glossen: aufsätze
Der "andere" Blick: Marc Svetovs Westberliner Cosmopolis der 80er Jahre im Kontext deutscher und amerikanischer Berlinliteratur
Susanne Ledanff

Die junge deutsche Literatur boomt, die Berlinliteratur boomt. Am Ende der neunziger Jahre ist Berlin die "unangefochtene Metropole der jungen deutschen Literatur" (Magenau)[1] geworden. Das literarische "deutsche Fräuleinwunder" ist überwiegend eine Berliner Sensation, die mit Judith Hermanns Sommerhaus, später begonnen hatte, von Inka Pareis Die Schattenboxerin fortgesetzt wurde und nun auch auf dem letzten Klagenfurter Literaturwettbewerbs seine Anerkennung fand, wo die Berliner Autorinnen Julia Franck und Susanne Riedel mit Preisen bedacht wurden.[2] Überhaupt wird natürlich nicht nur in Berlin, sondern auch über Berlin, vorzugsweise das "hippe" Berlin des Szeneleben in den Bohèmequartieren des Ostteils der Stadt viel geschrieben. Gerne wird auch die nun als mythische Vorzeit empfundene Vergangenheit literarisch und dokumentarisch hervorgeholt. Vorwendeberlin Ost und West und ihre versunkenen Bohèmewelten sind ebenfalls "in". Jedoch fehlt im gegenwärtigen Berlinroman weitgehend das, was man als den "anderen Blick" bezeichnen könnte. Der 1951 in Chicago geborene und seit 1977 in Berlin lebende Marc Svetov hat mit seinem retrospektiven Berlinroman Truman Plaza, Germany (2000), der von den bohèmehaften Existenzbedingungen eines jungen Amerikaners in Westberlin Anfang der 80er Jahre handelt, diesem "anderen Blick" Ausdruck verliehen.[3] Im Vergleich mit anderen zurückschauenden Berlintexten deutscher Autoren, die sich weitgehend ohne kulturgeschichtliche Bezüge für die legendären Bohemewelten in Ost- und Westberlin vor dem Mauerfall beschäftigen, kristallisiert sich in diesem Roman das Image der "Cosmopolis" des multikulturellen Besatzungsmachtghettos heraus. Und dieses "Heteroimage" ist seinem fremden Blick auf die Stadt geschuldet, genauer einem aus einer bikulturellen Erfahrung gewonnenen Blicks von einem Autor, der die längste Zeit seines Lebens in zwei Kulturen gelebt hat. Das Besondere an diesem Blick ist, dass er die literarischen Stadtbilder auf reizvolle Weise auch mit den Traditionen amerikanischer Berlinfaszination der Vergangenheit "auflädt", indem er nicht nur auf literarische und filmische Traditionen des amerikanischen Berlinmythos anspielt, sondern auch die Exzentrik seiner Cosmopolis Westberlin mit dem Film entlehnten Mitteln und Slapsticktechniken präsentiert. Dazu erinnert Svetovs Text über das "exotische" Berlin des amerikanischen Besatzungsmachtghettos hinaus an die spannungsvolle Symbiose der deutschen und der amerikanischen Kultur im Film Noir Hollywoods der vierziger und fünfziger Jahre.

Atlantis Ost-West-Berlin

Im Buchherbst 2000 erschien ein für gegenwärtige "west"deutsche Berlinromane symptomatischer Titel: Atlantis Westberlin. Eine Erinnerungsreise in eine versunkene Stadt (Ch. Links Verlag: 2000), geschrieben von Herbert Beckmann, einem ehemaligen Insider der Westberliner Studentenbohème in den achtziger Jahren in den Bezirken Moabit, Wedding und vor allem Kreuzberg. Mit Truman Plaza, Germany hat das Buch zumindest die Gemeinsamkeit, dass man sich in Welten zurückversetzt fühlt, für die man diese Art literarischer Zeitmaschinen benötigen könnte. Wann bitte und wo bitte war das alles? Am liebsten schildert der Autor Beckmann die diversen Wohnungen, die ein mit beschränkten Mitteln lebender FU-Student eben erleiden muss. Gab es wirklich so viel Dritte-Welt-Verkommenheit in einer (west)deutschen Großstadt? (Es gab sie!). Weiterhin werden wir an die Kreuzberger Chaotenzeiten erinnert, während der der Bezirk halb in Flammen aufging bzw. abgesperrt wurde. Doch diese Zeiten sind vorbei. Kreuzberg ist heute von der Szene überwiegend verlassen. Nach der Wende hatte sich die Szene an den Kollwitz-Platz verlagert, und jetzt ist selbst der Prenzlauer Berg schon in den interessanten Teilen gentrifiziert. Worauf will also Beckmanns Retrospektive hinaus? Im Mittelpunkt steht Biographisches. Die eigene Lebens- und Stadtgeschichte ist diesem Roman Stoff genug, und er steht damit neben anderen Texten, die am Ende der 90er in die geteilte Stadt "zurückkehren", und sei es auch nur, um sie inklusive der unheimlichen Grenz- und Kontrollanlagen als Hintergrund für verwickelte Lebens- und Liebeskrisen oder eine Art Politthriller zu behandeln: Ersteres gilt für Martin Kurbjuhns Der Mann und die Stadt (Rowohlt, 1999); das zweite ist bei dem Roman, des englischen Autors Philip Hensher Die Stadt hinter der Mauer (Argon, 1999) der Fall, einem der wenigen neueren Berlinromane aus der Feder eines ausländischen Autors.[4]

