glossen: interview
Gisela Holfter im Gespräch mit Sten Nadolny

G.H.: Ich möchte anfangen mit der Gefahr, die Deiner Meinung nach in den guten Absichten liegt, „egal ob sozialkritisch oder unterhaltsamer Art"- das Thema der Münchener Poetikvorlesung. Was hat es mit diesen guten Absichten auf sich?

S.N.: Es gibt einfach eine ganze Menge Störsender, die eine Geschichte daran hindern, eine gute Geschichte zu werden oder gut erzählt zu werden. Und das sind überhaupt Absichten, alle Absichten, die außerhalb des Erzählens der Geschichte liegen und noch etwas mittransportieren wollen, z. B. Belehrung, z. B. Bearbeitung eines Themas. Man könnte fast sagen, es gibt einen Angriff der Themen auf die Literatur. Es gibt ja auch genügend Abnehmer, leider. Wenn sich Literatur verbiegt und komische Dinge liefert, dann oft, weil diese komischen Dinge bestellt worden sind, z. B. von Leuten, die bei einem Roman nur als Auswerter tätig sind und feststellen: „Von welchem Thema handelt der Roman?" Figuren völlig egal, alles nur Transportfahrzeuge. „Welches Thema bearbeitet der Roman, und welche Thesen lassen sich aus ihm entnehmen?" Vielen Dank! Das war eine der Sachen, die mich damals ärgerlich gemacht hatten – und immer wieder, wenn sie auftauchen, ärgerlich machen - und die ich mit dieser Vorlesung ein bißchen angreifen wollte. Gute Absichten sind natürlich auch die der moralischen Belehrung, zu zeigen, wie man es nicht machen soll oder, wie man es machen soll, Lebenshilfe, und derlei mehr. Der Zeigefinger ist das gemeinsame Kennzeichen. Zum Beispiel will jemand eine Geschichte schreiben und läßt sich zu sehr beeinflussen davon, was die Leute wohl erwarten werden und was sie möglicherweise schreiben könnten darüber. Wenn er sich da verbiegt, tut er genau das nicht, was Schiller gemeint hat, nämlich sich seines eigenen Verstandes, setze hinzu Herzens, Empfindens, seiner eigenen Liebe, Liebesfähigkeit zu bedienen, oder besser all dem gerecht zu werden. Das tut er nicht, sondern klebt an irgendwelchen Vorlagen, was ihm gar nichts nützt, weil es zu viele Vorlagen und zu viele Imperative gibt, irgendwelche verletzt er doch.

G.H.: Wie paßt dann dazu, daß nach Deiner Meinung die große, die wirkliche Botschaft des Erzählens sei, daß jemand etwas in eigener Regie beginnt, sich selbständig macht von anderen. Also auch der Mut zur eigenen Sicht und zur schöpferischen Produktion. Den individuellen Weg zu suchen, ist das nicht irgendwo auch eine gute Absicht?

S.N.: Nein, ich finde das nicht. Das ist ja eben nichts von außen Nahegelegtes oder Aufgezwungenes. „Gute Absichten", das sind die, die von außen kommen, die von anderen für gut befunden werden und die man deshalb nicht außer Acht zu lassen wagt. Man selber zu sein, in sich selber reinzuhorchen, die eigenen Erinnerungen oder Assoziationen sehr sorgfältig zu prüfen, anzuschauen und nach Gusto, nach ganz eigenem Gusto zu entscheiden, was man eigentlich gerne schreiben möchte, gerne erzählen möchte, das hat mit der Absicht im genannten Sinne nichts zu tun. Also gut, man könnte ja sagen, wenn jemand leben will, ist das eine „gute Absicht". Aber da würde es Unfug!

G.H.: Na gut. Was heißt, "das Erzählen ist spielerisch, manchmal denksportartig und einladend zu immer neuen Interpretationen"? Ich glaube, das paßt gut dazu.

S.N.: Das ist für mich nur ein bestimmtes Erzählen. Der Satz stammt, glaube ich, aus dem Zusammenhang, wo ich gesagt habe, es gibt andere, die wollen die großen Gurus sein und nicht verschiedene Interpretationen zulassen. Das ist aber nicht mein Fall. Ich mag es gerne, wenn verschiedene Interpretationen möglich sind und wenn gespielt werden kann. Deswegen schreibe ich natürlich auch ganz gerne so, daß man sagen kann, es könnte so sein, es kann aber auch noch anders sein. Das muß man ja erstmal zulassen. Ich muß es beim Schreiben schon auf mehrere Interpretationen angelegt haben.

