glossen: anmerkungen


Günter Gaus und der Mythos

In einem persönlichen Rückblick (Süddeutsche Zeitung vom 15. 1. 2000) auf die Geschichte seines Amerikabildes von den ersten Nachkriegsjahren gefüllt mit AFN, Pulverkaffee, Kaugummi und Amizigaretten bis zu den Phantomschmerzen eines ihm während des Vietnamkrieges scheinbar entschwundenden USA-Mythos, versteigt sich Gaus zu einem noblen Ressentiment gegenüber seinem ehemaligen Traumland, das einen glauben macht, daß sich dem ehemaligen Ständige Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin und jetzigem Herausgeber der Wochenschrift Freitag die verabschiedet geglaubten Mythen noch immer als Positivfolie vor die daher als um so schlimmer empfundene amerikanische Wirklichkeit schieben. So erscheinen ihm als beklagenswerte Fakten, “daß nennenswerte Teile der amerikanischen Bevölkerung als Halbnomaden leben“, daß die amerikanische Gesellschaft im Gegensatz zu der Europas auf dem Sozialdarwinismus beruht und daß sich die sozialen Probleme in den USA verschärften, schließlich habe er bei einem seiner letzten Besuche in den USA “einen Obdachlosen auf dem warmen Abluftschacht eines Hotels in einer Kleinstadt schlafen sehen”.

Nun mag es von Reinbek, dem Wohnort von Günter Gaus, aus gesehen als unzivilisiert erscheinen, in einem Wohnmobil durch das Land zu ziehen, doch läßt sich bezweifeln, ob diese Meinung von den als “Halbnomaden” Verunglimpften geteilt würde — man fragt sich, mit welchem Schimpfwort Gaus wohl “Ganznomaden” belegen würde. Zweifellos gibt es viel Armut in den Vereinigten Staaten, doch gibt es gleichzeitig ein soziales Netz. Dieses soziale Netz ist anders gewebt als in Deutschland und von Staat zu Staat und sogar von County zu County verschieden, so daß es in Europa oft nicht sichtbar wird. Ein feinmaschiges Netz? Zu oft nicht. Allerdings gehört schon eine ganze Menge Verblendung dazu, von Sozialdarwinismus zu sprechen. Auch irrt er mit Bezug auf die sozialen Spannungen. Wer die diesbezüglichen Statistiken der letzten Jahre gelesen hat, muß zu dem Schluß kommen, daß nicht nur die Reichen und Ultrareichen in den Clintonjahren profitiert haben, sondern auch die unteren Schichten der Bevölkerung -- weiß Gott zu wenig, und ob es so bleibt, ist noch die Frage. Doch im Vergleich mit den sechziger und siebziger Jahren nimmt sich die gegenwärtige Lage eher ruhig aus. Man hat den Eindruck, dass es Gaus nicht um Fakten geht, sondern um die Begründung eines deutschen bildungsbürgerlichen Antiamerikanismus.

Statt die Erfolge und Mißerfolge der Vereinigten Staaten an den Bedingungen und Problemen dieses Landes zu messen, mißt sie Gaus an seinem noch immer vorhandenen Mythos und wird ungerecht. Er suchte das Paradies und wurde enttäuscht -- recht geschah ihm. Wenn er sich nun wenigstens oberflächlich auch von der Relativierung des Stalinismus verabschieden und vom Mythos des östlichen, wissenschaftlichen Sozialismus ent-täuschen würde, könnte man bei ihm zumindest von einer Symmetrie der Ernüchterung sprechen. Allerdings stünde als deren Konsequenz dann eventuell die falsche, ressentimentgeladene Einsicht von der Wünschbarkeit des deutschen Sonderweges, und das wäre dann doch zu gefährlich, hatten wir auch schon einmal.

W. M.