achten: als Akademiemitglied, als Literaturpreisträger, in Ost und West respektierten Autor und als geschätzten Devisenbringer. Die Angst des Einzelgängers vor Anpassung und Auffallen dominieren auch in dieser Autobiographie, machen sie zum Lebensbericht einer “Mittellage”, in der sich “Mitlaufen und Distanzhalten” (VJ 204) die Waage halten. De Bruyn selbst bilanziert über sein Tarnen und Taktieren: “Auf Verlangen von oben in der Öffentlichkeit Erwünschtes zu sagen, habe ich immer vermieden; aber oft habe ich auch geschwiegen, wenn Unerwünschtes hätte gesagt werden müssen” (VJ 222). Diese Mittellage macht auch die sich leitmotivartig durch den Band ziehenden selbstquälerischen Reflexionen über sein Verharren in der DDR durchaus glaubwürdig. Gründe wie Sorge um die greise Mutter werden angeführt, die Liebe zur märkischen Landschaft, die religiös untermauerte Überzeugung, “daß man dort, wo man hingestellt wurde, ausharren muß” (VJ 106), aber auch Angst, in der literarischen großen Welt des Westens nicht bestehen zu können. Kritisch ironisch kommentiert de Bruyn dann auch den Bau der Mauer im Jahre 1961: “Man lebte ruhiger in ihrem Schatten. Man war der Entscheidung, zu fliehen oder zu bleiben, enthoben” (VJ 110).

De Bruyns Vierzig Jahre haben nicht den Umfang der Zwischenbilanz, was man damit erklären könnte, daß sich der Autor der begrenzten zeitlichen Distanz und seines politischen Desinteresses bzw. seiner Desillusionierung in der DDR beim Schreiben bewußt war, Faktoren, die “Geschichtsschreibung von unten“ beeinträchtigen. Was diese fortsetzende Autobiographie trotz der Absenz gewisser historischer Zäsuren dennoch zum zeitpolitischen Dokument macht, ist die eigene Geschichte der Kompromisse, des widerstrebenden Sich-Fügens und halbherzigen Widerstands dieses “unpolitischen” Dichters.

Handelt es sich bei de Bruyn um einen bewußten Akt der Planung seiner beiden Autobiographien, so ist der Anstoß zu Monika Marons Erinnerungsbuch Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte[16] (1999) eher einem Zufall zu verdanken. 1994 fand die Autorin einen Kasten mit Briefen ihres Großvaters aus dem polnischen Getto Belchatow, den seine Tochter, Monika Marons Mutter Hella, ungesichtet auf dem Dachboden verwahrt und vergessen hatte. Für die recherchierende Enkelin beginnt damit nicht nur eine auf Identitätssuche gerichtete Reise in die Vergangenheit, sondern auch eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit Verdrängungen und unerklärbaren Widersprüchen zwischen lückenhaftem Erinnern / völligem Vergessen und de facto existierenden Dokumenten. An Schonungslosigkeit und Aufrichtigkeit steht diese Autobiographie den Werken Günter de Bruyns in nichts nach. Nachdenklich entwickelt Maron Theorien über das Vergessen. Sie kommt zu dem Schluß, daß der, der das Chaos des Vergangenen nicht verträgt, es ins Sinnhafte zurechtbiegt. Mißtrauisch und argwöhnisch sich selbst gegenüber, untersucht sie in der Vernetzung von drei Generationen in ihrer Familie, inwieweit es sich bei ihren eigenen Lebensbilanzen um authentisch Wahrheitsgemäßes handelt oder vielmehr um eine “meinem Alter und Verständnis angepaßte Neuinszenierung meiner Erinnerungen” (PB 167). Reflektierend über die eigenen Gedächtnislücken und die ihrer halbjüdischen Mutter Hella, die die Nazizeit überlebt hat, kommt Maron selbstkritisch zu dem Schluß, daß “Erinnerungen den ständigen Wandel in [m]einem Leben nicht überstehen konnten, weil sie beim Erlernen eines neuen Lebens einfach störten” (PB 167). Gelebtes Leben sei eine zurechtgestutzte “transportable Größe” (PB 166), die man - wie bei einem Umzug - nur mitnehme, wenn sie wichtig und kostbar wäre oder sich einfach nicht vergessen ließe. Mit diesen Überlegungen nähert sie sich der Konzeption Günter de Bruyns, der seine Autobiographie schonungslos als nichts als “Lesart seines Lebensweges, vielleicht auch seine[r] Lebenslegende” (WD 38) verstanden haben will. Kaum verwunderlich wurde Marons Ehrlichkeit sich selbst gegenüber dann auch in Die Zeit als “Ästhetik der Aufrichtigkeit”[17] gewürdigt.

“Erinnerungen haben ihre Zeit” (PB12), beobachtet Monika Maron, eine Einsicht, die einerseits zeitlichen Abstand und Reife in diesem familialen Verständigungsprozeß suggeriert -

Ich mußte bereit sein, den Fortgang der Geschichte, die Verbindung zu mir, das Leben meiner Mutter, einfach nur verstehen zu wollen, als wäre es mein eigenes Leben gewesen (PB13) -,

die andererseits aber auch auf jenen emotionsgeladenen Zeitpunkt unmittelbarer Trauer weist, an dem die 56-Jährige die Briefe des jüdischen Großvaters liest, die direkt auf sie selbst bezogen sind. Diese Briefe sind Vermächtnis und Schreibaufgebot zugleich: “Zeigt niemals dem Kinde, daß es Haß, Neid und Rache gibt. Sie soll ein wertvoller Mensch werden (PB 112) [...] Wenn Monika groß ist, zeigt ihr den Brief und erzählt ihr, wie tief unglücklich ihre Großeltern gerade in den alten Tagen geworden sind. Vielleicht weint sie dann auch eine Träne” (PB 113). Diese Träne, wie auch immer spröde verhalten, spürt der Leser. Mit Fundstücken wie Briefen, Fotos und amtlichen Dokumenten rekonstruiert Maron die Lebernsumstände dreier Generationen in dieser Jahrhundertgeschichte, gibt den vagen Umrissen einer bis dahin nur mündlich überlieferten und daher fragwürdigen Familiengeschichte Kontur und Farbe. Sie arbeitet mit recherchierten Fakten, Suchbildern, gesicherten Spuren, aber auch erdachten Dialogen und vermuteten Gefühlen. Sie interpretiert, spekuliert und versucht, aus vergrößerten Fotodetails, die ihr Sohn Jonas hergestellt hat, Haltungen und Gesten zu lesen. Es handelt sich in diesem vom Verdrängen überschatteten Buch der Brüche und Wechsel um die Generation ihres Großvaters Pawel und seiner Frau Josefa, um ihre vom Kommunismus überzeugte Mutter Hella während der Nazizeit und beim Neuanfang in der DDR, und letztlich um sie selbst, Monika Maron, in ihrem wechselvollen Leben in beiden Teilen Deutschlands.