G.H.: Bei Ole Reuter in der Netzkarte und bei John Franklin und bei Selim und Alexander, denke ich, findet man überall dieses 'Seinen-Eigenen-Weg-Finden‘ und Risiken-Eingehen, auch wenn alle anderen denken, da ist kein Weg, seinen Weg trotzdem suchen, auch wenn es nicht modern ist. Wo ist das in Er oder Ich? Ist das da?

S.N.: Da scheitert das einfach. Der Mann schafft es eben nicht. Er wäre gerne ein Individuum von Format geworden, war in vieler Hinsicht dahin auf dem Wege, ist aber wohl im falschen Beruf gelandet, und verschiedene Dinge sind ihm zu leicht gefallen. Er hat keine Möglichkeit, an einem Werk zu wachsen. Er ist kein Schriftsteller, eher ein „Großkritiker" (lacht). Er ist ein ganz besonders großer Kritiker, der nach außen hin magnatenhaft-mächtig auftritt, aber im Inneren klein ist. Ole Reuter fühlt sich trotz seines Karriereerfolgs und seiner Prominenz usw., oder gerade deswegen, hohl und unzureichend. Das ist eigentlich das einzig Sympathische an ihm, daß er es merkt, daß er merkt, daß er nichts ist. Er ist nicht dumm genug, um zu glauben, er sei was ganz Tolles. Er schimpft zwar ständig auf alle Leute um ihn herum, aber das ist so ein Sport, der seine zwei Seiten hat. Wer das tut, schimpft immer über sich selber, und das tut Ole Reuter vor allen Dingen. Manchmal geht er ja auch direkt dazu über das über sich selber zu sagen. Niemand bezichtigt sich selber direkt gern (‘Ich bin ein Versager!’). Er läßt dann einen Engel reden, oder einen Passanten. Er malt sich aus, was andere über ihn sagen, und da stecken die schlimmen Wahrheiten über seine eigene Person drin. Im Grunde ist auch Ole Reuter einer, der unterwegs ist in Richtung eines glücklichen Lebens und in Richtung einer großen Statur. Das hätte er werden können wie John Franklin, auf andere Weise natürlich. Die Begabung ist da. Er hätte mit anderen Vorzeichen etwas Großartiges werden können, aber da ist jetzt eben mal die andere Ecke ausgeleuchtet: Es muß nicht immer klappen.

G.H.: Ole Reuter ist der Erzähler in Er oder Ich?

S.N.: Ole Reuter ist der Erzähler, ja. Aber kein Berufserzähler, er will ja gar kein schönes Buch schreiben, keine schöne Geschichte erzählen, sondern ist nur notgedrungen dadurch Erzähler, daß er wie ein Verzweifelter alles aufschreibt. Er glaubt, es könne ihn retten, wenn er sogar das Unbegriffene, das nicht Einzuordnende, das Rätselhafte aufschreibt, und zwar in verschiedenen Rollen. Wenn er es per ‘er’ nicht schafft, versucht er es per ‘ich’. Wenn er es per Teufel nicht schafft, versucht er es per Engel. Er steht mit dem Rücken an der Wand, versucht da rauszukommen, und das ergibt die verschiedenen Textsorten. Insofern ist er nicht Autor eines Romans, sondern Textlieferant, der Autor ist natürlich doch Nadolny, der die Texte zusammenstellt. Es war bei Netzkarte auch so, daß der Autor Nadolny, der Kollege N, der „immer weiß, was er will", daraus einen Roman macht. Er stellt alles so zusammen, daß es einen Anfang und einen Schluß gibt, Nadolny kann das. Aber das Leiden, das Erleben ist nicht seine Sache.

G.H.: Ole Reuters Beziehung zu seiner Frau wird von Dir sehr positiv geschildert – trotzdem geht er fremd. Hermes trauert in Gott der Frechheit am Ende Athene nach – Paarbeziehungen scheinen bei Dir öfters noch Fragen offen zu lassen … ?