Es gibt nun für den literarischen Mythos der geteilten Stadt komplexere Gründe von Ost- und Westautoren, in jene vergangenen Zeiten einzutauchen. Sehr viel schneller und radikaler verwandelte sich ja der Osten. Auch heute noch dominieren die Beispiele ostdeutscher erinnernder Wendeliteratur, wobei das alte Ostberlin ein so umfangreiches Thema ist, dass ich hier nur an das Kultbuch von Thomas Brussig Helden wie wir (Volk und Welt, 1995) erinnern will. Dem "Atlantis Kreuzberg" entspricht im Osten die "Prenzlberg"-Szene. Von Adolf Endlers Tarzan am Prenzlauer Berg (Reclam, 1994) bis zu neuerer dokumentarischer Literatur reicht eine umfangreiche Erinnerungsliteratur. Im Unterschied zu der eher auf nostalgische Wirkungen setzenden Marktlücke, die Beckmann mit seinem Atlantis Westberlin gefunden zu haben scheint, wird der Prenzlbergmythos in arbeitsintensiven Recherchen vor dem Vergessen verwahrt wie zuletzt in Annett Gröschners Dokumentation Durchgangszimmer Prenzlauer Berg: eine Berliner Künstlergeschichte in Selbstauskünften (Lukas Verlag, 1999). Auch sind literarische Biographien in der Ostberliner Bohème nicht nur zahlreicher als im Westen. Der Rückblick ist produktiv, die literarischen Mittel genau reflektiert. Zum Teil geschieht das aus einer noch spürbaren ideologiekritischen Konfrontation des alten Utopia Ost mit dem kapitalistischen Westen heraus wie in Schlesingers neuem Roman Trug (Aufbau, 2000) und seinem komplizierten Doppelgängermotiv. Katja Lange-Müller überraschte im letzten Jahr mit dem ironischen Prosastück Die Letzten (Kiepenheuer & Witsch, 2000), das vielleicht noch eine bewusst kalkulierte Dosis atmosphärischer Nostalgie für den skurrilen Alltag in einem vorsintflutlichen Druckereibetrieb enthält, generell aber eher von der abgeklärten Haltung der alten Ostberliner Bohème gegenüber zeugt: kein Zorn, noch nicht einmal in satirischer Form, auf gestohlene Lebensfreuden, aber auch keine Verklärung eben dieser trinkseligen eingeschränkten Vergnügungen.

Postideologische, oft zwerchfellerschütternde Alltagserinnerungen sind derzeit die Markenzeichen der jungen Ostautoren, die auf den Lesebühnen in Berlin auftreten, die naturgemäß allerdings kaum über Gymnasiastenzeiten hinwegreichen. Das ist natürlich anders bei der literarisch genau kalkulierten Prosa von Katja Lange-Müller und ihren verschachtelten Biographien (und dem Spiel mit der Archaik der handgesetzten Drucktechnik und deren subversiven Möglichkeiten gegen die Zensur). Schließlich ist ein besonders herausragenden Buch zu erwähnen, das allerdings noch der Epoche der Aufarbeitung einer Lebensphase und dem Projektionsort Prenzlauer Berg, der künstlerischen DDR-Bohème im engeren Sinne, angehört: Peter Wawerzineks Mein Babylon (Transit, 1995). Das Buch ist von Andreas Erb bereits einer genauen Analyse unterzogen worden [5], so dass ich mich hier auf den Hinweis beschränke, dass es Parallelen gibt zwischen Marc Svetovs ironischen Brechungen des Westberliner Stadtmythos und Wawerzineks stilistischen Mitteln der literarischen Erstellung einer "babylonischen" Metropole im Herzen der alten DDR: Übertreibungen, die bei Wawerzinek durch expressionistische Metonymien für den Namen der Stadt Berlin (Hure, Babylon) gegeben sind. Eine Art artifizieller "Großstadtrap" wird weiterhin durch aneinandergereihte Hör- und Sehprozesse erzeugt. Mein Babylon ist eine mit literarischen Mitteln produzierte mythische Berliner Stadtwelt. Aber der Abschied geschieht im Zorn auf die "kranke Stadt". Kann man dergleichen überhaupt mit dem Pendant der Westberliner Bohème anstellen?

Bevor ich Svetovs Beitrag zu diesem Thema vorstelle, will ich das bislang weniger beachtete Thema eines Westberliner Stadtmythos in der Gegenwartsliteratur umreißen. Erwähnt seien hier nur zwei Autoren: Peter Schneider und Ulrich Peltzer. Peter Schneider, seit dem Mauerspringer der Westberliner Experte für die geteilte Stadt, wich in seinem ersten fiktionalen Werk nach der Wende, dem Roman Paarungen (Rowohlt, 1992), der Gegenwart aus: Paarungen spielt in den 80er Jahren. Schneiders Charlottenburg, ein weiterer legendärer Ort der Westberliner - gehobenen - Bohème, ist ein in sich geschlossener Zirkel, zu dem aber auch ein Ostberliner Literat gehört. Schneider schließt an die Berliner Simulationen Bodo Morshäusers an. Gemeint ist die Wiederkehr des Gleichen in der Treibhausatmosphäre Westberliner insularen Narzissmus, der exzessiven Freizeit der dortigen Intellektuellen, sowie der Seelenprobleme der ehemaligen Linken. Die "Paarungs"-Probleme" und Mentalitätsunterschiede Ost-West sind auch mythische Relikte des literarischen Orts Berlin, die Schneider in seinem Berliner Gegenwartsroman Eduards Heimkehr (Rowohlt Berlin, 1999) fortsetzt.

Insgesamt interessanter für eine derzeit viel diskutierte Generationsproblematik, nach der die alte Westlinke durch eine neue Generation, ob sie nun "Berlin" oder "Golf" heißt, oder schlicht von den neuen metropolitanen Yuppies abgelöst wird, sind die umfangreichen Romane Ulrich Peltzers. Im neuen Roman Alle oder keiner (Ammann, 1999), der u.a. aus vielen Erinnerungsbruchstücken besteht, aber vor allem in Stefan Martinez (Ammann, 1995), der ausschließlich in den 80er Jahren spielt, ist die modernistische, in tausend Alltagsdetails zerfallende Behandlung des Milieus der damaligen Linken voll ausgefaltet, eine Technik, die vor allem an Joyce gemahnt. Es hängt also ungemein vom literarischen Stilwillen einzelner Autoren ab, mit dem vorhandenen Material einer durch den Geschichtsbruch erzeugten mythischen Vergangenheit etwas auszusagen.

Truman Plaza, Germany: Alan Salnatskys Erlebnisse im Berlin der 80er Jahre

Svetovs Variante dieser Westberliner Vorzeit scheint sich zunächst im Genre des mit filmischen Mitteln arbeitenden grotesken Slapsticks zu entfalten. Die filmischen Techniken werde ich in einem späteren Abschnitt genauer betrachten. Nur soviel an dieser Stelle: Ohne besondere filmhistorische Kenntnisse fühlt man sich an schnelle B-Pictures, eventuell auch an die Filme Woody Allens erinnert. Zweifellos sind Svetovs Techniken humoristisch, was die Lektüre des Buchs übrigens sehr unterhaltsam macht. Wenn die einzelnen Buchszenen grotesk, tragikomisch, ja bisweilen makaber anmuten, dann ist hierfür eine Mischung von Traditionen des Schwarzen Humor und des Film Noir verantwortlich.