“Eigentlich hat ja dein Vater mit dem Vergessen angefangen” (PB 109), tröstet Marons Sohn Jonas seine Großmutter Hella auf einer Reise nach Polen, wo die drei mit wenig Erfolg den Spuren von Pawel und Josefa nachgehen. Hella ist über ihre Verdrängungen ihren Eltern gegenüber zutiefst bestürzt. In diesem Erinnerungs-Puzzle, das keinen chronologischen Faden hat, sondern fragmentarisch-bruchstückhaft Einzelbilanzen zu einem Mosaik zusammenfügt, wird damit der Anfang in einer Familienchronik geortet, die eine Tradition des “Andersseins” bzw. der Konventionsbrüche und damit verbundenen Schweigens oder Vergessens - (“Neuanfäng[e] ohne Vergangenheit” [PB 113]) - spiegelt. Pawel war polnischer Jude, der zum Baptistentum konvertierte, ohne seinen Kindern etwas zu erzählen über die orthodoxe Welt, die er verlassen hatte. Später - ein erneuter Bruch mit Konventionen! - trat er der kommunistischen Partei bei. Seine katholische Frau Josefa konvertierte ebenfalls zum Baptistentum. So beginnt eine Familiengeschichte von Umorientierungen und der ihnen entspringenden Widersprüche, die Monika Marons Autobiographie geradezu zu einem klassischen Dokument “biographischer Kontinuität in einem Gewirr von Bruchlinien”[18] machen. Beide, Pawel und Josefa, wanderten nach Deutschland aus, um in Berlin als Schneider ein Auskommen zu finden. Beide wurden unter den Nazis wieder nach Polen ausgewiesen, wo Pawel umgebracht wurde und Josefa am Kummer und an Krebs verstarb. Ihre Kinder überlebten in Deutschland, Hella weitgehend durch die Hilfe eines deutschen Soldaten, Monikas Vater, der ihr durch die Nazizeit hindurch die Treue hielt, nach dem Krieg aber von ihr abgewiesen wurde, denn sie hatte den Kommunisten Karl Maron kennengelernt. In diesem Buch der Widersprüche ist sogar von einem Brief die Rede, in dem Hella ihrem im Getto Belchatow leidenden Vater Pawel stolz vom Eisernen Kreuz berichtet, das Monikas Vater erhalten hatte, eine Episode, an die sie sich später durchaus nicht mehr erinnern kann. Die verständnislose, aber um Verstehen ringende Tochter sieht diesen Verdrängungsakt als eines von vielen Beispielen für die unbewußt/bewußten Versuche der Mutter, die eigene Biographie geradezu gewaltsam ins Glückliche umzubiegen.

Viele Jahre später bekennt sich die Enkelin Monika auf ganz ähnliche Weise wie ihr Großvater zu ihrem “Andersein”. Sie wird zur Abtrünnigen einer anderen Art von Religion: das privilegierte “Bonzenkind” (PB 129), dessen Mutter den späteren DDR-Innenminister Karl Maron geheiratet hatte, löst sich vom Kommunismus, wird in der DDR zur Dissidentin und wechselt in den Westen über:

Einen Glauben oder eine Weltanschauung abzulegen, in denen man erzogen wurde, verlangt mehr als ein gewisses Maß an Mut und Charakterstärke; es erfordert eine andauernde intellektuelle
und emotionale Anstrengung (PB 30-31), [und ...] wenn sich ein erwachsener Mensch trotzdem dazu entschließt, muß ihm die Welt, mit der er bricht - und ich sage das aus Erfahrung -, etwas angetan haben. (PB 31)

Wie im Falle de Bruyns erzeugt die Außenseiterposition Angstgefühle, die die Autorin als einen “Tausendmeterlauf” (PB 169) sieht, den man hinter sich bringen muß, um dieses Gefühl zu besiegen. Es besteht kein Zweifel, daß sich Monika Maron, die den Faden sucht, der ihr Leben mit dem der Vorfahren verbindet, bewußt in die Tradition ihres “Außenseiter” - Großvaters Pawel einreiht, in dem sie den Inbegriff eines gütigen, bewunderswerten Menschen sieht. Sie schreibt:

An meinem Großvater interessierte mich vor allem, was ihn von anderen Menschen, die ich kannte, unterschied; [...] Wir, mein Großvater und ich, weil ich nach ihm und nur nach ihm kam, waren eben ein
bißchen anders, ein bißchen unpraktisch, dafür verträumt und zu spontanen Einfällen neigend, nervös, ein bißchen verrückt. (PB 63)

Nicht von Anfang an war Marons Leben in der DDR vom Anderssein gezeichnet. Ihr Leben war unmittelbar mit der Biographie ihrer kommunistisch verblendeten Mutter und ihres Stiefvaters Karl Maron verbunden. Das Prominentenkind teilte anfangs die Ideologie seiner Eltern, wurde dann aber zur aufmüpfigen Ruhestörerin, deren Aufsässigkeit “vielleicht die Folge ihrer privilegierten Kindheit oder ihrer inneren Kenntnis der Macht war” (PB 170). Sehr wohl erinnert sie sich dann auch an den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, als sie aus der Schule nach Hause kam und dort Männer mit Maschinenpistolen vorfand, die die Machtspitze beschützen mußten. In dem Roman Stille Zeile 6 (1991) porträtiert sie in fiktionaler Form das feindselige Verhältnis der Ich-Sprecherin zu einem führenden Parteifunktionär, hinter dem man den Stiefvater Karl Maron vermuten darf. Pawels Briefe sind auf der Folie des Tochter - Eltern - Verhältnisses u.a. das Psychogramm einer komplizierten und gespannten Mutter-Tochter-Beziehung. Karl Marons Tod im Jahre 1975 markiert jene Zäsur im Leben der Autorin, nach der ihr alles möglich zu sein schien. Sie veröffentlichte ihr erstes Buch Flugasche (1981), das in der DDR verboten und im Westen gedruckt wurde. 1978 trat sie aus der Partei aus: “Mein Feind war längst der eigene Staat, der Feind des ewigen Klassenfeinds, zu dem ich für Hellas Genossen inzwischen selbst gehörte, bis ich es im Januar 1988 endgültig leid war, ein Feind zu sein und einen Feind zu haben” (PB 163). Sie ging in den Westen. Diese Selbstbilanzierung ihrer DDR-Biographie als Desillusionierungsprozeß mit ihrer Entwicklung zum Staatsfeind ist in der Kritik nicht immer wohlwollend rezipiert worden. Auf der Folie von Pawels horrendem Schicksal wirke ihre Lebensgeschichte “schwammig und mutlos”, bestenfalls wie eine “kuriose Episode”[19]. Eine solche Kritik ist unangebracht. In einer Chronik von drei Generationen von “Konvertiten” und Neubeginnern kann nichts aus einem Guß sein, kann nur der Bruch selbst das verbindende Element sein, und zwar mit allen ihn umgebenden Widersprüchen. Will man Maron einen Vorwurf machen, so bezieht dieser sich eher auf das künstlich und forciert wirkende Recherchieren einer Stasi-Episode in ihrem Leben, die 1995 zum Medienereignis aufgebauscht wurde. Marons Bericht darüber wirkt polemisierend. Sie hatte nach 1975 kurz Kontakt mit der Hauptverwaltung Aufklärung gehabt, die Markus Wolf unterstand. Schuldig geworden ist sie nicht. Wenn sie am Ende des Buches seitenweise verkrampft über diese Episode berichtet, die im größeren Handlungsrahmen wenig signifikant ist, zeigt sich ein emotionales Verstricktsein im Sensationsrummel, das das Setzen persönlicher und geschichtlicher Schwerpunkte im vierzigjährigen Bestehen der DDR beeinflußt. Günter de Bruyn hatte in Wahrheit und Dichtung auf die Gefahren der mangelnden Distanz in emotional eingefärbter Rechtfertigungsakrobatik hingewiesen.

