glossen: rezensionen


Birgit Vanderbeke. Ich sehe was, was Du nicht siehst. Berlin: Alexander Fest Verlag, 1999.

Die 1956 im brandenburgischen Dahme geborene, nun vorwiegend in Südfrankreich lebende Autorin hatte schon mit ihrer ersten Erzählung, Das Muschelessen (1990), große Aufmerksamkeit hervorgerufen. Dieser Debüttext, für den ihr der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen wurde, listet variantenreich die patriarchalischen Verfehlungen eines zum Abendbrot im Kreise der Familie nicht präsenten Vaters auf, den er am Ende metaphorisch in den Abfalleimer verbannt. Nach verschiedenen anderen Texten und dem Bestseller Alberta empängt einen Liebhaber, einem Spiel mit Identitäten, um eine nicht-verwirklichte Liebschaft, erhielt sie 1997 für ihr Gesamtwerk den Kranichsteiner Literaturpreis.

Ich sehe was, was du nicht siehst ließe sich als Geschichte eines Abschieds von Deutschland lesen, eines von vielen in der deutschen Literatur. Die Erzählung ließe sich auch als eine Lobpreisung des Lebens auf dem Lande t verstehen und somit als eine moderne Variante der Privilegierung der Natur gegenüber der Zivilisation in der Folge von Jean-Jacques Rousseau.

Eine junge Frau, deren Mietwohnung von neuen Besitzern in eine Eigentumswohnung verwandelt wird, steht vor der Alternative entweder das verlangte Kaufgeld zu zahlen oder aber auszuziehen. Sie entschließt sich, mit ihrem sechsjährigen Sohn, dessen Vater, Renee, irgendwo in der Welt seinem Beruf nachläuft, außer Landes zu gehen, weil die Verhältnisse in Deutschland ja sowieso überall gleich miserabel wären. Die Adenauerplätze, die Gustav Heinemann-Straßen, die Grundschullehrerinnen, die Gaby heißen und Weizenkleie und Vorzugsmilch im Reformhaus kaufen und die Postboten, die lieber einen “Niemand-Angetroffen-Zettel” in den Briefkasten werfen, als die Einschreibesendung nach oben in den vierten Stock zu bringen, gehen ihr alle auf die Nerven.(8) Hinzu kommt, daß ihre Mutter weder sie noch ihren Sohn versteht und die Beziehungen zu alten Freunden und Bekannten unwirklich geworden sind. Minck z. B. der im Gegensatz zu ihr noch im Osten wohnt, ist kaum anders als über seinen Anrufbeantworter zu erreichen, Silvana ist weitgehend mit sich beschäftigt und Lembek, der Liebhaber für eine Nacht, fühlt sich weiterhin von der Stasi verfolgt.

Das alles hinter sich zu lassen verspricht Leben. Es zieht sie nach Südfrankreich in ein Haus, das der Großmutter gehört, an einen Ort, ähnlich dem des Wohnorts der Autorin, so vermutet man, an dem alles schöner, natürlicher und einfacher ist als zu Hause. Die Sterne sehen aus wie auf den Bildern von VanGogh; die mitgebrachte Katze fängt an, wie es sich für eine Katze gehört, Mäuse zu fangen; der Hund, wie es sich für einen Hund gehört, stinkt nach Hund; der Postbote, wie das eben Postboten in Südfrankreich so tun, winkt, wenn er mit dem Auto vorbeifährt;(38) es duftet nach Kartoffelfeuern und Steinpilzen; und die Bäckerin gibt ihr die Brote so, wie sie es will. (83) Auch ist das Leben auf dem Lande in rechtem Maße gesellig. Die Erzählerin geht, was sie in der Stadt nicht tun konnte, mit ihrem Sohn an den Fluß, um zu baden, sammelt Brombeeren, später auch Holz für den Ofen und Steine für eine Mauer, schließt Freundschaft mit den Nachbarn, erfreut sich an einem Dorffest und kann wieder am hellen Tage mit Rene, ihrem sie nun öfter besuchenden Mann, ins Bett gehen, weil man nicht auf Nachbarn und dünne Wände zu achten braucht. Die Erzählerin ist auf dem französischem Dorf und bei sich angekommen. Man gönnt es ihr von Herzem.

Und doch ist es keine Geschichte des Abschieds von der Stadt und von Deutschland, denn die Erzählerin bleibt ja mit ihrem Berufsleben, das ihr den Landaufenthalt in Frankreich finanziert, wenigstens virtuell in den verschmähten Gegenden. So kann man es fast überall gut aushalten; Auto, Telefon, Fax und E-mail machen es möglich. Auch haben wir es nicht mit einer Variante des Naturlobs zu tun. Statt eines Streites zwischen Zivilisation auf der einen und Natur auf der anderen Seite, in dem sich die Erzählerin auf die Seite der Natur zu stellen scheint, geht es im Text um die angenehme Verbindung beider. Es ist die Geschichte einer Pendlerin zwischen Frankfurt und seinem ländlichen Vorort in Südfrankreich. Das erspart dem Text die Schwere und eventuell die Melancholie, die sich aus einer wirklichen Trennung von Kindheit, Freunden und kulturellem Umfeld in Deutschland ergäbe.

Es ist einiges Lobenswerte über Vanderbekes Erzählung zu sagen. Sie ist flüssig geschrieben, die Wurstigkeit des Dialogs und die überraschenden Themenwechsel vermitteln eine wache, urbane Sensibilität, die den Text weitgehend vor Selbstmitleid und Didaktik schützen. Und einige Passagen sind poetisch ergreifend. Doch enthält der Text auch einen Anteil an unangenmessenem Pathos einer von Deutschland gekränkten Erzählerin, die, weil die Gründe des Weggehens nicht zwingend sind, sich bemüßigt sieht, sich die Kälte des Lebens in deutschen Städten immer wieder ins Gedächtnis zurückzurufen und die Naturnähe und Nestwärme des französischen Dorfes zu preisen. Dafür bezahlt die Autorin einen ästhetischen Preis: Es unterlaufen ihr, teilweise hart am Rand der unfreiwilligen Parodie, eine Reihe von Klischees.

Ist dieser Text ein Beispiel für die 1992 von Uwe Wittstock, Cheflektor für deutsche Gegenwartsliteratur im Hause S. Fischer, geforderte “neue Lesbarkeit”? Durchschaut die Autorin ihre Erzählerin? Sind die Klischees nichts weiter als der Versuch, sich aus der Konvention des Unkonventionellen zu befreien, oder gar ein stilistische Mittel, die Erzählerin als Inhaberin von Klischeevorstellungen zu charakterisieren? Manchmal hat es den Anschein, z. B. wenn Renee, dessen Job es ist, den Besitzern von teuren Kunstwerken Gutachten darüber zu erstellen, ob diese denn auch echt seien, ihr bedeutet, dass die von ihr geliebten Van-Gogh-Sterne auf dem Originalbild ganz anders aussehen. Oft aber auch nicht. Und doch, es ist offensichtlich, diese Erzählerin schreibt mit viel Talent. Man ist auf Neues von Ihr gespannt.

Wolfgang Müller
Dickinson College