glossen: literarische texte


Christos Brief
Lilian Faschinger

Ich liege auf dem Sofa, den Brief lesend/schreibend, den Christo mir aus der Anstalt für abnorme Rechtsbrecher in der Nähe des Botanischen Gartens im fünften Pariser Bezirk geschrieben hat: Scheherazade, mein Bernsteinauge, mein Lapislazuliauge, was tust Du? Hedwig, mein Goldblättchen, mein Elfenbeinknöchelchen, Du fehlst mir. Ach, mein persisches Granatäpfelchen, mein österreichisches Mostbirnchen, lange habe ich Dich nicht gesehen. Ich sehne mich sehr danach, Dich einzupacken – nicht in gewöhnliches Packpapier, in Alufolie würde ich Dich hüllen, in Seidenpapier, in Büttenbögen, in feinstes Lumpenpapier. Der Anstaltspsychiater, ein Freudianer und Mitglied der Französischen Akademie der Wissenschaften, nennt meinen Verpackungstrieb abnorm und meint, er habe mich durch eine eineinhalb Jahre dauernde Psychoanalyse von dieser neurotischen Störung geheilt. Nach der letzten Sitzung sagte er: Und wieder hat sich die Genialität meines verehrten Lehrers trotz jahrzehntelanger Anfeindungen von allen Seiten auf das Glanzvollste bewiesen. Mir, der ich Ihnen, mein lieber Christo, während der vielen Sitzungen mit gleichschwebender Aufmerksamkeit, frei von Vorurteilen, eigenen Zielvorstellungen und persönlichen Meinungen zugehört habe, sind die unbewußten Wünsche und Phantasien, die sich hinter Ihrem Verpackungstrieb verbergen, nun klar. Unser gemeinsames intellektuelles, vor allem aber auch emotional-affektives Durcharbeiten Ihres Problems hat sich gelohnt. Daß ich mich von Ihnen so viele Male in anstaltseigenes Papier einpacken ließ, ist nicht umsonst gewesen. Einmal mehr hat sich gezeigt, daß Psychisches niemals zufällig, sondern durch die Lebensgeschichte des Patienten bedingt ist und daß die entscheidenden Motivationen menschlichen Verhaltens unbewußt sind. Ich darf kurz rekapitulieren: Die ausschlaggebende Wendung zum Positiven hat Ihr Fall mit einer Ihnen nach großen emotionalen Widerständen schließlich doch bewußt gewordenen Erinnerung genommen, der außerordentlich signifikanten Erinnerung, daß Ihre Mutter Sie als Kleinkind aufgrund eines stark ausgeprägten Hygienebewußtseins ungewöhnlich oft, nämlich zwei- bis dreimal pro Stunde, gewickelt hat.

Die Aufdeckung dieser bedeutsamen Tatsache legte den Schluß nahe, daß bei Ihnen Gefühle der Liebe, Zuwendung, Geborgenheit, ja selbst der Erotik verknüpft sind mit dem Prozeß des Eingewickeltwerdens beziehungsweise – aufgrund einer unbewußt von Ihnen herbeigeführten Aktivierung dieser passiven Rolle – des Einwickelns. Liebe können Sie ausschließlich durch Einwickeln beziehungsweise Verpacken ausdrücken; sexuelle Lust kann in Ihnen ausschließlich durch Einwickeln beziehungsweise Verpacken geweckt werden. Das Interessante an Ihrem Fall, lieber Christo, ist, daß Sie instinktiv den richtigen Weg gewählt haben, um diesen Einwickel- beziehungsweise Verpackungstrieb unschädlich zu machen, nämlich den der Sublimierung. Ihr Fall, mein lieber Christo, ist in mehr als nur einer Hinsicht die geradezu triumphale Bestätigung der Erkenntnisse meines verehrten Lehrers. Solange Sie Ihre Verpackungskunst ausüben, Ihren Trieb also auf die künstlerische Ebene transponieren, werden Sie die Grenzen angemessenen sozialen Verhaltens