Wie wenig zeitliche Distanz jedoch im Angesicht von Horrendem und Trauma bedeutet, ja bedeuten muß, zeigt Fred Wanders biographische Rückschau Das gute Leben. Erinnerungen[20] (1996/1999). Wander, ein 1917 in Wien geborener jüdischer Schriftsteller, überstand das Exil in der Schweiz und in Frankreich, dann die Vernichtungslager Auschwitz und Buchenwald. Seine Familie wurde, mit Ausnahme eines Bruders, Opfer des Holocausts. Fassungslosigkeit, Unruhe und erhöhte Sensibilität prägen den Lebensstil dieses unbehausten Überlebenden, der nach Kriegsende seinen Namen Fred Rosenblatt zu dem vieldeutigen, ahasverisch klingenden Künstlernamen “Fred Wander” änderte. Noch Ende der neunziger Jahre reflektiert er: “Die Vergangenheit ist nicht vergangen” (GL 300). Das Exil wird zur Lebensform in dieser Biographie, zu einem Unterwegssein von Ort zu Ort, u.a. an den “Stützpunkt DDR” (GL 251), wo er 27 Jahre weilte. Geradezu klassisch paßt auf diesen Schriftsteller bzw. diesen unruhig reisenden Journalisten, Reporter und Fotografen die Mayersche Definition der Außenseiter der Gesellschaft, die sich nicht einordnen können und die die Gesellschaft nicht einordnen will. Kaum verwunderlich findet sich diese Programmvokabel in mannigfachen Variationen in Wanders Lebensbericht erwähnt. Selbsteinschätzungen wie Außenseiter, Einzelgänger, Anderer, Emigrant, Ausländer, Gast oder Fremder in gesellschaftlichen, auch privaten Bereichen, und das damit assoziierte psychische Symptom der Angst dominieren in dieser Rückschau. Ob in Österreich, in der Schweiz, in Frankreich oder in der DDR, generell zieht Wander für sich selbst den übergreifenden Schluß: “Ich blieb Ausländer, blieb Emigrant, fühlte mich als Gast in diesem Land und innerlich unbeteiligt. [...] Ich gehörte nicht dazu, nicht da und nicht dort!” (GL 124).
Fred Wander präsentiert ein Buch nachdenklicher, nach wie vor verständnisloser Ratlosigkeit, ein - wie ein Kritiker meint - “durchaus unvollkommenes Buch”[21]. Es ist ein unfertiges Dokument des “unabgeklärten”[22] Blicks, das von emotional, auch politisch eingefärbten Wiederholungen geradezu birst und auch die chronikalische Ebene ständig mißachtet. Düstere Erinnerungen behindern den Schreibprozeß. Häufig bricht der Berichtende ab, macht Gedankensprünge oder wartet mit Zitaten auf, anstatt selbst zu reflektieren oder zu interpretieren. An Stelle nüchterner Punkte am Ende so manchen Satzes findet der Leser auffällig häufig pathetisch und zugleich fassungslos wirkende Ausrufungszeichen: “Die faschistische Vichy-Regierung Frankreichs hat mehr als 80 000 Juden an die Nazis ausgeliefert!” (GL 68). Aber auch an stark subjektiv eingefärbten Pauschalurteilen fehlt es nicht: “Und ich habe in all den Jahren in der DDR nie antisemitische Äußerungen gehört. Ein Jude zu sein war völlig nebensächlich!” (GL 122). Wie konfus und komplex die “Judenfrage” in der DDR der fünfziger und anfänglichen sechziger Jahre nun allerdings wirklich war, mußte Wander bekannt gewesen sein, denn eine Einheit zwischen politischer Theorie und publizistischer Praxis in Sachen “Juden” gab es nicht.[23] Was Wanders Buch trotzdem so ungemein lesenswert macht, ist der Gestus des “Trotzdem”, ein ungebrochener Lebenswille, der letztlich auch Wanders Illusion über die DDR und ihre “im Sozialismus schlummernden großen menschlichen Potentiale” (GL 354) erklärt. In seinem Nachdenken über das Erinnern heißt es ja richtungweisend: “Wie arbeitet das Gedächtnis? Erinnerung kann tödlich sein, wenn sie dich ungeschützt überwältigt und bis an die Grenze des Wahnsinns treibt [...] Wir treffen eine geheime Wahl, wenn wir uns erinnern, du kannst das unbewußte Wertsystem einer Person ermessen, wenn du ihre Erinnerungen hörst” (GL 288). Fred Wanders Wertsystem ist an der Suche nach einem menschlich wertvollen Leben orientiert, und rund zwei Drittel seines Unterwegsseins gelten der Zwischenstation DDR. In ihr sah der Autor, der wie viele in der Nazizeit Verfolgte 1947 in die Kommunistische Partei (Österreichs) eingetreten war, einen Garanten des Antifaschismus. “Links bedeutete einfach, Antifaschist zu sein!” (GL 101) resümiert er. In der DDR glaubte er den Boden gefunden zu haben für jenes - laut Henry Miller - “gute Leben” (GL 174), das er auch in mannigfacher Zitatmontage als “wahres Leben” (Walt Whitman, GL 246, 248), “wirkliches Leben” (Henry Thoreau, GL 214) oder “intensives Leben” (Tennessee Williams und William Soroyan, GL 25) preist, d.h. die Fähigkeit zur intensiven Wahrnehmung auch des kleinsten Glücks, der Freude und des Genusses an einfachen Dingen.

Dem Leser wird auffallen, daß es diesem mit Briefen, Tagebüchern und Zitaten durchsetzten Lebensbericht des heute 83-jährigen Fred Wander am biographischen Bogen fehlt, der gewöhnlich Autobiographien auszeichnet. Über Kindheit und Jugend in Wien wird nur kursorisch berichtet, eine Tatsache, die Wander lapidar erklärt: “Ich besitze keinerlei Aufzeichnungen aus früheren Jahren oder Tagebücher, wie einige der glücklicheren Autoren” (GL 32). Allerdings erfährt der Leser auch kaum etwas über die Zeit nach 1982, als Wander die DDR wieder verließ und nach Wien übersiedelte. Das Wort Autobiographie trifft somit nur im weitesten Sinne zu. Mit Recht hatte ja Wander seine Rückblicke im Untertitel seines Werkes selbst nur als “Erinnerungen” bezeichnet. Von denen sind rund ein Drittel dem Exil und den Leidensjahren in Konzentrationslagern gewidmet. 1938 hatte der beruflose, jedoch am Schreiben interessierte junge Mann Österreich in Richtung Paris verlassen, und hier beginnt das Buch. Nach der Kollaboration der Vichy Regierung mit den Nazis folgten Jahre in Internierungslagern, dann seine Flucht in die Schweiz und von hier aus seine Auslieferung an die Nazis, dann die Deportation nach Auschwitz und Buchenwald. In seiner 1971 mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichneten Erzählung Der siebente Brunnen versucht Wander, diese Zeit der Fassungslosigkeit und des Überlebens in Worte zu fassen. Nach Kriegsende lebte er wieder in Wien im Land der nazistischen Lebenslüge und des Vergessens, bis die österreichischen Genossen ihn 1958 als Stipendiaten ans renommierte Literatur-Institut “Johannes R. Becher” nach Leipzig schickten. Der mit dem Privileg eines österreichischen Passes ausgestattete Beruflose begann als Verfolgter des Naziregimes eine von der DDR-Regierung geförderte literarische Karriere. Er faßte Fuß in der Prominentennische Kleinmachnow bei Berlin. Die rund zwei Drittel der Erinnerungen gelten - unterbrochen von begeisterten Reiseberichten über Paris und Korsika - dem “Experiment DDR”, das er einerseits heftig kritisiert, dem er andererseits jedoch nahesteht und von dem er sich nicht lösen kann. Der privilegierte Außerseiter sucht Utopia und verfällt nicht selten dem damit verbundenen Widerspruch der Realitätsverweigerung:

Und diese eigenartige exotische Atmosphäre, die dieses zweideutige Land für mich immer hatte [...] Vielleicht jener paradoxe Zustand aus Entfremdung, politischem Druck, Angst und Harmlosigkeit, und daß dieses Land - bei allen schweren Fehlern des Systems - auch eine Art Naturschutzpark bedeutete. Eine Hoffnung für Leute, die fest an eine humanistische Idee glaubten, auch wenn deren Erfüllung noch weit entfernt lag! (GL 222)