Zunächst also zu den Erlebnissen der Figur des Alan Salnitsky aus Svetovs Roman, der - ähnlich wie der Autor - um die Endsiebziger in die Mauerstadt gekommen war, eigentlich nur, um seine ein Jahr zuvor nach Berlin gezogene Freundin Millie zu suchen und wieder mitzunehmen. Die Handlung ist nicht recht ernst zu nehmen. Millie ist ein Biest, so egomanisch und kaltherzig, dass die Geschichte hier gleich zu Ende sein könnte. Alan findet sie liiert mit dem Hawaianer Harvey, der erste in einer Reihe von verrückten Exemplaren amerikanischer Nationalität. Warum ist Alan dann aber, und nie recht glücklich, im Gegenteil gestresst, unterbezahlt, asthmageschüttelt und am Schluss mehr tot als lebendig immer noch in Berlin? Realistische Gründe lassen sich kaum aufweisen. Der Plot der unglücklichen Liebesgeschichte ist ebenso ironisch eingesetzt wie die Häufung slapstickartiger Missgeschicke, in die Alan permanent verstrickt ist. Die Situationskomik speist sich vor allem aus der Verrücktheit der Figuren. Alan selbst, der Ich-Erzähler, durchschaut wohl das Pärchen Millie-Harvey gerade so wie seinen ebenfalls egomanischen Wohngenossen Howard, der ihn weiteren Zumutungen aussetzt, nämlich in einer dreckigen, stinkenden, hoffnungslos überbelegten, vom geizigen Howard mit amerikanischen GIs vollgestopften Wohnung zu vegetieren. Gewiss kommentiert er sein Unglück melancholisch und nicht ohne sein Selbstmitleid dabei zu genießen. Seine Leidensbereitschaft mag an Woody Allen, seine Naivität an Forest Gump erinnern, jedoch ist der Typus des schüchtern-passiven Helden nicht strikt durchgeführt. Was Alans Neurose angeht, so ist er oft erstaunlich "normal", weiß sich manchmal heftig zur Wehr zu setzen. Spätestens ab dem Moment, als Alan seinen Lebensunterhalt in höchst realen, seinen Überlebenswillen herausfordernden Arbeitsbedingungen bei der Army verdienen muss, anfangs im Warenlager des amerikanischen Einkaufszentrums PX, dann als allseits angefeindeter "Büroleiter" in der Army-Wäscherei, der für das unkontrollierbare Chaos dieser Dienststelle zuständig ist, ist die Berliner Bohème auch ein ganz "normales" Martyrium eines arbeitenden Menschen. Ja, der gar nicht komische Ernst der Lage, sich buchstäblich vor körperlicher Überforderung und unberechenbaren Vorgesetzten zu retten, gerät in einen komischen Kontrast zu den anderen wahren Bohemiens in seinem Bekanntenkreis. Ganz besonders witzig ist z.B. die Erfahrung in diesen östlichen Künstlerkreisen - Svetovs Einblicke in den Prenzlauer Berg - , wo Alan wie ein exotisches, weil körperlich arbeitendes Menschenexemplar bestaunt wird und in dem Abschnitt "Ein Trottel! Ein Amerikaner!" der Seufzer des desillusionierten Idealisten ausgestoßen wird: "Ich würde emigrieren! Nach Ost-Berlin! Würde dort leben, nicht mehr ins Büro gehen jeden Tag um halb sieben, würde mich wohlfühlen dort wie ein Schaf in seiner Wolle, in seinem Faulpelz..."(S. 249). Alan hat aber im Unterschied zu dem Sammelsurium von Exzentrikern, die diese Welt bevölkern, auch eine psychologisch zu entschlüsselnde Motivation, sich all dem auszusetzen und seine Berliner Lehrzeit so hartnäckig zu verlängern. Nicht Millie ist der Grund, obwohl ihre "Rettung" Alan noch lange beschäftigt. Alan will Schriftsteller werden. Irgendwie dämmert ihm, obwohl er selbst die Gründe seines Bleibens in der Stadt im täglichen Überlebenskampf gar nicht mehr durchschaut, dass die gänzliche Abnormalität der in Berlin zu machenden Erfahrungen den Ort einzigartig macht, Erfahrungen, die zu Hause in den USA gar nicht möglich wären. Außerdem sind ja dort zu Hause, in South Bend, Indiana, und in Chicago die Eltern und "Grandma". Die Briefe von zu Hause sind ein interessantes Merkmal der in Kurzkapitel geteilten Komposition, hier also die wiederkehrenden Stimmen der besorgten Familie. Ein Übermaß an Nestwärme tritt in den wunderbar psychologisch zugespitzten Briefen mit ihren unzähligen Nachschüben und der Mischung von Mahnung, Drohung, Bevormundung und liebevoller Zuwendung zutage. Kurz: Alans Berlinaufenthalt ist auch eine Flucht vor dieser Vereinnahmung, eine Trotz- und Protestreaktion. Er ist weiterhin, was nun das Berlinbild des Romans betrifft, auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Berlin- und Deutschlandbild seiner Familie. Alans Großmutter ist es, die verstehen lässt, dass die zu erwartenden und begreiflichen Stereotypen aus dieser Perspektive ("Wie ist es in Deutschland? Sie haben keine Kultur. Sie sind Nazis, Hunnen und Mörder", S. 8) nicht im banalen Sinne, d.h. dem Alltag in Nachhitlerdeutschland, entkräftet werden können. Vielmehr - und hier ist Svetovs in Berlin spielende amerikanische Familiensaga sogar tragisch gefärbt - Alan muss sich fast tödlich ausgehenden Grenzerfahrungen aussetzen, um die Verdrängungen, die seine Familie, besonders "Grandma" mit dem barbarischen Europa vornimmt, zu bewältigen. Alan ist auf der Suche nach seinen Wurzeln, die aber in der von der Großmutter aus der Erinnerung gelöschten russischen Heimat liegen. Berlin bannt ihn, zwingt ihn auch deshalb zum Bleiben, weil ihn die lebenslangen Verdrängungen der europäischen Herkunft in seiner Familie belastet. Es liegt sogar in dem Erstickungsanfall am Schluss der Geschichte ein psychologisch abgründiger Wiederholungsakt von "Grandma's" verdrängtem Wissen vom Holocaust vor, den Alan an sich, an seinem Körper vornimmt.