S.N.: Paarbeziehungen – komisches Wort übrigens – haben immer ein Freiheitsproblem, ein Vergänglichkeitsproblem und viele andere. Liebe und das Zusammenleben als Paar leiden z.B. oft unter zu geringem Selbstvertrauen, bald auch unter Vertrauensverlust gegenseitig. Damit muß man freundlich, weise und listig umgehen – wer es einfach leugnet, ist ein Ideologe und fällt damit auf die Nase.

G.H.: Du meintest gerade, daß er die ganze Zeit aufschreibt und notiert…

S.N.: Ole Reuter, ja.

G.H.: In der Netzkarte sagt er „Und jetzt Schluß mit dem Notieren, jetzt nur noch sprechen, anfassen, Pläne machen". Ist da das Reisen und das Begegnen der Widerspruch zum Schreiben?

S.N.: Ja, in gewisser Weise schon. Wer schreibt, kriegt weniger mit. Das ist ganz klar. Man kann sich z. B. eine Liebesszene nicht vorstellen, bei der einer oder beide „mitschreiben". So geht es im Grunde auch mit anderen Erlebnissen, die Unmittelbarkeit brauchen. Zettel in der Hand, Stift in der Pfote, das ist nicht das, was einen wirklich etwas erleben läßt. Vergleichbar ist, denke ich, wenn man durch den Sucher einer Kamera blickt, statt erstmal das ganze Bild zu sehen. Am Ende vom ersten Abschnitt in Netzkarte hat Ole Reuter seine Protokollantenpflicht, die er sich selber auferlegt hat, manchmal etwas schleifen lassen, aber im Grunde immer brav mitgeschrieben, was ihm passiert – und ist zu dem Ergebnis gekommen, es geht auch eigentlich ohne. Es geht ohne Protokoll und überhaupt ohne Geländer. Er hat Zutrauen zu sich gewonnen bei dieser ersten Reise, und deswegen sagt er gegen Ende, das ist so sein Fazit: „Jetzt will ich leben, jetzt will ich nur genau hingucken und nicht mehr meinen eigenen Nabel beschauen. Das ist ja auch richtig gewesen. Es ist seine Lesart, daß er einen großen Schub bekommen hat durch diese erste Reise, frei geworden ist, sich des Lebens freut und jetzt auf die Dinge zugeht und mit ihnen rumspielen kann. In Er oder Ich nimmt Ole Reuter im Grunde die alte Therapieform wieder auf und will zurück zu diesem Buchstabieren von Welt und Leben. Es ist so, als ob jemand eine Psychoanalyse noch mal machen will, weil die erste nicht lange genug vorgehalten hat.

G.H.: Schon in der Netzkarte zwischen der ersten und der zweiten Reise bestehen deutliche Unterschiede. Bei der ersten sind die Begegnungen meist eher flüchtiger Art, abgesehen von Judith, wegen der es aber auch zu verschiedenen Fluchtversuchen kommt. Bei der zweiten Reise gibt es ein tatsächliches Bemühen, Begegnungen zu haben, und das Aufsuchen von bestimmten Leuten.

S.N.: Stimmt.

G.H.: Und diese Begegnungen, das "Erleben" statt dem "Erschreiben" scheint dann auch zu helfen.

S.N.: Man hätte genauer ausführen können, genauer schildern können, was denn jetzt die neue Leichtigkeit bringt. Dieses Herauslassen, z. B. auch mal Beweinen, was schon lange mal anstand, und dann die Tränen trocknen, die Brille aufsetzen, durch sie durchgucken und sagen "So jetzt, wie sieht’s denn aus? Jetzt kümmere ich mich mal um das, was außerhalb ist." Es ist tatsächlich meine Überzeugung, daß man nicht sehr weit kommt, wenn man sich nicht gehenläßt, sondern nur aufschreibt, was im Moment passiert. Dieses Sich-selber-Aufschreiben heißt ja Sich-nicht-laufen-Lassen, es ist eine Zügelung, eine Kontrolle.

