glossen: aufsätze

Was ist „der Ernstfall"? Wie findet man Auswege?
Aus einem neuen Interview mit Alexander Kluge anläßlich des Erscheinens der Chronik der Gefühle

Glossen hat in Heft 9/1999 ein Gespräch mit Alexander Kluge (geführt im Juni 1999) veröffentlicht. Im Oktober 2000 ist Kluges Chronik der Gefühle im Suhrkamp Verlag, Frankfurt erschienen. Im November wurde ihm dafür der Bremer Literaturpreis, eine der bedeutenden Auszeichnungen Deutschlands zugesprochen. Das Werk hat 2000 Seiten, der erste Band (etwa 1000 Seiten) enthält neuverfaßte Geschichten, der zweite Band vor allem die Texte, die Kluge bis 1977 veröffentlicht hat (Lebensläufe; Schlachtbeschreibung; Neue Geschichten. Unheimlichkeit der Zeit). Der Autor hat die Erzählungen gegen die Chronologie neu geordnet und in 12 Kapitel geteilt. Das erste Kapitel (150 S.) lautet: "Der Eigentümer und seine Zeit." Dazu heißt es im Vorwort: „Menschen haben zweierlei Eigentum: ihre Lebenszeit, ihren Eigensinn. Davon handeln die folgenden Geschichten." Einige Überschriften von Erzählungen aus diesem Kapitel: 0,0001% der Lebenszeit; Kommentar zu Anna Karenina; "Blut wie Sprudel: Nach einem Text von Alexander Puschkin", "Das Gefühl besteht aus Unverbrauchtem", "Hitler als Mondgänger", "Ein Leninist des Gefühls", Lohengrin in Leningrad", "Heiner Müllers letzte Worte über die Funktion des Theaters", "Die Konsistenz des Mondes", "Lebensgrundsätze am Schwarzen Freitag".

Man kann sagen, daß die Fülle der Texte dieser beiden Bände am ehesten an ein Epos erinnert, denn nicht anders als durch Sammlung und Gliederung nach innerem Zusammenhang sind ja die großen Epen entstanden. Hier handelt es sich vor allem um ein Epos der deutschen Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei die Kriegszeit nicht nur in der Schlachtbeschreibung, also dem Stalingrad-Buch, einbezogen ist und viele Geschichten in historischer Zeit handeln - bis hin zum alten Ägypten und zum Gilgamesch-Epos. Getreu der Vorstellung, daß die Gegenwart ein Rätselbild aller vorangegangenen Geschichte ist.

Im März 2001 wird im Merve-Verlag, Berlin unter dem Titel Verdeckte Ermittlung (ca. 140 S.) der Wortlaut eines Interviews herauskommen, das Christian Schulte (Osnabrück) und Rainer Stollmann (Bremen) Mitte September 2000 mit Kluge in München über die Chronik der Gefühle geführt haben. Aus diesem Interview bringt glossen im folgenden einen Teil, der mit einer kurzen „amerikanischen" Geschichte anfängt, in der es um ein Motiv geht, das sich bei Kluge häufig ausdrückt: Wie findet man Auswege? Dies Motiv stößt gewissermaßen an den Begriff „Ernstfall", der in Kreisen der „konservativen Revolution" und bei Heidegger Ende der Weimarer Republik von großer Bedeutung war. Kluge führt nun diese Vorstellung, daß man auf den Ernstfall hin leben müsse, an einer phantastischen Geschichte "Heidegger auf der Krim" (so lautet auch gleichzeitig das ganze vierte Kapitel der Chronik) durch. In die Krim-Halbinsel wird 1941 eine Gruppe deutscher Professoren, darunter Heidegger, eingeflogen, die dort germanisches (Ostgoten) und griechisches Erbe sichern, gleichzeitig aber deutschen Geist in Frontnähe darstellen soll. Heidegger bereist das Land, sucht nach Ruinen, dem Ort, wo Iphigenie wirkte. Plötzlich wird aus einer zur Exekution bestimmten Menschenschlange heraus die Hand eines Kindes in die seine gelegt. Heidegger, der spontan die kleine Hand ergriffen hat, fühlt sich verantwortlich und bemüht sich, dieses Zigeunerkind, ähnlich wie Goethes Wilhelm Meister es mit Mignon tut, zu retten. Das ist sein Ernstfall. Aber im Gegensatz zum Unterwasserkünstler ist das Finden von Auswegen in den Ernstfällen Krieg und Liebe meist schicksalhaft verbaut. - Kluges Text bemüht sich, das Ernstfall-Motiv, das starke Verankerungen in der deutschen Geschichte hat (so erscheint das Unglück des Bauernkrieges von 1525 in schrecklicher verzerrter Form im Dritten Reich wieder an der Oberfläche), in Heideggers Denken zu verstehen, ohne ihm zu verfallen. In literarischer Weise zeigt Kluges Text sowohl die Übereinstimmung von Heideggers Denken mit dem Nazismus als auch die Differenz.