"Crazy in Berlin"[6] - Facetten der amerikanischen Berlinwahrnehmung

Bis in die Gegenwart reicht die Auseinandersetzung, die jüngere, das neue aufregende Berlin erkundende Amerikaner jüdischer Herkunft mit der älteren Generation zu führen haben. Eines der eher seltenen neueren Beispiele eines literarischen Berlinportraits aus amerikanischer Sicht ist der Roman der Autorin und Journalistin Holly-Jane Rahlens, Becky Bernstein Goes Berlin (deutsch 1996). Fast wörtlich gleicht ein Dialog, den die New Yorkerin Becky mit ihrer Großmutter führt, den Beschwörungen von "Grandma" in Svetovs Roman. Die junge Amerikanerin hatte - das ist interessant für das Image des neuen Berlin als neue Metropole - Berlin und New York verglichen und erzählt, warum sie sich in den ersten Jahren nach der Wende hier so wohl fühlt: "Ich erinnere mich, dass ich Grandma Rosie aus Flatbush, Brooklyn, ursprünglich Wilna, Litauen, einmal erzählt hatte, Berlin sei ‘ein nettes New York, ein menschliches New York. Ein New York, in dem man leben könne’. Sie erlitt beinahe einen Nervenzusammenbruch. Ich weiß noch, wie sie sich an den Kopf schlug und an ihrem Babuschka zerrte. ‘So ein Quatsch!’ schrie sie und rang die Hände. ‘Berlin nett? Berlin menschlich? Leben in Berlin? Haben sie uns dort leben lassen? Meschugge! Du machst mich meschugge. Sollte meine eigene Enkelin so etwas zu mir sagen?'"[7]

Der Unterschied zwischen Holly-Jane Rahlens' pragmatischem und lebenslustigen Berlinbild — Verständnis für den Berlinhorror ihrer Großmutter, zeitgeschichtliche Relativierung des Faschismus und vor allem ihr Beharren auf den Lebensqualitäten des gegenwärtigen Berlin — und Svetovs ernsthafterer Behandlung dieser auseinanderklaffenden Perspektiven von Betroffenen und Nachgeborenen, Älteren und Jüngeren, liegt sicherlich in den unterschiedlichen Kulissen: der neue, angenehm an New York erinnernde Hedonismus im Berlin der 90er Jahre und die schäbige Frontstadt Westberlin bei Svetov. Schriebe Alan heute aus Berlin an "Grandma", so würde er kaum die Abgründe der damaligen Berliner Bohème, in den Wohnungen am Kurfürstendamm oder in Zehlendorf, die sich im Zustand äußerster Verlottertheit befinden, sowie die Sklavenarbeitsmöglichkeiten für abgebrochene Studenten im amerikanischen Ghetto der Army in die Waagschale zu werfen haben, um seine persönliche Leidensgeschichte zu inszenieren und sein Bleiben im Feindesland zu ertrotzen. Ein "crazy in Berlin" ist der älteste Stadtmythos, der im Ausland lebendig ist, wofür der Erfolgsfilm Cabaret, basierend auf den -Berlinerlebnissen Christopher Isherwoods Anfang der 30er Jahre, die suggestivsten Bilder geliefert hat (Isherwood, der zwar Engländer war, schrieb das Script für das in New York aufgeführte Musical, Grundlage des bekannten Films mit Liza Minelli).

In der Mauerstadt gehört zu dieser Mythologie ganz besonders die Melancholie des Kaputten, des Fragmentarischen, des Unvollständigen, die so lange — und übrigens noch bis in die Berlinfilme Wim Wenders hinein — das Bild der Stadt im permanenten Ausnahmezustand bestimmte. Dass Svetov diese Bildebene verstärkt, ist noch einmal im Kontrast zu Becky Bernstein Goes Berlin zu sehen. Holly Jane Rahlens' Geschichte einer Amerikanerin in Berlin beginnt z.B. auch nicht erst nach der Wende, aber Beckys Vorwendeberlin-Erlebnisse sind im Grunde nicht wesentlich unterschieden von der Zeit nach 1990. In der Hauptsache ist das Leben in Berlin turbulent, vergnüglich und erschwinglicher als in New York. Ganz im Unterschied zu Alans unglücklichem Start in Berlin, kam Becky das erste Mal "wahnsinnig verliebt", hatte Glück mit ihrem deutschen Geliebten, war aber, offenbar ein Klischee fürs längere Bleiben, überhaupt ein bisschen "wahnsinnig". Svetovs psychologisch kompliziertere Berlinfaszination schließt, wenn auch nicht explizit in Aussagen und Stadtmetaphern formuliert, an geschichtsphilosophisch Abgründigeres in der Berlinwahrnehmung an, und nicht nur der amerikanischen. Wie die Veranstalter der Ausstellung "Mythos Berlin" von 1987 auf dem Gelände des Anhalter Bahnhofs hervorhoben, war Berlin die symbolhafteste Stadt Europas, ja der Welt überhaupt, Ort unvereinbarer Widersprüche. So wie heute der Zeitgeist einer neuen Generation für die neuberliner Dynamik herhalten muss, wurde damals nichts weniger als der "Weltgeist" beschworen. "Aber es hat dem Weltgeist gefallen, in diesem 'no-man's-land' noch einmal ein Experimentierfeld, diesmal für die Exploration künftiger Lebensmöglichkeiten der Menschheit einzurichten, indem er hier die Grenze zwischen den beiden Weltmächten, die das Geschick der Menschheit bestimmen, durchlaufen ließ" (Nicolas Sombart)[8]. Dieser Berlinmythos bildet eine Brücke zu den amerikanischen Blicken auf Berlin, den in Agententhrillern ausgetragenen Mythen vom Kampf der Supermächte.

Höhepunkt der apokalyptischen Berlindeutung im postmodernen amerikanischen Roman ist Pynchons Gravity's Rainbow, wo Berlin (das der 20er Jahre und vor allem die Trümmerstadt) die "Totenstadt" und ein "traumatisches Bild zivilisatorischen Untergangs"[9] ist. Pynchons mythische Berlinbilder wie auch Billy Wilders Kultfilm von 1961, der zunächst als höhnisches Berlinbild der geteilten und an ihrer Teilung leidenden Stadt vom Publikum abgelehnte Film One two three [10], spielen eine Rolle für den Autor Svetov[11]. Allerdings sagt er in einem Interview, dass ihn an Pynchon eher der schwarze Humor interessiert, nicht dessen wissenschaftlich-akademischen Intentionen: "Pynchon is too learned -- always the best in the class -- for me"[12]. Das heißt nicht, dass Svetov nicht auch die Romanhandlung und die nur oberflächlich komischen Szenen mit einer zivilisationskritischen Symbolik unterlegt. Deren Grundlage aber sind die kulturkritischen Botschaften der Regisseure des Film Noir. Billy Wilder ist einer von ihnen, aber Svetov hat nicht nur Eins, Zwei, Drei im Sinne, der in der Tat mit seinen Slapstick-Techniken und seinem deutsch-amerikanischen Personenarsenal mit den Vorgängen an der "Truman Plaza" einiges gemein hat. Wichtiger sind, wie er sagt, "Wilder's other movies, especially the darker films of the 'forties and early 'fifties."[13]