G.H.: Beim Reisen ist ein Grund, warum man vielleicht mehr über sich selbst herausfindet, der, daß man einfach nie der ist, der man war, als man losgefahren ist, weil die Leute, die einen kennen, ja nicht dabei meistens sind, man also eine neue Identität annimmt. In Selim gibt es eine schöne Stelle dazu: "Ab jetzt würden sie für längere Zeit nicht mehr Ringer, Läufer sein." Denn sobald man jemand Neues trifft, und das ist auf Reisen eigentlich immer so, ist man halt jemand anders.

S.N.: Ja, man hat mehr Freiheiten, sich auszuprobieren. Das steckt immer drin. Man kann auch hochstapeln und jemandem erzählen: "Ich bin der und der, ich habe eine Firma für das und das." Man kann ein bißchen blenden, ein bißchen ausprobieren, man muß nicht einmal viel reden, man kann sich „aufführen" (was die anderen vielleicht nicht einmal merken). Man fühlt sich ein wenig als jemand anders. Das würde ich allerdings nicht als das Wichtigste beim Reisen ansehen. Für mich hat es beim Reisen überhaupt keine Bedeutung mehr, mich als jemand anders aufzuführen. Das ist eher bei einem jungen Mann der Fall oder in einer etwas pathologischen Art und Weise bei diesem etwas unglücklich gewordenen älteren Ole Reuter. Der versucht auch irgend etwas zu erzwingen, indem er sich selber von oben auf den Kopf schaut und versucht, so zu schreiben. Das ist im Grunde pubertär. Wenn man Glück gehabt hat, braucht man das ja nicht, dann ist da eine Festigung, ein Format, und man freut sich, daß man von einer bestimmten, halbwegs festen Identität aus die Welt betrachtet.

G.H.: Eine solche Identität kann ja auch durch eine religiöse Grundhaltung kommen. Welche Rolle spielt Religiosität in Deinen Werken – ist Religiosität z.B. bewußt weggelassen bei John Franklin?

S.N.: Nein, nicht weggelassen. Die ist ständig da, aber in einer sehr unkonventionellen Weise, weshalb sich auch Pastoren schon beschwert haben bei mir, sogar ein leibhaftiger Bischof. Der hat gesagt, eigentlich ist das unmöglich, was dieser Nadolny treibt. Er schildert im Buch über die Langsamkeit einen ganz offensichtlich in Gott ruhenden und von ihm seine Zuversicht beziehenden Menschen, der aus religiösen Quellen schöpft, und dann läßt er diese Tatsache einfach weg. Warum sagt er nicht, daß man so eine Art von Mensch nur dann wird, wenn man an Gott glaubt und das eigene Schicksal in seine Hände gibt. So ungefähr der Vorwurf. Und dann habe ich mit dem Bischof korrespondiert, und es hat sich eine Art Brieffreundschaft daraus ergeben, weil das ein witziger und gelehrter Mann ist, von dem ich viel gelernt habe. Die Sache mit Franklin ist eben die, der ist durchaus religiös! Es ist von Anfang an drin, schon als Kind sucht er seine Zuflucht bei Gott, nur, daß er sich den selber zimmert. Er zimmert sich einen Kindergott, Sagals nennt er ihn, das ist ein in weiß gekleidetes Wesen, das von der Zimmerdecke her ihn anschaut und zu dem er reden kann. Der andere redet nicht, aber er hört zu. Franklin hält ja dann auf der letzten Reise auch Predigten, das muß er als Kapitän. Und die Mannschaft sagt, er muß ein verkleideter Bischof sein, obwohl alles ganz und gar nicht wie in der Kirche klingt. Aber auf dem Gebiet habe ich mich natürlich zurückgehalten. Man ist sofort in einer sehr festen Schublade, wenn man einen glücklichen Menschen schildert und ihn dann auch noch fromm sein läßt. Dann wissen alle: Das kommt davon, wenn man fromm ist. Aus, Amen. Dann brauche ich das Glück nicht mehr zu buchstabieren, dann brauche ich alles nicht mehr zu schildern, dann bin ich in der Heilsgeschichte.

G.H.: Stichwort Technik! In der Netzkarte hat der Vater die Idee damit den Völkern zu dienen, und der Idee des technischen Fortschritts, das ist ja dann im Gott der Frechheit untergegangen und auch in der Netzkarte schon ist der Vater am Ende eigentlich nicht besonders glücklich vor dem Fernseher. Ist die Technik mit der Schnelligkeit zu weit gegangen?