Ein weiterer Text, auf den Kluge im Interview anspielt, die "Götterdämmerung in Wien", beginnt folgendermaßen:

Im März 1945 war die Metropole Wien von sowjetischen Stoßtruppen umstellt. Nur nach Norden und Nordwesten bestand noch Landverbindung zum Reich. In diesem Moment befahl der Gauleiter und Reichsverteidigungs-Kommissar Baldur von Schirach, Herrscher der Stadt, eine letzte Festaufführung der »Götterdämmerung«. In aussichtsloser Lage der Stadt und des Reiches sollte die von Richard Wagner komponierte Verzweiflung der Nibelungen (aber auch die in den Schlußakkorden enthaltene Hoffnung auf Wiederkehr) über alle Sender des Südostens übertragen werden, sofern diese in deutscher Hand waren. »Wenn schon das Reich untergeht, muß uns die Musik doch bleiben.«

Kluge erzählt dann, wie unter den Bedingungen von Artilleriebeschuß das Orchester, auf verschiedene Luftschutzbunker verteilt, über telefonische Standleitung die Einspielung aufnimmt. Das wird außerdem gefilmt. Nie gesendet, entdeckt ein junger Schüler Luigi Nonos das Material, und es gelangt schließlich in die Redaktion der Cahiers du Cinéma, so daß eine Vorführung Anfang der 90er Jahre zustande kommt. In dieser fragmentierten, ruinenhaften Form, so legt der Schluß der Geschichte nahe, ist die Musik Wagners authentisch „aufgehoben". - Diese Geschichte ist Heiner Müller gewidmet. Sie gehört insofern zum Zusammenhang, als sie „Ernstfall" und „Ausweg" für große Kunst behandelt.

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Alexander Kluge: Der Unterwasserkünstler

An Händen und Füßen gefesselt, ist er von der Belle-Island-Brücke in den vereisten Detroit River gesprungen. Das für ihn in das Eis gehackte Loch traf er. Die Strömung aber trieb ihn vom Loch weg unter die Eisdecke. Dank eines minimalen Raums zwischen Eisdecke und Wasseroberfläche hat er Atem geschöpft. Die Grenze zwischen den Aggregatzuständen Wasser und Eis ist nie genau. So waren die Flußwächter überrascht, als er Kilometer flußabwärts von unten an die dort dünne Eisoberfläche klopfte. Wie ein Geist war er unter der blanken Eisplatte zu sehen, die Nase eng an die Unterfläche der Eisdecke gepreßt, um sich die wenigen Deziliter Sauerstoff zu sichern, die es an der Nahtstelle gibt.

Man kann jeden beliebigen Punkt der Erde, auch die lebensunfreundlichen, ansteuern, sagte der Künstler nach seiner Rettung, indem man von seiner eigenen Mitte aus eine Spirale zieht.


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Glossen: Das ist eine Illustration des Satzes „Es gibt immer einen Ausweg".