Für den amerikanischen Blick auf Berlin gilt es nun, weitere Hintergründe aufzuzählen, die gewiss nicht nur in berühmten amerikanischen literarischen und filmischen Berlinbildern liegen. Schließlich war die Rhetorik des Kalten Krieges, die sich in der besetzten Stadt abspielenden Verdrängungen, die Angst vor dem Atomschlag, ein "normales" Deutschland- und Berlinbild für die im Nachkriegsamerika Heranwachsenden. Diesen Klischees, die für die literarische Rekonstruktion des Lebens in den amerikanischen Headquarters so naheliegen, begegnet der Autor aber mit einer genaueren Analyse des deutsch-amerikanischen Mikrokosmos in der Stadt. Es ist eine dunkle, obsessive Welt ungewöhnlich bizarrer Biographien. Es ist auch ein kondensiertes Abbild der Problematik der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Verdrängungen. Für die Deutschen in diesem Ghetto gilt kaum Besseres. Kurz, hier findet der Autor eine Filmkulisse, in der er sein - man kann sagen - leidenschaftliches Interesse am Film Noir mit seinem ambivalenten, d.h. Widersprüche aushaltenden Gesellschaftsbild, umsetzen kann.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit entstand in Hollywood kurzzeitig in den Jahren 1941-1958, d.h. nach der Ankunft der aus Nazideutschland emigrierten Regisseure wie Fritz Lang, Billy Wilder, Robert Siodmak und Otto Preminger eine einzigartige Kulturmischung. Die deutschen Regisseure interpretierten mit den Mitteln des expressionistischen Films der Weimarer Epoche amerikanische Kriminalgeschichten. Svetov: "The Film Noir is urban: in a sense, a real cosmopolitan connection between Berlin and L.A. and San Francisco. Germanic themes and aesthetics, transferred to America, emphasized the much darker side of American society."[14] Man hat dieses Vorbild im Auge zu behalten, um die Cosmopolis in Svetovs Roman nicht nur von ihrer heiteren Seite zu nehmen.

Cosmopolis der "Verrückten": Army-Ghetto, Juden, Berliner Bohème, Alans Suche nach seinen Wurzeln erklärt, warum die in den 80er Jahren eigentlich nicht so zahlreichen Begegnungsmöglichkeiten mit jüdischer Kultur in Berlin in dem Roman einen gewissen Schwerpunkt bilden. Wie die amerikanische Besatzungsarmee ist zu jener Zeit die kleine jüdische Gemeinde ein Sammelbecken zufällig in der Stadt Hängengebliebener. "Die Gemeinde, ein bunter Haufen von Displaced Persons, die nach dem Krieg in der verdammten Stadt geblieben waren, geschäftehalber; deutsche Juden gab es wenig. Die Jeckes lebten in New York, sie waren reich oder Nobelpreisträger," kommentiert Alan (S. 55). Ein paar dieser orthodoxen russischen Juden erscheinen dann auf Mr. Siegels eigentlich nur jüdischen Armeeangehörigen vorbehaltenen, recht zackig-militärisch durchgeführten Gottesdiensten. Mr. Siegels Aufstieg verdankt sich seiner Karriere bei den Besatzungstruppen nach 1945.

Er ist es dann auch, der Alan darüber aufklärt, was ihn in der Stadt erwartet. Während Alan stottert: "Berlin ist eine schöne Stadt," korrigiert Siegel: "Berlin ist eine harte Stadt, wenn man keine Arbeit hat. Von deiner Sorte habe ich viele hierherkommen sehen" (S. 63). Das wird Alan klar, als er im PX und in der Wäscherei andere Leidensgenossen trifft. Hier gibt es die üblichen weißen Amerikaner aus der Kleinstadt wie Skip oder den Schwarzen Rosie aus Lousiana. Gerade bei älteren Amerikanern gibt es die bizarrsten Biographien wie den aus Ungarn nach Amerika emigrierten Mickey Szalay. Er und seine aus dem Sudentenland vertriebene Frau, die anti-kommunistische Tiraden hält, haben den "American way of life" am radikalsten verinnerlicht: "Du lieber Gott, wo kommt das Geld her, wächst es auf den Bäumen? Wir müssen arbeiten, hart arbeiten, ehrgeizig sein," (S. 162) sagt Frau Szalay. Wie der PX ist auch die Wäscherei ein multinationaler Melting Pot. Ja, hier entwickelt Alan sogar besondere Sympathien, nämlich für einen der beiden Fahrer, den polnischen "Amerikaner" Ziggy Klusja, der mit dem anderen Fahrer, Rodney, sich in erbittertem Krieg befindet, aber auch mit den "white collars" im Büro. In der Wäscherei existiert eine Hierarchie zwischen körperlich arbeitenden "Sklaven" unterschiedlichster ethnischer Ursprünge und der oberen Etage. Das Bild dieses multikulturellen Ghettos an der Truman Plaza und in der St. Andrew's Kaserne ist noch um den äußerst komischen pakistanischen Militärarzt Dr. Prabhad El-Hakim und dem seltsamen Colonel und deutschen Laborleiter Amadeus Jack Bunyan zu ergänzen, bzw. dessen dubiose Rolle in der Geschichte, als Ziggy, der eigentlich ein vom FBI beschützter in der Mauerstadt versteckter Kronzeuge ist, ins Militärkrankenhaus kommt.

Der amerikanische Mikrokosmos in Berlin birgt, das dürfte anschaulich geworden sein, die Konfliktstoffe der heterogenen amerikanischen Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg. Die "Cold War"-Kulisse Berlins dient also auch der Einblendung gewisser Realitäten, die man nicht so bei den amerikanischen Streitkräften in Berlin vermutet: Da gibt es auch die osteuropäischen US-Immigranten mit ihrem übertriebenen Amerikanismus und ihren Verdrängungen, wenn sie auf den europäischen Kontinent zurückkehren. Svetovs Roman ist demnach wie Pynchons Gravity's Rainbow eine Auseinandersetzung mit der amerikanischen Kultur und Geschichte in der Berliner Surrealität, "der fremden und komplexen Stadt."[15] Diese Cosmopolis ist nicht als nostalgischer Rückblick zu verstehen. Von den Wohnanlagen, Einkaufszentren und Armeeangehörige gibt es auch kaum noch Spuren.