nicht überschreiten. Wenn Ihnen jedoch bornierte, schwachköpfige, unfähige gesellschaftliche Institutionen wie das Pariser Stadtbauamt verbieten, Ihre Kunst auszuüben, dann beraubt man Sie damit des unbedingt notwendigen Ventils für Ihren neurotischen Zwang. In die Enge getrieben, sehen Sie sich gezwungen, sich durch ungesetzliche Handlungen – und das Verpacken von Personen gegen ihren Willen stellt zweifellos eine solche ungesetzliche Handlung dar – Erleichterung zu verschaffen. Mein lieber Christo, ich werde Ihren Fall der Französischen Akademie der Wissenschaften vortragen und meine Kollegen davon zu überzeugen suchen, daß Sie zu Unrecht in dieser Anstalt schmachten. Es ist meine Absicht, dem Obersten Gerichtshof eine von möglichst vielen Kollegen unterzeichnete Petition vorzulegen, mit dem Ziel, Ihre vorzeitige Entlassung zu bewirken. Außerdem werde ich tun, was ich kann, um Ihnen eine international gültige behördliche Genehmigung zu verschaffen, die Ihnen unter Rücksichtnahme auf Ihr psychisches Wohlbefinden gestattet, jedes Objekt, das Sie verpacken wollen, auch verpacken zu dürfen – eine, wie mir scheint, nicht unangemessene Forderung. Schließlich sind Sie ein Opfer, ein Märtyrer der Gesellschaft, mein lieber Christo, Sie verdienen meine Unterstützung und Bewunderung. – Das, mein Ringeltäubchen, mein Wattewölkchen, hat Dutronc, der Anstaltspsychiater, gesagt. Vielleicht bin ich also bald frei. Dann, mein Marzipanmädchen, mein Halvaengelchen, werden wir gemeinsam nach England gehen, denn ich habe große Pläne. Du mußt wissen, die Insassen dieser Anstalt sind durchweg phantasievolle, begabte, einfallsreiche Menschen, deren Anregungen im Hinblick auf meine weitere künstlerische Laufbahn auf jeden Fall aufgegriffen werden müssen. Nach meiner Entlassung möchte ich damit beginnen, die Vorschläge von Rodney Stewart, meinem Zellengenossen, einem jungen Büroangestellten aus Newcastle-upon-Tyne, in die Tat umzusetzen. Rodney ist in dieser Anstalt inhaftiert, doch ist er meines Erachtens kein böswilliger Gesetzesbrecher, sondern ein Kranker. Er leidet an einer speziellen Form von Pyromanie, für die die Psychopathologie noch keinen Begriff gefunden hat, da dies der erste bekanntgewordene Fall dieser Art ist, und die ich als Fußballstadionspyromanie bezeichnen möchte. So wie ich mich kaum enthalten konnte, Passanten zu verpakken, so schwer fällt es Rodney, an einem vollen Fußballstadion – zur Not kann es auch ein halbvoller einfacher Fußballplatz sein – vorüberzugehen und es nicht in Brand zu stecken. Der Anstaltspsychiater meint, diese Neigung habe damit zu tun, daß Rodney von seinem Vater schon als Zweijähriger mindestens zweimal wöchentlich zu Fußballspielen mitgenommen worden sei und dieses Zuschauen und Anfeuern gehaßt habe. Als Vierjähriger habe er seinem Vater alle Fußballregeln auswendig hersagen müssen und nur im Faßballdreß in den Kindergarten gehen dürfen. Später habe er sich auf Wunsch seines Vaters eingehend mit der Karriere aller großen englischen Fußballspieler seit Bestehen des Fußballsports beschäftigen müssen; er habe genau wissen müssen, von wann bis wann sie bei welchem Klub unter welchen Trainern gespielt hatten und wie hoch die Ablösesummen im Fall eines Transfers zu einem neuen Klub