Über die DDR selbst, politische Ereignisse und Machtstrukturen erfährt der Leser allerdings recht wenig. Der unruhig suchende Autor findet temporär einen Anker am Literatur-Institut in Leipzig und in Freundschaften mit u.a. Erich Loest, Ralph Giordano, Adolf Endler und Gotthold Gloger. Er berichtet Anekdotisches über Vorlesungen, Schriftstellerkollegen, Funktionäre und Schriftstellerkongresse. Später, nach der Übersiedlung nach Berlin, entwickeln sich andere Freundschaften (darunter mit Christa und Gerhard Wolf) im Vorort Kleinmachnow - unter den Nazis “bereits eine Bonzensiedlung” (GL 163) - oder im Schriftstellererholungsheim am Schwielowsee. Im Zentrum dieses fünfundzwanzig Jahre dauernden Aufenthaltes an der DDR-”Zwischenstation” steht jedoch weitgehend seine Ehe mit der “Austro-Marxistin” und Schriftstellerin Maxie Wander, die 1977 44jährig an Krebs starb. Von den Erlebnissen der beiden ist die Rede, ihren Gesprächen, Zweifeln und Hoffnungen der DDR gegenüber, ihren literarischen Erfolgen, besonders Maxies Frauenprotokollen Guten Morgen, du Schöne (1977). Fred Wander gab später Tagebuchaufzeichnungen und Briefe seiner verstorbenen Frau unter dem Titel Leben wär’ eine prima Alternative (1980) heraus, von denen einige auch in seinem Lebensbericht integriert sind. An aufrüttelnden politischen Ereignissen werden im wesentlichen zwei Ereignisse erwähnt: einmal der Bau der Mauer 1961, die nur drei Meter entfernt vom Haus der Wanders errichtet wurde, eine Tatsache, die zu immer wieder neuen Reflexionen führt: “Und wenn ich mich heute frage, warum wir weitere sieben Jahre dort ausgeharrt haben, bis zum Tod unserer Tochter Kitty - dann finde ich keine vernünftige Antwort” (GL 170). Zum anderen ist vom Einmarsch der Sowjettruppen in Prag (1968) die Rede, “für Hunderttausende Parteimitglieder in der Welt ein Grund, aus der Partei hinauszumarschieren! Auch wir beendeten unsere Parteimitgliedschaft [...], blieben aber noch in der DDR - ein Dilemma!” (GL 200).

Fred Wanders ganzer Lebensbericht ist Ausdruck dieses Dilemmas. Ein vom Trauma gezeichnetes suchendes Ich glaubte Antworten gefunden zu haben, die es als fragwürdig verworfen hatte, die es aber trotzdem - fast zwanghaft - nicht preisgeben wollte. Was blieb und bleibt, ist letztlich der künstlerische Prozeß, diesen Zwiespalt mit größtmöglicher Ehrlichkeit aufs Papier zu bannen. Wander ist sich des Prekären der Wahrheitsvermittlung in seiner spezifischen Situation durchaus bewußt:

Schreib also die Wahrheit! Aber was ist die Wahrheit, was heißt das, ein authentischer Lebensbericht? Eine fotografisch genaue Abbildung der Vergangenheit kann es nicht geben, weil ja auch die Fotografie zur Lüge mißbraucht werden kann [...] Es kommt nicht darauf an, mit Akribie die Dinge des Lebens zu beschreiben, sondern auf die Gestaltung und die magische Wirkung, die dem Künstler nicht bewußt ist! Auf intellektuelle und moralische Kraft kommt es an, auf verborgene Zusammenhänge und tiefere Wahrheit. (GL 280)

Wander liefert somit in seinem Statement selbst den Schlüssel dafür, daß seine DDR-Memoiren von einem tragisch zu nennenden Widerspruch gezeichnet sind, der weder durch Reden noch durch Schreiben aufhebbar ist.

Emotionale Einfärbung einer ganz anderen Art findet man in Fritz Rudolf Fries’ Tagebüchern Im Jahr des Hahns[24] (1996), denn auch Diaristisches ist dem Autobiographischen zuzuordnen, wenn auch in einem weitaus begrenzteren Sinne. Tagebücher seien - kommentiert Walter Hinck - “Blitzaufnahmen für Autobiographien. Was der Roman in die Fiktion entrückt und die Autobiographie aus distanzierter Überschau relativiert, ist im Tagebuch noch ganz ohne Korrektiv. Das Tagebuch ist die Prosa der Unmittelbarkeit schlechthin und vielleicht auch die Prosa mit dem geringsten Spielraum für Ironie”[25]. Allerdings wird dieser Gestus der Unmittelbarkeit höchst fragwürdig, wenn ein Autor sein Tagebuch der Öffentlichkeit vorstellt und Information somit gefiltert wird. Fritz Rudolf Fries weiß es, denn am 2. November 1993 berichtet er in seinem eigenen Diarium über die amerikanischen Tagebücher Christa Wolfs folgendes: “Zwischen den Zeilen glimmt die Lunte aus dem Aktenmaterial. Was ist gewollt, was ist spontan in diesem Text, frage ich in der Diskussion - als wüßte ich nicht, daß derlei Aufzeichnungen niemals so unschuldig sein können wie der junge Tag” (H 148). Somit dient die Tagebuchform, die idealerweise der Gewissensforschung und der Aufhebung von Widersprüchen im Verfasser dienen könnte, in Fries’ Falle dem diametral entgegengesetzten Zweck selbstgerechter Polemik, denn auch bei ihm geistert das Thema des Stasi Aktenmaterials durch die Aufzeichnungen. Nirgendwo begegnet der Leser der distanzierenden feinen Ironie, die Fries’ frühere literarische Produktion ausgezeichnet hatte, eher ihrem Gegenteil: nervöser Sprunghaftigkeit und Fahrigkeit. Das aus vier völlig unausgewogenen Teilen bestehende Tagebuch, das die Jahre 1979 (16 Seiten) , 1984 (eine Seite) , 1993 (Seiten 25-163) und 1995 (Seiten 194-246) umfaßt, wirkt fragmentarisch, unausgegoren und ressentimentgeladen. Das “Fehlen eines inneren Zusammenhanges” - so meldet sich ein Kritiker - spiegele “vielleicht auch etwas von der Unsicherheit wider, in der sich dieser Schriftsteller seit 1989 befindet”[26].