Svetovs Retrospektive kann schließlich als eine kulturkritische Reflexion verstanden werden. Eine zentrale Rolle spielt der Begriff und die Praxis des Kosmopolitischen. Bedenkt man die Vorbilder des Film Noir und die kosmopolitische Essenz echter Kulturvermischungen, die in den filmischen Meisterwerken gipfeln, scheint die Berliner Vergangenheit absurd. Von dieser Art kosmopolitischen Austauschs scheint sich nur ein Zerrspiegel im amerikanischen Ghetto zu finden. Alle, auch die Erfolgreichen wie Mr. Siegel, sind vom Zufall Hergeführte. Sie sind in einer Enklave zusammengedrängt und, wenn nicht gescheiterte, so doch schicksalhaft an diesem Ort gestrandete Existenzen, was auch für die damalige jüdische Gemeinde gilt. Zu einem kosmopolitischen Lebensgefühl an einem bestimmen Ort gehört aber ein gewisser Utopismus des Neuanfangs, die Anziehungskraft des Orts, sei es durch das Vorhandensein von Emigrantengemeinden oder dem Nimbus eines Orts, der Mischung der Kulturen. Dieser uramerikanische Traum findet sich aber seltsam konterkariert von einer ganz anderen Art von Berliner Kultursymbiose. In Erinnerung an Karl Schefflers berühmtes Schlagwort könnte man von einem "Notgebilde" sprechen, eine kosmopolitische Stadterfahrung, die sich Einengungen und Zwängen und einem eher zufallhaften Dableiben verdankt. Ob diese Cosmopolis jemals in dieser Weise bestanden hat ob sie vielleicht eine existentiellere Erfahrung darstellte als die heutige Internationalität der Stadt, wo man eventuell mit einer Zweitwohnung am Ort einer neuen kulturellen Dynamik lebt, sei dahingestellt. In erster Linie lädt die Berliner Vorzeit zu einer stilistischen Vertiefung des konflikthaften "Ghettolebens" ein. Der Film Noir nämlich, der hier noch einmal als Vorbild für Svetovs Techniken angesprochen werden soll, zielt nicht schlicht auf ein düsteres Gesellschaftsportrait mit den klassischen Motiven von Verbrechen und Leidenschaft (diese stoffliche Ebene der Verwandtschaft findet man natürlich nicht in Svetovs Berlinroman). Fasziniert hat den Autor vielmehr das differenzierte Bild des Sozialen und Humanen dieser Filme. Selbst die Massenmörder sind nie einfach böse, sondern komplexe Figuren. "A much more differentiated view of human personality and society was present in the Film Noir,"[16] betont Svetov. Für ihn hat diese Fähigkeit, Ambivalenzen auszuloten, durchaus etwas zu tun mit der damaligen komplexen Beziehung zwischen Deutschland und Amerika, "something that presumably has gotten lost today"[17], wie er kritisch und im Blick auf ein heute eher disneylandartiges Bild, das sich die Amerikaner von den Deutschen machen, sagt. Svetovs Kunstgriff ist es schließlich, den komplexen "human mishmash", wie er es nennt, stilistisch zu verdichten, worin seine Hommage an die psychologische Differenzialität des Film Noir besteht. So erlebt Alan immer eine dosierte Mischung aus Tragik und Komik im chaotischen Arbeitsalltag oder dem seiner Freunde. Das Bild der Stadt ist somit ein komisch überzogener allgegenwärtiger Überlebenskampf in der "harten Stadt Berlin"— wahrlich kein realistisches Stadtbild, aber genau dies ist auch die Intention des Autors:

The city I presented might not seem to the Germans to be their city but rather a chaotic human mishmash, but that doesn't mean it is an untrue portrayal of any urban environment ... I don't presume to know whether the city I wrote about is real, our metropolitan surroundings are artificial realities as well as real entities. An American ghetto? One survived and worked in the city, one was confronted by medical and mortal matters... Berlin was many ghettos, what else did anyone know.18

Die Erfahrungen, die in einer großen Stadt zu machen sind, sind demnach nicht allein von geschichtlichen Ausnahmesituationen, die die Berliner Vorzeit literarisch so interessant macht, gekennzeichnet. Gewiss waren die Umstände exzentrischer als anderswo, um gewisse existentielle Erfahrungen zu machen, wobei die "medical and mortal matters" vielleicht noch den greifbarsten motivischen Bezug zum Film Noir darstellen. So gibt es wohl einfache Situationskomik und Übertreibungen von gefährlichen Situationen — den Schlagabtausch etwa zwischen Millie und Harvey, in den Alan gerät, und zahllose Exzesse, bei denen der Held sich fast zu Tode schleppt. Gefährdete Körperlichkeit, Krankheit und Tod sind aber auch ständig präsent in den Berliner Erlebnissen. Der Erstickungsanfall am Romanende wurde schon erwähnt. Andere Figuren sterben, durch Unfall, Selbstmord oder kommen dem Tod bedrohlich nahe. Manchmal tritt bei diesen tragischen Einblendungen der schwarze Humor fast ganz zurück.

An anderen Stellen ist er so dick aufgetragen, dass die Situation ins Surreale kippt. In einer der krassesten Szenen in der TU-Mensa massakrieren sich Araber, Schwarze, Nepalesen, Tamilen, Inder, Pakistaner nach allen Regeln der Kunst. Persiflage verzerrt natürlich gewisse reale Gegebenheiten: Die dritte Welt war wohl in den 80ern recht deutlich auf die TU konzentriert. Hier spielt Svetov also mit exotischen Berlinbildern. Seltsamerweise, so erlebte es der Autor bei einer Lesung in Berlin, reagierte das Publikum bei gerade dieser Stelle, die an ein bekanntes Berliner Lokalkolorit anknüpft, besonders befremdet und sah in der Szene eventuell eine rassistische Phantasie. Das lässt daran denken, dass die gegenwärtigen Erwartungen an retrospektive Berlinliteratur von einem historisch fixierbaren Ort auszugehen scheinen, so dass selbst relativ einfache Stilmittel der Übertreibung nicht eingeordnet werden können. Generell wird man aber - und dies ist vielleicht auch zu einfach - den schwarzen Humor Svetovs als den amerikanischen "anderen" Blick auf die Berliner Vergangenheit verstehen können Dazu kommt, was Svetov mit Wawerzinek gemein hat, dass er ein Stadtbild mit sprachlichen Mitteln erstellt: die schillernde, fragile Kosmopolitanität des amerikanischen "Ghettos" bzw. "der Ghettos", um auch die Bohèmewelten einzuschließen, für die ästhetische Vorbilder zumindest ebenso wichtig sind wie eine Berliner Ausnahmesituation. Darin einbezogen ist die Bohème der eher studentischen und künstlerischen Kreise.in Westberlin.