Kluge: So ist es. Und zwar einen prekären Ausweg. Gleichzeitig ist es eine Darstellung, was eigentlich Artisten tun. In aussichtsloser Lage erbringt der Unterwasserkünstler, der verunglückt ist, an dieser Nahtstelle eine winzige Sonderleistung. Ich habe in diesem Buch zwei Lieblingsbilder. Das eine ist ein Mann, der an zwei Flugzeuge gefesselt ist und sie am Start hindert. Was sind Ottomotoren gegen die Leistung eines Athleten? Das ist olympischer als eine abstrakte Leistung nach vorn. Das ist noch einen Moment lang die Überlegenheit des Menschen. Bei der Concorde geht das schon nicht mehr. Das zweite, was mich sehr bewegt hat, ist ein Bild von einem Blinden, der in der Zeit zunehmender Arbeitslosigkeit als Lastwagenfahrer weitergefahren ist trotz seiner Erblindung. Neben ihm sitzt sein 9-jähriger Sohn und sagt ihm, wo es lang geht. Diese Kommunikation, daß ich auch nach Verlust meiner Augen, von einer Vertrauensperson gelenkt, durch die Straße sicher fahre ein halbes Jahr lang, das finde ich nun wirklich eine menschliche selbstvergessene Leistungskraft. Das ist keine Omnipotenz, aber eine ganz besondere Potenz. Das ist eine wahre Geschichte.

Glossen: Freiwillige Taten wären ja keine willenlosen Taten.

Kluge: Ganz gewiß nicht, nein, sondern das sind Glücksmomente, in denen der Wille überhaupt in Erscheinung tritt. Der Wille hat nichts mit dem Ich zu tun.

Glossen: Sie schreiben an einer Stelle einen Satz, der mich sehr berührt hat: „Das Böse ist das in der Zeit versetzte Gute". Da könnte man denken, hier werde Moral in Geschichtswissenschaft aufgelöst.

Kluge: Sagen wir so: Das ist ja kein Satz von mir, sondern das ist ein berühmter Satz von Montaigne. Montaigne lebt nach einem Religionskrieg. Er gehört zu denjenigen, die in der Zeit von Henri IV., dem guten König, diese Bürgerkriege gegen Polarisierungen abwerten. In dem Zusammenhang sagt er: Dieses offenkundig Böse, das zum Verbrennen der Hugenotten führt, zum Abschlachten, zu Ra-cheakten wiederum von der anderen Seite, dieses Vernichtungsprinzip ist ein in der Zeit versetztes Gutes, das heißt, verteilt ohne Widerspruch über lange Zeiten, könnte es sich genauso gut vertragen. Das Beste Frankreichs liegt in den Hugenotten und in den Katholiken. So etwa denkt Montaigne.

Glossen: Einem Deutschen fällt zwangsläufig bei dem Wort „böse" Hitler und das Dritte Reich ein. Ich will jetzt nicht die Diskussion darauf lenken, aber können Sie ein paar Hinweise geben, ob Montaignes Satz auch dafür gelten könnte?

Kluge: Ich bin sicher. Denn wenn Sie die Bauernkriege genau beschreiben, würden Sie alle Wurzeln, die im Dritten Reich wiederkehren, aufspüren können - alle. Und der verbrecherische, der verräterische, der administrative und der Revolte-Impuls, das ist alles nicht nur festgemacht in den Schlachtfeldern von Verdun, wo es auch herkommt, wo es geschmiedet ist, sondern aus der mißglückten Emanzipation der Bauern, der Verräterei, die ihnen angetan wurde, der Repression, dem versteckten inneren Willen, den ich meinem Fürsten ja nicht zeigen darf, der gewissermaßen organisierten Illoyalität und dem Ausbruchswillen, denn kein Mensch will sich ja unterdrücken lassen oder wird Sklaverei wirklich dulden. Und die Leibeigenschaft hört ja nicht auf, die ist ja noch sozusagen im 18. Jahrhundert, in der Lie-bedienerei, der Philosophie beispielsweise, voll vorhanden. Selbst in der Trennung, jeder darf im Reich Friedrichs des Großen denken, was er will, aber er darf nicht danach handeln, er muß polizeigerecht handeln und darf kritisch denken, steckt noch der letzte Rest dieser Repression drin. Das ist kein freies Volk. Und dieses unfreie Element, das ist eine Komponente im Dritten Reich. Ich kann Ihnen jetzt nicht Hitler analysieren, aber wenn Sie die neue Biographie von Kershaw lesen, da sind Beobachtungen enthalten, die auch allem entsprechen, was ich kenne. Ich habe dieses Buch schon im Manuskript lesen können und einige dieser Geschichten, die meisten Geschichten sind ja hier neu geschrieben, in den letzten zwei Jahren, die von Hitler als Mondgänger handeln, oder einen Nachmittag mit Adolf Hitler, im Stalingrad-Kapitel. Das sind Beschreibungen, bei denen Sie also Übungen an Unterscheidungsvermögen geradezu entwickeln können.