In der Tat handelt es sich bei Fries’ Tagebüchern um die peinlich wirkende Rechtfertigungsakrobatik eines renommierten und literarisch international geschätzten Autors, der von 1972 bis zum Untergang der DDR als IM “Pedro Hagen” mit der Stasi kollaboriert hatte, dieses aber zu verharmlosen versucht. Das Jahr 1972 wird im Tagebuch explizit erwähnt:

Anstatt dieses Land durch Arbeit zu stabilisieren und durch Erfolge attraktiv zu machen, haben sie [die Stasi] schlechte Szenarien entworfen - und Leute wie mich dafür interessiert, geleimt genötigt, und gezwungen, Rollen in diesem Schmierentheater zu übernehmen. Der Mief jener Jahre weht mich an - warum haben wir das Land nicht 1972 verlassen? Warum nicht? (H 232)

Fries’ Notate in den Tagebüchern sind genau das, was eine Autobiographie nicht sein sollte. Mit der immer wieder auftauchenden begriffsverwirrenden Behauptung, daß Opfer und Täter nicht zu unterscheiden seien, liefert er de facto selbst ein Beispiel für seine Erkenntnis, daß Erinnern Fälschung bedeute: “Jedes Erinnern ist ein Zurechtlegen, ein Interpretieren, ein Ergänzen und Weglügen” (H 27). Bereits der redliche, sich fest an die Kriterien schonungsloser Selbstkritik haltende de Bruyn hatte ja in seinen Überlegungen zur Autobiographie gewarnt: “Ich habe wenig Vertrauen in mein Gedächtnis, und selbst Tagebucheintragungen sind mir verdächtig geworden, da ich in diesem Zusammenhang merkte, daß sie nicht nur, was verständlich ist, vorsichtig abgefaßt wurden, sondern auch so, daß sie mich selbst schonten” (WD 46-47). Statt sich mit der DDR und der eigenen Rolle in diesem Staat schonungslos auseinanderzusetzen, bedient sich Fries nach seiner Enttarnung als Stasi-Informant einer neuen Tarnung, jetzt mit dem Decknamen “Opfer”. Entsprechend gleicht sein erinnerndes Diarium dann auch - wie ein Kritiker meint - “einem Tarnnetz: Auf den ersten Blick geschickt geknüpft aus einigen festen Wahrheitsknoten, aber auch Unwahrheiten, Verdrehungen und Leerstellen”.[27] Was erhellende historische Memoirenliteratur über tragisches, auch bewußt strategisches Verstricktsein mit dem Geheimdienst hätte werden können, gerinnt somit - laut Manfred Jäger - “zu einem hochneurotische[n] Konglomerat aus Trotz, Rechtfertigung, Aggression und vager Anerkennung von Schuld”[28]. Verbohrt und uneinsichtig hatte Fries in einer 1996 parallel zum Diarium veröffentlichten Stellungnahme im Neuen Deutschland selbst verkündigt: “Asche aufs Haupt und ein Gang nach Canossa? Ich habe Besseres zu tun”[29]. Warum er dann seine vom Stasi-Thema durchwucherten Notate überhaupt veröffentlicht hat, ist wenig ersichtlich. Will man Fries glauben, so spiegeln seine Tagebücher eine Art Neuorientierung in der neuen Literaturszene des vereinigten Deutschland, denn in einem Gespräch äußert er sich folgendermaßen: “Für mich bedarf es an Neuorientierung, um als Prosaautor überhaupt wieder auftreten zu können. Und so ist das Tagebuch eine Zwischenlösung, um den Weg zu bauen vom Nichtschreiben zu einem künftigen Buch”[30].

Fries, der mütterlicherseits spanischer Herkunft ist, war zu DDR - Zeiten ein durchaus geschätzter, mit vielen Literaturpreisen bedachter Prosaautor, Essayist, Übersetzer und Herausgeber spanischer and lateinamerikanischer Literatur in der deutsch-deutschen Literaturszene. Seine Bücher sind nach seiner Enttarnung - man sollte dessen eingedenk sein - qualitätsmäßig keinesweg besser oder schlechter geworden. Er wurde 1935 im baskischen Bilbao geboren, wo er - zweisprachig aufwachsend - die ersten sieben Jahre verbrachte. Dann zog die Familie nach Deutschland. 1966 veröffentlichte er seinen berühmten picaresken Roman Der Weg nach Oobliadooh, der in der DDR nicht erscheinen durfte und im Suhrkamp Verlag gedruckt wurde. Das hatte zur Folge, daß er seine Assistentenstelle an der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften verlor. Zum Systemgegner wurde er deshalb jedoch nicht. Seinen schelmen- und schalkhaften Romanhelden ähnlich, schlängelte und lavierte der gewitzte Humorist sich durch die Kulturszene der DDR. Seine späteren Romane Das Luft-Schiff (1974), Alexanders neue Welten (1983) und Verlegung eines mittleren Reichs (1984) wurden alle in der DDR veröffentlicht und verschafften dem Autor Anerkennung und Prestige. Begriff sich dieser zweisprachige Autor, der eine Art Grenzgänger zwischen der deutschen und der spanischen Kultur war, als Außenseiter? Weist etwa die gewiefte Schlitzohrigkeit und das Abseitsstehen seiner Schelmenfiguren - dieses Gemisch von Picaro, Harlekin und Schwejk - darauf hin? Fries scheint es so zu sehen, denn in zahlreichen Anspielungen macht er darauf aufmerksam, “wie begrenzt mein Umgang mit hiesigen Autoren war” (H 115). Er stilisiert sich geradezu zum Andersdenkenden: “Ich denke, daß meine spanische Gesinnung mit seiner jüdischen harmoniert” (H 190), oder er bemüht sich, seine Wahlverwandtschaft mit dem westlichen Kollegen Hans Christoph Buch herauszustellen: “Auf literarischem Felde sind wir beide gleichermaßen verkannte Autoren - er mit seinen karibischen Romanen ein Fremder im eigenen Land” (H 194). Was jedoch auch immer die Meinung dieses selbststilisierten Außenseiters mit Doppelexistenz sein mag, sein fester Standort war die DDR.

Worüber berichtet nun Fries in seinem Tagebuch, dieser Kunstform unmittelbarer Reaktionen auf Erlebnisse? Die Notate aus dem Jahr 1993 bilden das Kernstück der Reflexionen, eingerahmt von kürzeren Stücken aus den Jahren 1979, 1984 und 1995, wobei letzteres das Jahr der Akteneinsicht ist. Wo sich der Autor kritisch mit seiner Lebenssituation und den neuen Verhältnissen hätte auseinandersetzen können, schweigt er sich aus oder macht nur vage Andeutungen, ungerecht sowohl sich selbst auch vielen Schriftstellerkollegen und Zeitumständen gegenüber. Über den Schriftsteller Hans Joachim Walther, der in seinem Buch Sicherheitsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik (1996) Einblick in die Stasi-Akten ostdeutscher Autoren gab, äußert er sich geradezu gehässig:

J.W. kündigt mir, wenn nicht die Hölle, so doch das Fegefeuer an, wenn sein Buch über die Akten erscheint. Ich habe weder vor, die Rolle des Sünders noch des Opfers zu spielen. In der Opfer-Rolle sähen sie sich gern, und auch wenn es den Tatsachen entspräche - für diese Saubermänner nicht. Wenn es wenigstens Leute von literarischem Format wären. (H 170)

Das Ablehnen einer sogenannten “Selbst-Inquisition” (H 100) - wie Fries es nennt - führt zu dem Resultat, daß sein Tagebuch weitgehend über Klatsch und Anekdotenhaftes aus dem DDR-Alltag berichtet, über szenische Abrisse der gerade in Arbeit befindlichen Romane und Hörspiele, über Gedanken zur Musik- und Filmkultur, Reisen, Lesungen, Schriftstellerkongresse, Querelen mit Kollegen sowie Lektüreerlebnisse. Das Tagebuch quillt geradezu über von Familienangelegenheiten, die von geringem Interesse sind, und von Namen, die niemand kennt. Das bewußte Aussparen zeitgeschichtlich wichtiger Ereignisse spricht für sich selbst. Hier und da gibt es aber vage Andeutungen. 1976 etwa unterschrieb Fries die Petition gegen die Ausbürgerung Biermanns, nahm danach jedoch die Unterschrift modifizierend zurück. Fries, der seit 1972 Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit hatte, wartete dann allerdings im Jahre 1982 mit einer ganz anderen Unterschrift auf, diesmal für die Stasi. Dieses Verstricktsein verdient Beachtung, geben die vielen Hinweise auf den Geheimdienst doch Aufschluß darüber, wie so mancher Informant sich einbildete, die Stasi täuschen bzw. die Kontrolle über die gegebenen und verweigerten Informationen behalten zu können. In diesem Sinne ist Fries geradezu eine Fallstudie.