Betrachten wir im Vergleich Svetovs durchaus ebenfalls von diesem linken Zeitgeist geprägte bohèmehafte Existenzen. Nebst Howard und seine Freundin Elfriede zählen hierzu der verschrobene Künstler Karl von Andreas, dazu einige Frauenbekanntschaften diverser Nationalität, aus den USA, England, Frankreich. Wie die amerikanischen Lebenskünstler, namentlich der neurotische Howard, ist Karl von Andreas, ein Wanderer zwischen den Welten, auf der Flucht und vor allem im Clinch mit der Familie. Die billigen Quartiere und der alternativen Ruf der Stadt stellten die Nischen für gesellschaftliche Außenseiter bereit. Der Unterschied aber zu Beckmanns Atlantis Westberlin besteht darin, dass in Truman Plaza, Germany auch diese Periode gesellschaftlichen Protestverhaltens ins Bild des kosmopolitischen "Notgebildes" gefasst wird. Auch die jüngeren Chaoten aus aller Welt sind Gestrandete, ähnlich wie die amerikanischen Armeeangehörigen. Ihr Bleiben ist ein zufall- und schicksalhaftes, weniger links als neurotisch motiviert. Letztlich, so wird man sagen können, ist das Leben in großen Städten vielleicht gar nicht so in Brüche und historischen Etappen bestimmter Lebensstile, bzw. subkulturellen Gruppenverhaltens einzuteilen. Die neueren literarischen Bearbeitungen der eingangs erwähnten Bohèmewelten im Berlin der späten 90er Jahre sind alles andere als von einem einheitlichen Bild der "Generation Golf", ihrem Hedonismus und Narzissmus, geprägt: Es gibt sie in Judith Hermanns Sommerhaus, später. Es gibt aber auch den fortbestehenden literarischen Reiz der kaputten Mietshausromantik und Abbruchquartiere, wie in Inka Pareis Die Schattenboxerin zu sehen ist. Berlin ist wohl auch heute noch "viele Ghettos", die nebeneinander existieren.

Amerikanische Blicke auf Berlin nach der Wende

Der "andere" der amerikanische Blick, so zeichnet es sich als Grundthema ab, stellt deutschen Normalitätswünschen das Thema der nach wie vor nicht "normalen" Metropole entgegen, bzw. setzt sich mehr mit der Nazi-Vergangenheit der Stadt in Hinblick auf die Jetztzeit auseinander. Unmittelbar nach dem Mauerfall schildern amerikanische Reportagen zur Lage in der neuvereinten Stadt auch die ambivalenten Emotionen, die der geschichtliche Erinnerungen bergende Ort für sie persönlich hat, ganz besonders eben, wenn sie jüdischer Herkunft sind, wie Robert Darnton in seinem Berlin Journal 1989-1990. "Was I about to land in the capital of the 'evil empire', or was that idea as empty as Ronald Reagan's rhetoric about the Soviet Union?"[19] Das Thema der von der eigenen Geschichte gebannten Stadt und der im Umbau zur Hauptstadt drohenden Gefahr eines Überbauens der "places of memory" ist in amerikanischen nicht-fiktionalen materialreichen Untersuchungen vorhanden, so in Alexandra Richies monumentaler Studie Faust's Metropolis. Die Autorin schiebt in der Einleitung auch eine persönliche Erinnerung ein: "On a cold grey day in 1996 I stopped in at the Red Rathaus, Berlin's old city hall, to see the display of the new architectural plans for the city."[20] Der Wille zur neuen Zukunft wird ihr von einem jungen Mann in Designerklamotten vorgeführt. Es folgt bei Richie dann eine Auflistung der an den Nationalsozialismus erinnernden Orte und deren Problematik bei der Hauptstadtgestaltung.

Es soll nichts gegen Richies kapitale Forschung gesagt werden - die moralische Diskussion der deutschen Hauptstadt ist jedoch eine auffällig vorherrschende Perspektive der bei ihr in ihrem "Todeswillen" und faustischen Unruhe portraitierten Stadt. Ein amerikanischer Berlinmythos in seiner letzten Variante? Die Geschichtsstadt Berlin ist eine "incredible city", eine in ihren Widersprüchen und Neudefinitionen faszinierende Stadt. Sie ist aber auch die mahnende Stadt der Denkmale und der geschichtlichen Spuren. Ohne Mauer scheint für Alexandra Richie Berlin wohl ein bisschen nackt, so dass die Mahnmale und Monumente für die überlieferte unheimliche Stadtwahrnehmung einspringen müssen. Kann Berlin aber eine "normale" Stadt werden? Der Wunsch der Deutschen nach "Normalität" ist, um den Berliner Korrespondenten der New York Times Roger Cohen aus einem im Tagesspiegel[21] veröffentlichten Interview zu zitieren, weder den vielen jüdisch-amerikanischen Lesern der New York Times, noch für ihn selbst so einfach nachzuvollziehen. Menschen mit den Erinnerungen der Cohens sowie vieler der Leser in New York und Amerika werden weiterhin den Ort hinterfragen. Sie werden weniger von einem stereotypen Geschichtsmythos (der mit der Frontstadt ja zu Ende gegangen ist) ausgehen, als am Verhalten der Deutschen, "the German soul" (Cohen), interessiert sein.

Eine "Begegnung mit Berlin" schildert auch Tom Freudenheim, stellvertretender Direktor des Jüdischen Museums in Berlin. Auch für ihn galt Berlin als "Zentrum allen Übels".[22] Jedoch öffnete er sich der Stadt und ihrer Anziehungskraft gegenüber, zunächst bei Besuchen in der Nachkriegszeit im "Stolz des Amerikaners auf die besondere Rolle Berlins als Insel der Freiheit". Schließlich ist er nach seiner Übersiedlung in die Stadt von ihrer Internationalität, dem verwirrenden und aufregenden Dynamik und den neuen kulturellen Aufgaben buchstäblich gepackt. Freudenheims Optimismus geht so weit, dass er festzustellen meint, dass Berlin "eine der jüdischsten Städte der Welt" ist. Ein wahres Revival gibt es in der neuen jüdischen Gemeinde. "Die Themendiskussion in Berlin ist so sehr vom jüdischen Diskurs durchdrungen, dass man es fast als eine Fortführung der Infiltration von jiddischen Schlüsselwörtern ansehen könnte, die die Sprache der Berliner Anfang dieses Jahrhunderts kennzeichnete."[23] Es gibt wohl keine einheitliche Haltung gegenüber Berliner Vergangenheit und Neubeginn gerade aus jüdisch-amerikanischer Perspektive. Freudenheim steht ja mit der Leitung des jüdischen Museums an einer bestimmten Schaltstelle kulturpolitischer Entscheidungen im gegenwärtigen Berlin - was wohl seine positive Sichtweise der Berliner Zukunft erklärt.