Glossen: Mir ist aufgefallen, daß Sie sich mit Heidegger beschäftigen. Da finden sich zum Beispiel Zitate, die fast von Adorno sein könnten. Das ist ungewöhnlich.

Kluge: Es ist deswegen nicht ungewöhnlich, weil ich Adorno ja vertraue. Es ist nicht gesagt, daß ich Heidegger vertraue, sondern über den erzähle ich eine Geschichte, die ihn in den Ernstfall hineinführt. Der Ernstfall ist für die radikale revolutionäre Rechte der 20er und 30er Jahre ein zentraler Begriff. Man kann gar nicht denken zwischen Leben und Tod, wenn man das Leben nicht vollständig einsetzt, wenn man das Denken nicht so einsetzt, vollständig, auf die Gefahr des Scheiterns hin, wie man das als Kämpfer oder Soldat mit dem Körper tun würde. Dieser Gedanke, den kann man ja durchaus verstehen und auch ernst nehmen. In einer verzweifelten Situation müssen alle Kräfte eingesetzt werden. Diesen Gedanken, diesen Impuls der jungkonservativen Richtung, einer Zeit, die nicht mehr unsere ist, die wende ich an, indem ich die Geschichte „Heidegger auf der Krim" erzähle.

Glossen:
Diese Geschichte fällt auf durch einen Wechsel der Tonlagen. Sie schreiben einmal aus der Per-spektive Heideggers in der Ich-Form, dabei spricht er mal in einem sehr nüchternen Tonfall und dann in einem fast hohen Stil, in einem Erhabenheitsgestus, den man aus vielen seiner Texte kennt, wenn er z.B. über Hölderlin spricht, und es entstehen mehrere Perspektiven zwischen diesen verschiedenen Sprechweisen.

Kluge: Da ist eine Art Stilbruch eingebaut, denn der Ich-Erzähler wird unterbrochen durch einen, wenn Sie so wollen, Romanerzähler, und dann gibt es auch Zitate, die er übrigens zu dem Zeitpunkt im we-sentlichen in seinem Freiburger Seminar über Heraklit, in dem berühmten Heraklit-Seminar, entwickelt hat. Mir schien, wenn man etwas, was ja nicht stattgefunden hat, erzählt, daß man dies dann auch in einer genügenden Anzahl von Brüchen referiert, und zwar nicht so, daß der Leser einen Hinweis kriegt, sondern eher als das Gewissen des Textes selber, der jetzt nicht Perfektion und Schematismus in eine Richtung anwenden darf, weil ja der Grundansatz bereits eine Erfindung, einen Versuch enthält. So etwas muß in irgendeiner Form Kunstfehler enthalten, sonst stimmt es nicht. So wie z.B. in der „Götterdämmerung in Wien" dieses Orchester von Wagner doppelt zerschlagen wird, einmal durch die Luftangriffe und zum andern dadurch, daß die in verschiedenen Luftschutzkellern über Militärtelefone verbunden sind und die Musik über diese Militärtelefone verknüpft wird. Das ist ja eine Sprechanlage für den Fronteinsatz, die furchtbar scheppert, aber die würde alle Qualitäten soweit mit einem besonderen Ausdruck versehen, daß das zu der Situation paßt. Das ist in einer nicht-erfundenen Situation so, und hier ist es in einer erfundenen so ähnlich, ich muß also irgendwie das Maß an Widerspruch, das in der Geschichte steckt, weil Heidegger ja nicht wirklich dort war, vielleicht so ausdrücken. So etwas mache ich allerdings aus einem Gefühl heraus, es ist nicht so, daß ich mir das ausdenke, sondern es gelingt mir einfach nicht, die Ich-Form durchzuhalten.

Glossen:
Heidegger ist auf der Krim, es stehen Leute zu Deportationen bzw. Exekutionen da. Eine Mutter drückt Heidegger die Hand ihres halbwüchsigen Mädchens in seine Hand, und er fühlt sich plötzlich für sie verantwortlich. Sie nehmen in Ihrem Text Bezug auf Mignon und Wilhelm Meister.