S.N.: Das würde ich schon sagen, aber wir können es ja nicht verhindern. Wir müssen es sehen wie es ist. Sie ist zu schnell gekommen und zu weit gegangen. Das heißt nun nicht, daß mit Technikfeindlichkeit etwas gewonnen wäre, nicht das Geringste! Im Gegenteil, wir müssen mit List und Tücke, nein, vielleicht ohne Tücke, aber mit List und Liebe die Technik zum Teil unseres Lebens machen und nur versuchen, ihr nicht zuviel Platz einzuräumen auf Kosten der Dinge, die für uns lebenswichtig sind. Der Vater in der Netzkarte, das ist der Techniker, der mächtige Mann, der technisch-mächtige Mann schlechthin, das Motiv wird dann aufgenommen in dem Gott der Frechheit, da heißt er Hephäst. Der ist nun allerdings ein extrem unglücklicher und zum Schaden der Welt dominierender Gott geworden, der alle möglichen Beschleunigungs- und Kontrollverfahren beherrscht und trotzdem kein guter Lenker der Welt ist. Es funktioniert alles, aber die Menschen sind nicht glücklich damit. Wenn ich mir so einen Gott vorstelle, der die göttliche und menschliche Welt beherrscht, dann muß er ja doch dafür sorgen, daß Glück möglich ist, und das ist ein bißchen schwierig geworden bei den Lügen, die sein System treiben, inklusive Kriege und Waffen und Kapitalinteresse - es sind ja Konzerne, die er da unter sich hat. Es beschäftigt mich sehr, das Thema Technik, vor allen Dingen auch die Skrupel der Techniker, der Erfinder, Atomwissenschaftler, Techniker, Gentechnologen, die die ersten sind, die warnen und sagen: „Vorsicht, das ist vielleicht schrecklich, was wir da erfunden haben, wir können das machen, aber sollten wir das machen?" Sie werden meist ziemlich schnell hinweggefegt, weil das, was gemacht werden kann, auch gemacht wird, angeblich immer zum Nutzen der Menschheit, manchmal aber auch tatsächlich zum Nutzen der Menschheit. Dieses Unglück des Technikers ist mir schon ein Thema.

G.H.: Zum Teil sind die Techniker aber auch, wie beispielsweise in der Vorlesungsreihe Vater von X, sehr positiv bei Dir geschildert.

S.N.: Ich bin ja voller Bewunderung, das kann ich nicht leugnen. Ich finde es ja unglaublich, staune einfach über die Computertechnik und was sie alles kann, was da alles möglich ist, wie alles simuliert werden kann, was für Forschungswege heute gegangen werden können, das ist faszinierend. Und deswegen neige ich dazu, wenn das Thema nur angetippt wird, etwa im Rahmen von Das Erzählen und die guten Absichten, so einen zu einer positiven Figur zu machen, jemand, der sich an die Tatsachen hält, der forscht, der genau nachsieht, der was rauskriegt, der was baut. Das ist eigentlich dieses klassische Johannes Gutenberg oder Otto Lilienthal Modell. Heroen! Sie sind schon toll, bis hin zu Henry Ford, der gesagt hat, man sollte im Leben nicht Geld machen, sondern etwas Sinnvolles. Das ist der Heroismus von Firmengründern, die tatsächlich keineswegs nur Geld machen wollten, das hat sie oft nicht sehr interessiert. Wenn ich mehr in die Tiefe gehe, dann sehe ich aber doch mehr den alten Mann am Schluß, der mit leeren Händen davongeht und der die Menschen weder besser noch glücklicher gemacht hat, die ganzen Erwartungen sind nicht eingetroffen. Man hat sogar gedacht, das Radio könnte ein Instrument der Völkerverständigung werden. Es wird nie wieder Krieg geben, hat man am Anfang unseres Jahrhunderts gedacht, weil wir jetzt das Radio haben (plus Esperanto!), die Völker können voneinander lernen. Unglaublich. Was für Hoffnungen sich an Mobilität, Fernmeldetechnik, Funk u. s. w. geknüpft haben. Nicht ganz zu Unrecht. Die Tatsache, daß es Eisenbahnen gegeben hat, hat die Demokratie gefördert. Ohne Mobilität, ohne Zusammenkommen von Leuten, also Parlament oder Versammlung, wäre der Feudalstaat vielleicht immer noch da. Und hältst du die Computer für das Letzte, was wir entwickelt haben?