Svetov, der keine solchen offiziellen "statements" zu machen hat, zieht seine "gemischten Gefühle" gegenüber dem gegenwärtigen Berlin eher aus der sogenannten "Normalisierung" der Stadt:

I have an ambivalent view of the place. So, all I can say is it isn't the city I came to. Not being the Frontstadt of the Cold War has made it more like other cities in Europe. Being more normal entails nationalistic and chauvinistic elements being shown more openly, less ashamed than in days when the admonition was, ‘What will the Americans think?’ [...] Has Berlin become more or less cosmopolitan? It has become more normal. Certainly, the divided city under occupation wasn't what I would call a cosmopolitan bug, but since it is a big city, large cities being as they are, it naturally remains as provincial as it always was. I don't like the resurgence particularly among the young of xenophobioa, racism, right-wing extremist view, but that is Germany and Europe, too, these things aren't being invented out of the whole cloth just yesterday, are they? Their roots are in the society. Do I like the place? My feelings remain mixed ...[24]
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ENDNOTEN

[1] Magenau, Jörg. "Die neue Lust am Erzählen." Zeitschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft 5 (2000): 27-30.

[2] Den Ingeborg-Bachmann-Preis selbst bekam ein weiterer Autor mit Wohnsitz in Berlin: Georg Klein.

[3] Svetov, Marc. Truman Plaza, Germany. Trans. Petra Schreyer. Berlin: Transit, 2000. Zitate aus diesem Roman werden mit der Sigle "S" ausgewiesen. Von dem Autor liegt ebenfalls ein Erzählband vor: Der verhangene Spiegel (Rowohlt, 1986).

[4] Ein reizvoller neuer Roman mit einem russischen "anderen Blick" ist der Roman von Wladimir Kaminer, Russendisko (Manhatten: 2000).

[5] Andreas Erb, "Neues gibt es aus den Städten - aus den Städten gibt es nichts." Peter Wawerzineks Berlin. Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre, hg. A. Erb unter Mitarb. von H. Krauss und J. Vogt. (Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag: 1998) 167-185. Fazit der Analyse ist: "Erinnerung [...] hat bei Wawerzinek nicht die Funktion eines 'ostalgischen' Rückblicks auf vergangene Zeiten, hier wird die DDR nicht posthum zu einem 'goldenen Zeitalter' umgeschrieben; ebenso wenig ist der Text eine mit politischer Energie vorgetragene kritische Abrechnung mit einem 'System' - vielmehr karikiert der Roman eine gesellschaftliche Haltung, die ein Selbst nur als Party-Inszenierung kennt, dabei jedoch ständig bereit ist, es unter andere Maximen - 'Verlockungen' zu stellen" (181).

[6] Nach dem (Nachkriegs-) Roman von Thomas Berger Crazy in Berlin (1958). Siehe Albrecht Thiemann und Heinz Ickstadt, "Die Faszination des Befremdlichen. Berlin in der amerkanischen Literatur des 20. Jahrhunderts." Welcome to Berlin. Das Image Berlins in der englischsprachigen Welt von 1700 bis heute. Vierzehn kritische Betrachtungen. Mit einem Vorwort von Anthony Burgess. hg. Jörg Helbig (Berlin: Stapp, 1987) hier 77.

[7] Rahlens, Holly-Jane. Becky Bernstein Goes Berlin. Trans. Sigrid Ruschmeier. Zürich: Piper, 1996. 233 f.

[8] Mythos Berlin. Zur Wahrnehmungsgeschichte einer industriellen Metropole. Eine szenische Ausstellung auf dem Gelände des Anhalter Bahnhofs. Katalog zur Ausstellung 13. Juni - 20. September (Ästhetik und Kommunikation, 1987). Darin: Nicolaus Sombart: "Viermal Berlin. Berliner Mythologie", 17-20, hier 20.

[9] Thiemann/Ickstadt, 79.

[10] Hierzu Elfi Betttinger. "1,2,3 - Billy Wilders Berlin-Filme." Welcome to Berlin, 175-190.

[11] Des weiteren die Nachkriegsdarstellungen des Italieners Curzio Malaparte sowie Joseph Hellers Catch-22 und Louis-Fernand Céline. Besonders Malapartes Darstellungen des Schocks der US-Soldaten auf dem amerikanischen Kontinent, die von Faschismus korrumpierte europäische Kultur vorzufinden, interessieren den Autor. Wiederum geht es um Ambivalenz in der Kulturbegegnung, die bei Malaparte vorgebildet ist: Weder das Klischee des ungebildeten Amerikaners noch der europäischen überlegenen Hochkultur lässt sich auf irgendeine Weise noch nach 1945 aufrechterhalten.

[12] Interview mit dem Autor im September 2000 in Berlin.

[13] z. B. Double Indemnity (1944) und Sunset Boulevard (1950).

[14] Interview mit M.S.

15] Thiemann/Ickstadt 81. Die Autoren ordnen hier auch R.G. Solmssens Princess in Berlin von 1980, das Pendant zu Isherwoods Berlinportrait, ein, weiterhin die die Mauerstadt und das "Verdrängen" thematisierenden Berlingeschichten von Joyce Carol "Ich bin ein Berliner" und "Our Wall" (Last Days. New York: 1984).

[16] Interview mit M.S.

[17] ebd.

[18] ebd.

[19] Darnton, Robert. Berlin Journal 1989-1990. New York, London: WW. Norton & Comany, 1991. Deutsch: Der letzte Tanz auf der Mauer. Berliner Journal 1989-1990. München: Hanser, 1992.

[20] Richie, Alexandra. Faust's Metropolis. A History of Berlin. London: Harper Collins Publishers, 1998. xx ii

[21] Amend, Christoph. "Die Geister der Gegenwart." Tagesspiegel 24. September 2000. (Cohen ist gebürtiger Brite jüdischer Abstammung, seit zwei Jahren in Berlin, "Chief of Bureau" der New York Times).

[22] Freudenheim, Tom L. "Begegnung mit Berlin," Berlin. Die Hauptstadt. Vergangenheit und Zukunft einer europäischen Metropole. hg. Werner Süß und Ralf Rytlewski. Berlin: Nicolai, 823-834. hier 823.

[23] ebd. 831-832

[24] Interview mit M.S.