Kluge: Wenn Sie im Wilhelm Meister diese Mignon-Geschichte betrachten, die auch von Thomá in eine Oper verwandelt worden ist und im vorigen Jahrhundert die Menschen sehr beschäftigte, dann haben Sie einen groß entworfenen Menschen, Wilhelm Meister, eine Goethe-Persönlichkeit, der sich in ein exotisches Wesen verliebt, das er im weiteren Verlauf umbringt. Es erweist sich zum Schluß, daß dieses Wesen aus sehr hohem Stande kommt, aus einem Inzest-Verbrechen stammt, wie die Walküre bei Wagner, und stirbt. Dies hat irgendetwas von einer Vorahnung einer Situation auf der Krim, wo ich einerseits die Iphigenie suche, denn die war da irgendwo. Und die Universitätsprofessoren wurden von der elften Armee dort hingeführt, damit sie Gotenforschung treiben und Antiquitäten, den alten griechischen Kulturort Krim, konservieren und natürlich die Stäbe unterhalten.

Das ist ähnlich wie bei einem Reisenden. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts wäre das ein Reisender gewesen wie Wilhelm Meister, der Welt erfahren will. Und jetzt sind wir im Jahr 1941, und da ist das Sonderkommando D von Ohlendorf, das wirklich dort war, das sind alles wahre Geschichten. Das ist doch schon eine sehr verzerrte Welt von der Persönlichkeitsbildung her gesehen. Hier würde Mignon, also als exotischer Fund, den emotionalen Ernstfall bedeuten. Eine Liebesbeziehung ist immer der Ernstfall, stärker als es der Krieg sein könnte. Das, was Heidegger hier beschäftigt, ist, warum kann ich nicht das anvertraute Gut hier wirklich verwahren, wie es offenkundig von irgendeiner Macht, vom Schicksal mir angedient ist. Das kann er hier an der Front, unter Freunden, machen und für den Fall, daß ewig Front wäre und sie jetzt gemeinsam zum Ural vordringen und irgendeinen Grund hätten, überhaupt hier in Rußland zu sein und sich ansiedeln wollten, dann könnte er dieses Gut auch beschützen. Aber er kann nicht in die Heimat zurückfahren, denn dort gibt es den Ernstfall gar nicht. Eigentlich ist die Heimat noch nicht im Krieg, das wird erst bei einem Bombenangriff der Fall sein. Das ist so ungefähr die Logik. Was er hier empfindet, das ist ein Mangel an Ernstfall, es ist ein Fake von Ernstfall, obwohl es momentweise den Ernstfall gibt.

Glossen: Es gibt eine Gegenfigur im Wilhelm Meister, Philine, die zunächst so etwas ist wie eine Hure, jedenfalls nahe daran, und später Schneiderin wird. Sie sagt zu Wilhelm Meister die merkwürdigen Worte, als er sie verschmäht, „Was geht es dich an, wenn ich dich liebe?"

Kluge: Ein wunderbarer Satz.

Glossen: Aber ein rätselhafter Satz.

Kluge:
Nein, das ist ein Grundkonzept. Übrigens, Adorno hat darüber einen Essay, „Constanze", geschrieben. Der Kernpunkt ist: weil die Liebe so ernsthaft ist und den Ernstfall im Menschen darstellt, ist auch die Verantwortung, die Bilanzierung, nicht möglich von mir zu dir. Du bist zu nichts verpflichtet, und ich bin meiner Liebe zu allem verpflichtet. Ich setze mein Leben ein, aber das ist keine Forderung an dich. Insofern gibt es in der Liebe eine Autonomie. Wenn diese Autonomie im glücklichen Moment dazu führt, daß „Constanze" entsteht, daß man gegen den allgemeinen Tausch hier etwas Unverkäufliches hat in Form der Liebe und das zweie sagen, dann ist das einer der seltenen Fälle des Glücks. Das wäre gewissermaßen die höchste Form der Kunst, die stünde außerhalb des Kunstbetriebs, das wäre Lebenskunst. Aber dies ist so unwahrscheinlich wie Gottes Liebe, das ist sozusagen reines Horizontwandern, das kann ich hoffen.