G.H.: Nein, für das Letzte bestimmt nicht, aber für einen ziemlich langfristigen Zwischenstatus.

S.N.: Ja, ein paar Jahrzehnte wird’s schon gehen, dann haben wir was anderes. Dann erfinden wir irgendein Plasma, ein intelligentes Plasma, das die ganze Erde umgibt wie ein Mantel und das uns alle einsaugt. Wir werden dann Teil dieser großen Intelligenz. Das ist wie bei Stanislav Lem, in der Solaris-Geschichte, dieser Plasmaozean. Das könnte das Ende sein.

G.H.: Dauert noch, hoffentlich.

S.N.: Etwas.

G.H.: Die Figur des Technikers im Gott der Frechheit, Hephäst, ist, wie mir scheint, nicht nur rein zufällig meistens in Deutschland. Wie ist es Deutschland und den Deutschen in Deinen Werken? In der Langsamkeit steht, daß Deutsche grübeln, warum sie sich nicht bewegen können wie andere und ganz schnell schlecht gelaunt werden. Und in Er oder Ich heißt es "Nein, ich habe keine Zärtlichkeit mehr für das Land. Zu sehr trägt es die Spuren seiner Bewohner, und die sind mir widerwärtig."

S.N.: Ja, das ist eine Seite eines gewissen Narzismus, den man immer mit seinem eigenen Volk verbindet. Da gibt es neben Selbstliebe ja immer auch Selbsthaß. Es ist auch im Persönlichen so, daß das ein bißchen hin- und herschwankt. Manchmal ist man in der Stimmung, sich zu hassen, dahinter steckt viel enttäuschte Eigenliebe. Soweit man sich überhaupt identifiziert mit seinem Deutschsein - das ist wahrscheinlich sowieso bei Franzosen, Engländern und Iren stärker. Aber die Deutschen haben das auch. Da gibt es durchaus mal eine große Freude darüber, zu den Deutschen zu gehören. Nehmen wir mal an November ’89, weil da plötzlich die Mauer fiel, da war man doch so froh: Die Deutschen haben es tatsächlich mit einer gewaltlosen Revolution geschafft! Dem steht aber gegenüber natürlich, auch geschichtlich bedingt, ein gewisser Selbsthaß, aber nicht nur geschichtlich bedingt, also nicht nur die Schuldfrage, die berühmte, sondern auch die Tatsache, daß „die" Deutschen einige Eigenschaften nicht haben, die andere Völker haben, südliche zumal. Der ewige Neid der Deutschen auf die graziöse und selbstverständliche Art der Südländer, sich zu bewegen, der mittelmeerischen Völker. Auf Schnelligkeit und Beredsamkeit der Franzosen und ihre Eleganz. Wo Deutsche hinschauen, müssen sie sich eingestehen: Das können wir leider nicht, und tanzen auch nicht, und das einzige, was wir eben können, ist organisieren. Darauf kann man stolz sein, man kann sich aber auch dafür hassen. Dabei stimmt auch das schon längst nicht mehr. Die Deutschen sind oft herzlich schlechte Organisatoren, unter jeder Kanone. Beim Leben und Faulenzen haben sie ein wenig aufgeholt.

G.H.: Könntest Du Dir vorstellen in einem anderen Land zu leben?

S.N.: Ja, aber nicht unbedingt gern.

G.H.: Gibt es für Dich eigentlich so etwas wie literarische Vorbilder?

S.N.: Nein.

G.H.: Was ist eigentlich Deiner Meinung nach der anstrengendste Aspekt des Autordaseins? Träumst Du manchmal von einem anderen Leben? Davon, das Schreiben aufzugeben und etwas anderes zu machen? Wenn ja, was wäre das?

S.N.: Das Anstrengendste ist die große Portion Ratlosigkeit und Sorgen, ohne die das Romanschreiben offenbar nicht auskommt. Ein anderes Leben möchte ich jetzt nicht mehr.