Fries’ Kollaboration garantierte ihm devisenausgestattete Reisen nach Spanien, Mexiko, in die USA oder die Bundesrepublik, über die er dem Geheimdienst berichtete und in dessen Interesse er auch handelte. Solches geschah etwa beim PEN-Kongreß in Caracas im Jahre 1983, wo er im Auftrag der Stasi gegen die Aufhebung des Hausarrestes gegen den Physiker und Schriftsteller Sacharow stimmte. Fries, der sich als kritischer Schriftsteller begriff und es in vieler Hinsicht auch war, führt Gründe für seine Zusammenarbeit mit der Stasi an, die nicht überraschen, denn sie wurden nicht selten auch von anderen belasteten Autoren geäußert. Dem Literaturkritiker Dieter Schlenstedt, der ihn am 2. November 1993 fragte, ob er ihn in seiner Funktion als Präsident des PEN-Clubs Ost ablösen wolle, sagte er folgendes:

Ich erzählte ihm, daß auch mich Akten belasten, in die ich hineingeraten bin, ebenso unschuldig wie schuldig, und daß ich nicht daran denke, meine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen, solange einigen Leuten nicht einleuchtet, daß eine kritische Literatur auf Dauer nicht zu haben war ohne eine besondere Strategie, die von Autor zu Autor gewiß anders war. (H 148)

Es sei dahingestellt, inwieweit Fries das selbst glaubte und ob er wirklich überzeugt war, daß er - schlitzohrig wie seine literarischen Figuren - kritische Strategien im DDR-Staat entwickelt hatte, mit denen er die Stasi überlisten konnte. Seinem ehemaligen Führungsoffizier gegenüber gab er sich jedenfalls, will man dem Tagebuch glauben, überlegen: “G. zum Tee [...] Höflich erinnere ich ihn daran, ihn so oft ich konnte aufs Glatteis geführt zu haben” (H 114-115). Befremdlich, bizarr und zynisch wirken andere, sehr freundliche Bemerkungen über diesen Major der Staatssicherheit, der jetzt im vereinigten Deutschland mit alten Seilschaften Küchenmöbel für eine westdeutsche Firma verkauft:

Große Zuneigung. Auch heute kann ich ihm nicht verübeln, über Jahre von ihm unter falschen Vorgaben ausgehorcht worden zu sein. Anhand seiner Person sollte ich das andere Bild des bösen Tschekisten aufschreiben - keiner würde mir glauben. Für Leute wie J. W. enthüllte diese Sympathieerklärung die Perfidie der Firma, sich ihre Opfer hörig zu machen. (H 203)

Diese Schuldzuweisung sagt so einiges über Fries selbst aus. Als ein “wucherndes Pilzgeflecht”[31] bezeichnet Manfred Jäger das Stasi-Thema in Fries’ Rückschau auf die zwei Jahre in der DDR und die darauf folgendenden zwei Jahre im neuvereinigten Deutschland. Diese Art von Polemik genügt nicht den Anforderungen der Autobiographie. Hier sei noch einmal der skrupellos ehrliche Günter de Bruyn zitiert, der Fries’ Buch wegen des späteren Veröffentlichungsdatums nicht kennen konnte, es aber unwillentlich bereits im Jahre 1995 in Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie für die Kunstform einer echten Erinnerungsliteratur disqualifiziert hatte: Schlechtes Erzählen bietet für Echtheit keine Gewähr.

Die rechtfertigenden oder anklagenden Erinnerungsbücher, von denen besonders viele in Zeiten politischer Umbrüche geschrieben werden, bieten, wie wir jetzt im östlichen Deutschland merken, für die Unfähigkeit, Geschehenes gegenwärtig zu machen, für absichtvolle Auslassungen, für Selbsttäuschungen und gekonnte Unehrlichkeit genügend Anschauungsmaterial. (WD 41-42)

Nicht direkt zur Autobiographie gehörend, aber mit ihr doch verwandt, sind autobiographische Romane oder Erzählungen, in denen die Bestandteile eines Lebens nicht mehr dem Autor selbst gehören, sondern einer maskierten fiktiven Kunstfigur, die jedoch vom Autoren-Ich nicht zu trennen ist. Man denkt sofort an Christa Wolfs Kindheitsmuster. Auch in Christoph Heins 1997 veröffentlichen Erzählungen Von allem Anfang an[32] ist das der Fall, eine Art Chronologie aus den fünfziger Jahren der DDR, die aus der Sicht des dreizehnjährigen Jungen Daniel/Christoph Hein erzählt wird. Da Erlebte wird also nur indirekt von der Warte der Distanz und des historischen Wissens eines reifen Autors geschildert. Vordergründig hat der Leser es mit dem Unwissen und dem Verwirrtsein eines Teenagers zu tun, der berichtet, wie er die Welt sieht. Die beeindruckende literarische Textur dieses Werkes liegt also in einem unaufdringlichen und schmiegsamen Verschlungensein zweier Erzählperspektiven, die dem kindlichen Wahrnehmungsvermögen keine Gewalt antut.

Das aus neun Episoden bestehende Werk hat eine kreisförmige Struktur. Es beginnt und endet mit ähnlichen Situationen: wie vorher sein älterer Bruder, übersiedelt Daniel nach Westberlin, weil er an der Oberschule seiner kleinen Stadt nicht studieren darf, denn er ist Pastorensohn. Am Anfang wie am Ende der Handlung trifft Daniel Lucie, eine in politischer Anpassung und Opportunismus geübte, trotzdem fanatisch katholische Klassenkameradin, die ihn schon einmal bespitzelt und verraten hatte. Da er daraus eine Lektion gelernt hat, sagt er ihr nichts von der bevorstehenden Flucht. Damit setzt Hein “von allem Anfang an” den Ton freundlicher Verlogenheit, bedenkenlosen Mitmachens und notwendigen Selbstschutzes. Die nun folgenden episodischen Miniaturen sind Rückblicke des Dreizehnjährigen auf Vergangenes, auf Erlebnisse, Freundschaften und politische Begebenheiten, die zeittypisch für die DDR der fünfziger Jahre waren. Als “Bruchstücke der Erinnerung” (A 11) bezeichnet der Rückblickende seine Geschichten und deren lockere Aufeinanderfolge. Den kindlichen Blickwinkel auf der Folie der historischen Erfahrung des Erwachsenen erklärt er folgendermaßen:

Wenn ich noch länger warte, stirbt noch der eine oder der andere, der mir dies und das berichten und berichtigen kann. Deshalb habe ich einfach begonnen und werde versuchen, die Lücken zu füllen
mit dem, was ich erlebt, und mit dem, was ich gesehen, aber nicht verstanden habe. Mit dem, was ich gehört habe, aber was mir nicht erzählt wurde. Und mit dem was vor meinen Augen geschah und was ich dennoch nicht sah. Damals.
(A 101-11)

Kindliches Sehen, Berichten, Lücken füllen - das sind Schlüsselbegriffe der Erzählhaltung. Aus ihnen erklärt sich das Lose, Lockere, Fragmentarische der aneinandergereihten Miniaturen, die um den “Außenseiter” Daniel kreisen, der vieles mit Hein gemeinsam hat, und doch Kunstfigur bleibt. Worin bestehen die Gemeinsamkeiten?

