glossen: rezension
Klaus Schlesinger, Trug (Berlin: Aufbau Verlag 2000)

Klaus Schlesinger wurde 1937 in Berlin geboren, lebt immer noch in Berlin, schreibt über Berlin. Nachdem er 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen worden war, übersiedelte er mit einem Ein- und Ausreisevisum nach Westberlin und wurde zum Grenzgänger. Damit begann eine Art Berliner Doppelexistenz, deren verwirrende Manifestationen von Fremdheit und Vertrautheit er in Essayform rückblickend in den Bänden Fliegender Wechsel (1995) und Von der Schwierigkeit, Westler zu werden (1998) thematisiert. Bereits im Jahre 1977, also vor seiner Ausreise, hatte er jedoch schon mit einem fiktiven Dokument, der Doppelgängergeschichte “Die Spaltung des Erwin Racholl” aus dem Sammelband Berliner Traum, aufgewartet, in der er die psychische Schizophrenie der Ost-West-Trennung erforscht. Jetzt, im Jahre 2000, setzt er das Thema in dem spannungsreich aufgeladenen Verwirrspiel Trug fort, das sich stellenweise wie ein Kriminalroman liest.

Der Titel sagt bereits einiges über den Band aus, denn um Täuschungen und Enttäuschungen, ja Betrug, geht es durchweg. Das beginnt bereits mit dem Untertitel “Roman”, den das schlanke Bändchen vorgibt zu sein. Wohl eher aber handelt es sich hier um eine moderne, mit den Requisiten der Romantik ausgestattete Novelle, die die unerhörte Begebenheit einer ost-westlichen Doppelgängerexistenz erzählt. Es handelt sich um geborgte bzw. gestohlene Identitäten, die in traumhafter Manier in verschiedene Zeitebenen greifen, kurz: um den Versuch, eine Biographie alternativ zu gestalten. Im Grunde genommen geht es um eine sehr persönliche Frage, die Schlesinger bereits in der Chronik Fliegender Wechsel an sich selbst gerichtet hatte: “Was wäre aus dir geworden, wärst du fünf Kilometer weiter, statt im Nordosten, im Nordwesten geboren worden ...?”

Die Handlung spielt an nur drei Tagen Mitte der achtziger Jahre, blendet dann jedoch in einem Hin und Her in die sechziger Jahre ein. Der ehemals aus Ostberlin in den Westen geflüchtete, in Düsseldorf wohnhafte Immobilienmakler Strehlow will in Westberlin einen nicht ganz sauberen Geschäftsdeal abwickeln und steigt in die U-Bahn, die allerdings wegen Betriebsstörung an der Friedrichstraße hält. Er steigt aus, und geistesabwesend steuert er auf das Café “Espresso” an der Ecke Unter den Linden zu, in dessen Fensterscheibe er sich seinem Spiegelbild, seinem Abbild, einem Doppelgänger, dem “Anderen” bzw. seinem Alter-ego gegenüber sieht. Nicht nur gleicht der Andere, der sich Hans Christian Skolud nennt, ihm bis aufs Haar, er kennt auch seine Biographie erstaunlich genau, teilt Erlebnisse mit ihm, letztlich auch die im Osten gebliebene Freundin Inka. Nur ganz allmählich, ganz am Schluß wird Strehlow klar, daß Skolud die östliche Variante seines Lebens verkörpert, nämlich das, was aus ihm geworden wäre, wäre er geblieben. Es geht also um zwei Lebensformen unterschiedlicher Sozialisierungen, um die Spannung zwischen Daseinsentwurf und geführtem Leben, um Hoffnungen, Enttäuschungen, letztlich um die Frage, welche Charakteranlage und Eigenschaft die eine und welche die andere Gesellschaftsform fördere. An Stereotypen fehlt es nicht. Dem krassen Materialismus der Bundesrepublik steht die anheimelnde Wärme der DDR gegenüber. Doch letztlich kommt keines der beiden Gesellschaftssysteme gut weg, denn Strehlow flüchtet ja in einem Diplomatenwagen in den Westen, geht dann aber in einem traumhaften Moment angehaltener Zeit gar nicht unglücklich in die alten Verhältnisse zu der immer noch heiß geliebten Freundin Inka in den Osten zurück, während Skolud mit seinem Paß in den Westen geht.

Sieht man dieses Buch als Projektion zweier Daseinsentwürfe für dieselbe Person Strehlow/Skolud, so handelt es sich hier um einen surrealen Endlosprozeß von Wiederholungen, die ins Nirgendwo führen. Die Wahl zwischen der BRD und der DDR sei ihm schon immer vorgekommen wie die Wahl zwischen Pest und Cholera, hatte Schlesinger in seinem Essayband Von der Schwierigkeit, Westler zu werden gesagt. Letzterer Titel suggeriert, daß der Autor auch weiterhin an eine Art Provisorium bzw. an einem unverbindlichen Grenzgängerstatus festhält. Trug scheint diesen Gedanken fortzusetzen. Unverbindlichkeit gerinnt jedoch nicht zu Melancholie. Schlesingers geschickte Erzählstruktur mit ihren Rückblenden, Vorblenden, dem Ineinander von Wirklichem und Phantastischem und dem breitgefächerten Instrumentarium von romantischen Motiven (wie Spiegelbild, Doppelgänger oder Verlust des Schattens) schafft eine Atmosphäre ironischer Distanzierung, den Glanz des Unwirklichen. Ein Spiel letztlich, eine Art Detektivspiel könnte man sagen, das Schlesingers bitterböse Schlußfolgerungen über die BRD und DDR in den beiden oben erwähnten Essaybänden relativiert.

Christine Cosentino
Rutgers University