Beide - Autor und literarische Figur - kommen aus Schlesien, wo Christoph Hein 1944 in Heinzendorf im heutigen Polen geboren wurde. Beide flüchteten mit ihren Familien nach Deutschland und lebten in einer sächsischen Kleinstadt. Beide sind Pastorensöhne. Wie der fiktive Daniel mußte auch Hein sein Abitur in Westberlin machen, weil ihm seine soziale Herkunft in der atheistischen DDR zum Hindernis wurde. Die Erzählung Von allem Anfang an endet 1956 mit dem niedergeschlagenen Aufstand in Ungarn und Daniels Übersiedlung in den Westen. Hein dagegen kehrte 1961 in die DDR zurück, gelangte mit Mühe an die Universität und arbeitete dann als Dramaturg am Theater. Später wurde er ein kritischer Schriftsteller, der mit schlichtem Chronistentonfall schonungslos den DDR-Alltag schilderte. Seine in der DDR spielende Novelle Der fremde Freund (1982; die westliche Ausgabe unter dem Titel Drachenblut) und die Romane Horns Ende (1985) und Der Tangospieler (1989) geben darüber Aufschluß. Spielen Gefühle eines Außenseiterseins in Heins neuem Werk Von allem Anfang an eine Rolle? Man darf es vermuten, denn beide, Autor und Kunstfigur, waren Flüchtlinge aus Schlesien und kamen von “draußen”, gehörten also nicht so ganz dazu, schon gar nicht als Pastorensöhne. Als solche wurden sie von der ideologisch indoktrinierten Bevölkerung einer sich säkularisierenden Gesellschaft nicht so recht ernst genommen, manchmal sogar feindselig behandelt. Auch das Gymnasium im Westen war eine spezifische Bildungsstätte für Ostdeutsche, wo sich der Ostler als Außenseiter betrachten mußte. Die Berichte des fiktiven Daniel enden mit seiner Übersiedlung in den Westen. Heins reale Biographie dagegen - in der fiktiven Autobiographie abgebrochen - ist voll von fortwährenden Problemen und bitteren Erfahrungen mit seinem Staat. Man denke an seine Schwierigkeiten, zum Studium angenommen zu werden, an seine Jobs als Kellner, Montagearbeiter, Journalist, bis ihm dann endlich der Sprung an die Universität gelang. Nach der Wende von 1989 machte dieser kritische Chronist dann folgende Beobachtung: “Als Schriftsteller in diesem Land haben wir eine Chance, die es weltweit ganz selten gibt: daß man in seiner kurzen Lebenszeit zwei Leben führen kann. Die alten Themen habe ich noch; jetzt kommen noch neue hinzu.”[33] Nach dem mißglückten Roman Das Napoleon-Spiel (1993) schien es jedoch, als sei ihm sein für ihn typisches Thema - die DDR mit ihren Untergangssymptomen - abhanden gekommen. Mit der fiktiv verkleideten Autobiographie Von allem Anfang an, die Persönliches und Historisches mischt, gelingt Hein dann allerdings doch der Übergang zum von ihm angekündigten “neuen” Thema. Der Kulturschock, den auch das fiktive Kind Daniel in der Erzählung beim ersten Besuch im Westen erlebt, scheint für den Autor selbst vorbei zu sein. Somit wirkt der aus zeitlicher Distanz vorgenommene Rückblick locker, ist bei aller Berücksichtigung der sozialen Benachteiligungen, die Daniel/Hein erlebt haben, vorrangig die Geschichte einer Kindheit und Jugend.

Hein registriert in seiner Erzählung trocken und nüchtern, liefert aber gerade damit in geschickter Form eine unvoreingenommene, inventarisierende “Geschichtsschreibung von unten”, denn aus der naiven Sicht des Ich-Erzählers Daniel zeichnet sich neben Pubertätserlebnissen und maskiert autobiographischen Erlebnissen des Autors auch die Aktualität der sich gerade etablierenden DDR ab. Der Zeitzeuge Hein, der sich zur DDR-Zeit durch mutige Zensur- und Systemkritik hervorgetan hatte, ist auch in diesen Kindheitsgeschichten ein unbestechlicher “Chronist, der mit großer Genauigkeit aufzeichnet was er gesehen hat”[34]. Die heimelige kleinbürgerliche Normalität in der Provinzstadt der fünfziger Jahre zeigt bereits erschreckende, historisch bekannte Seiten. Indoktrination in der Schule, Verrat unter Freunden, Denunziantentum und gemütlicher Opportunismus halten wieder Einzug. Pastoren predigen in fast leeren Kirchen. Ihre Kinder werden diskriminiert und dürfen trotz bester Leistungen nicht die Oberschule besuchen. Der Großvater, ein erfahrener und effizienter Verwalter eines staatlichen DDR-Gutes, verliert seine Stellung, weil er nicht in die Partei eintreten will. In Westberlin beim Besuch des Bruders am 4. November 1956 registriert das Kind Daniel dann die politisch-ideologischen Unterschiede - die Ost-Version und West-Version - in der Berichterstattung über den Ungarn-Aufstand. Auf einem Lichterlaufband auf dem Kurfürstendamm erweist sich alles als ganz “anders” und im Gegensatz zu dem, was Daniel, “der politisch unreife Schüler” (A 194), in der Schule der DDR gelernt hat, nämlich: “daß die Volksmacht den faschistischen Angriff abgewehrt und die Ruhe wiederhergestellt habe” (A 194). Registriert wird allerdings auf dem Kurfürstendamm auch die verwirrende Vielfalt des Westens, die Gleichgültigkeit der Passanten, die lässige Ungerührtheit und der Materialismus des Westlers, die den jungen Beobachter aus der sozialistischen Provinz beeindrucken:

Auch die Passanten blickten nur selten zu den Meldungen hoch. Sie sahen sich die Auslagen der Geschäfte an, musterten eindringlich die hinter den Glasscheiben sitzenden Gäste des Cafes und schauten sich unbefangen an. Die Gelassenheit beeindruckte mich [...] Da ich mir nicht vorstellen konnte, dass diese Nachrichten für sie ohne Bedeutung waren, erschien mir ihr Verhalten ein Ausdruck der Großstadt zu sein. Nur wenn man vom Leben einer Weltstadt geprägt war, konnte man sich selbst bei den schlimmsten Schreckensmeldungen so lässig und ungerührt geben. (A 185)

Hier spricht das Kind der fünfziger Jahre. Dahinter jedoch hört man deutlich die Stimme des reifen Autors aus den neunziger Jahren, der in diesem Rückblick Probleme des Ostlers in der Überflußgesellschaft des wiedervereinigten Deutschland thematisiert. 1996 hatte er ja in dem Essay “Abstand, Distanz und Nähe” nüchtern und illusionslos über die Schwierigkeiten des Abbaus eingefahrener Denkmuster und Allgemeinplätze in den unterschiedlich sozialisierten Deutschen reflektiert: “Wir werden noch eine sehr lange Zeit in einem und mit einem geteilten Deutschland leben müssen, aber eine Vereinigung und damit auch eine Einheit wird - wie langwierig dieser Prozeß auch sein wird - kommen. Es gibt keine Alternative zu diesem langsamen Entstehen eines geeinten Deutschland”[35].

Heins fiktiv verpackte Autobiographie, die sich auf den engen Zeitraum der fünfziger Jahre beschränkt, unterscheidet sich in vielem von den oben besprochenen Werken. Der Autor schreibt weder aus dem Geiste einer Polemik noch versucht er, die Spuren einer Vita minutiös zu sichern. Auch der für de Bruyn so wichtige Aspekt bewußt angestrebter, klar erkennbarer Selbstauseinandersetzung des erfahrenen Autors fehlt. Um “keine Selbsttherapie zur Klärung der eigenen Identität”[36] handele es sich hier, bilanziert Peter von Matt. Hein hält nicht Gericht, und trotzdem gelingt es ihm, unter Beibehaltung autobiographischer Züge eine “Geschichtsschreibung von unten” zu vermitteln. Eingebettet darin ist allerdings ganz schlicht und einfach die überregionale, durchaus durchschnittliche und - trotz politisch unterschiedlicher Gegebenheiten - gar nicht ungewöhnliche Geschichte einer Kindheit und Jugend.

Das Stimmenensemble in den oben besprochenen autobiographischen Werken macht deutlich, daß der untergegangene DDR-Staat als literarisches Thema auch weiterhin fortwirkt. In dieser vom Wesen her immer - mehr oder weniger - subjektiv eingefärbten Gattung vermischen sich nüchterne geschichtliche Fakten und die durchaus nicht immer nüchternen persönlichen Erinnerungen an diese Fakten. Trotzdem hat sich der Ton in dieser autobiographischen Literatur aus dem Abstand der Jahre geändert. Er ist - sieht sich der Autor keiner Konfliktsituation oder Polemik ausgesetzt - lockerer, gelassener, objektiver geworden. Ostdeutsche Autoren legen im Prozeß einer Selbstbefragung Rechenschaft ab: über sich selbst, ihre Kunst, ihre Rolle im untergegangenen DDR-Staat. Sie erkennen Fehler, Schwächen, auch Freundliches und Positives. Sie akzeptieren die Vergangenheit mit kritischer Heiterkeit und größerem Selbstbewußtsein. Nicht die schlechteste Form von Vergangenheitsbewältigung!


Anmerkungen


[1]. Isenschmid, Andreas, “Literatur nach der ‘Wende’ - die Situation im Westen,” Neue deutsche Literatur 41, 8 (1993): 173.

[2]. Günter de Bruyn, Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. (Frankfurt/M.: Fischer, 1995) 38. Im folgenden abgekürzt mit WD.

[3]. Hans Mayer, Außenseiter (Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch, 1981) 464.

[4]. Günter de Bruyn, Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. (Frankfurt/M.: Fischer, 1992). Im folgenden abgekürzt mit Z. Zitiert wird nach der Fischer Taschenbuchausgabe von 1997.

[5]. Günter de Bruyn, Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht (Frankfurt/M.: Fischer, 1996). Abgekürzt mit VJ. Im folgenden zitiert nach der Fischer Taschenbuchausgabe von 1998.

[6]. Richard Reichensperger, “Meine Kindheit war wie ein chronisches Fieber,” Der Standard 10. März 1992.

[7]. Ludwig Harig, “Ein Erzähler übt, die Wahrheit zu sagen. Günter de Bruyns autobiographisches Werk ‘Zwischenbilanz’ lädt zum Gespräch über Literatur ein, “Süddeutsche Zeitung 7./8. März 1992.

[8]. Andreas Isenschmid, “Bekenntnisse eines Unpolitischen. Günter de Bruyns Leben in den Diktaturen,” Die Zeit 27. März 1992.

[9]. Martin Oehlen, “Klagen nicht erwünscht. Günter de Bruyn legt seine behutsame Autobiographie ‘Zwischenbilanz’ vor,” Kölner Stadt-Anzeiger 28. Februar 1992.

[10]. Andreas Isenschmid, “Bekenntnisse eines Unpolitischen: Günter de Bruyns Leben in den Diktaturen”

[11]. Marcel Reich-Ranicki, “Deutsche Mittellage. Günter de Bruyns ‘Zwischenbilanz’,” FAZ 18. April 1992.

[12]. Ulrich Baron, Rheinischer Merkur 3. April 1992.

[13]. Hannes Hansen, “Training im Ich-Sagen. Eine Autobiographie und ihr Autor: Günter de Bruyn in Kiel,” Kieler Nachrichten 11. März 1992.

[14]. Dennis Tate, “Günter de Bruyn: The ‘gesamtdeutsche Konsensfigur’ of post-unification literature?” German Life and Letters (Special East German Number) L, 2 (April 1997): 210.

[15]. Tilman Krause, “Was stört Sie im Westen am meisten, Herr de Bruyn?” Der Tagesspiegel 27. August 1996.

[16]. Monika Maron, Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte (Frankfurt/M.: S. Fischer. 1999). Im folgenden abgekürzt mit der Sigle “PB”.

[17]. Iris Radisch, “Tausendmeterlauf des Lebens. Monika Maron schuldet ihrem Großvater etwas und reist in die Vergangenheit,” Die Zeit 31. März 1999.

[18]. Holger Noltze, “Monika Maron: Pawels Briefe,” Sendemanuskript Hörfunk, Westdeutscher Rundfunk Köln, gesendet am 20. März 1999.

[19]. Thomas Kraft, “Vergessen erinnern. Monika Maron: Auf Spurensuche in der Familiengeschichte,” ndl 47, 3 (1999): 167.

[20]. Fred Wander, Das gute Leben. Erinnerungen (München: Hanser, 1996). Zitiert wird nach dem Fischer Taschenbuch (Frankfurt/M.: Fischer, 1999) mit der Sigle “GL”.

[21]. Ulrich Weinzierl, “Unterwegs mit leichtem Gepäck. Die Memoiren Fred Wanders,” FAZ 3. Dezember 1996.

[22]. Cornelia Geißler, “Unabgeklärter Blick auf dieses Jahrhundert. Fred Wander: Das gute Leben. Erinnerungen,” Berliner Zeitung 1. Oktober 1996.

[23]. Paul O’Doherty, “Die Judenfrage in der DDR: Über die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis,” Monatshefte 92, 1 (Spring 2000): 74-75.

[24]. Fritz Rudolf Fries, Im Jahr des Hahns. Tagebücher (Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1996). Abgekürzt mit der Sigle “H.”

[25]. Walter Hinck, “Das ist der Pfennig, wo ist die Mark. Von Bilanzen, Tribunalen und Zweifeln an den Träumen - Die Tagebücher des Fritz Rudolf Fries,” FAZ 20. April 1996.

[26]. Wolf Scheller, “Verlaufen im Wald der Vergangenheit. Fritz Rudolf Fries und seine Tagebücher,” Rhein-Neckar-Zeitung 11./12. Mai 1996.

[27]. Ulrich Schacht, “F. R. Fries - Beispiel einer traurigen Doppel-Existenz,” Welt am Sonntag 12. Mai 1996.

[28]. Manfred Jäger, “Fritz Rudolf Fries - IM ‘Pedro Hagen’,” Deutschland Archiv 3 (1996): 347.

[29]. Fritz Rudolf Fries, “Asche aufs Haupt und ein Gang nach Canossa?” Neues Deutschland 27./28. April 1996.

[30]. Erdmute Klein. “Literatur als Art innerer Protest. ‘Im Jahr des Hahns’: Gespräch mit Tagebuch-Autor Fritz Rudolf Fries,” Münchner Merkur 9. April 1996.

[31]. Manfred Jäger, “Fritz Rudolf Fries - IM ‘Pedro Hagen’,” Deutschland Archiv 3: 347

[32]. Christoph Hein, Von allem Anfang an, 5. Auflage (Berlin: Aufbau Verlag, 1998). Abgekürzt mir der Sigle “A”.

[33]. Hein, “Die alten Themen habe ich noch, jetzt kommen neue dazu. Gespräch mit Sigrid Löffler (März 1990),” Christoph Hein. Texte. Daten. Bilder, hs. v. Lothar Baier (Frankfurt/M.: Luchterhand, 1990) 39.

[34]. Hein, “Die alten Themen habe ich noch,” 38.

[35]. Hein, “Abstand, Distanz und Nähe,” Die Mauern von Jericho. Essais und Reden (Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1996) 110.

[36]. Peter von Matt, “Fort mit der Taschenguillotine. Christoph Hein schreibt ein Meisterwerk nicht nur der Tantenkunde,” FAZ 14. Oktober 1997.