gewesen waren. Selbst die Namen und Geburtsdaten ihrer Ehefrauen und Kinder hätten ihm geläufig sein müssen. Dutronc ist gerade dabei, auch für ihn eine Petition auszuarbeiten. Nach kritischem Abwägen aller Faktoren ist er zur Ansicht gelangt, daß man Rodney Stewart im Interesse seiner psychophysischen Stabilität das Anzünden von Fußballstadien nicht verbieten dürfe. Hier, bei der Bejahung der persönlichen Eigenart der Mitmenschen, beginne die Toleranz, sagte er. Jedenfalls rebellierte Rodney als Vierzehnjähriger zum ersten mal gegen die tyrannische Verhaltensweise des Vaters und legte Feuer an ein kleines Stadion in Newcastle-upon-Tyne. Der Brand konnte nach wenigen Stunden gelöscht werden und forderte ein Todesopfer und sieben Verletzte. Seitdem hat Rodney Stadien in Leeds, Bradford, Nottingham, Wolverhampton und Birmingham in Brand gesteckt, doch lediglich der Brand in Birmingham wuchs sich zu einer Katastrophe größeren Ausmaßes aus. Auch auf dem Kontinent hat er sich im Anzünden einiger Stadien versucht, insbesondere in Holland, Belgien und Nordfrankreich. Man erwischte ihn, als er das Areal unter der Tribüne des Fußballstadions von Rouen systematisch mit Benzin tränkte. Seitdem ist er hier, und wir sind gute Freunde geworden. Von ihm stammt die Idee, ich könnte nach meiner Entlassung einige der größeren Stadien in England verpacken, eine Idee, die ich für hervorragend halte. Es wird natürlich nicht einfach sein, die Erlaubnis dafür zu erhalten, doch mit Dutroncs Hilfe und der Unterstützung der Französischen Akademie der Wissenschaften kann es gelingen. Es ist möglich, daß Rodney bei diesem Vorschlag auch an sich gedacht hat, an die Zeit nach seiner Freilassung, es ist möglich, daß er eigene Pläne hat (Papier brennt ja ausgezeichnet), doch das soll nicht meine Sorge sein. Mir geht es darum, endlich wieder monumentale Verpackungsprojekte durchführen zu können und mich nicht ständig mit Kleinigkeiten – so reizvoll diese zur Abwechslung auch sein mögen – begnügen zu müssen. Mein Honigtöpfchen, mein Kefirkrügelchen, wie ich mich auf Dich freue. Geht es Dir gut, macht Schahriar Dir Schwierigkeiten, verfolgt er Dich? Solange Du redest/schreibst, wird er Dir nichts anhaben können, dessen sei sicher. Was Dein Verhalten während meiner Abwesenheit betrifft: Du weißt, ich bin anders als Schahriar, ich verlange keine Hingabe, keine Treue. Tu, was Du für richtig hältst und sei da, wenn ich entlassen werde. Ich kann nicht sagen, daß ich es hier schlecht hätte; das Essen ist genießbar, wir dürfen lesen und uns manchmal miteinander unterhalten. Es sind einige sehr interessante Leute hier, darunter ein ehemaliges Modell Rodins, ein in direkter Linie von Ludwig XIV. abstammender Adeliger, ein junger vietnamesischer Spraykünstler und – Du wirst es nicht glauben – Jim Morrison von den Doors. Sein Grab ist in Paris, doch er ist nicht tot, er ist hier, in der Anstalt für abnorme Rechtsbrecher im fünften Bezirk, schon seit dem Jahr 1972. Man hat ihn auf einer seiner Europatourneen wegen eines kleineren Delikts inhaftiert – ich glaube, es hatte etwas mit radikalem Exhibitionismus zu tun -, und er hat seine Strafe längst abgebüßt. Er wehrt sich jedoch heftig gegen seine Entlassung und hat vor, sein Leben hier zu beschließen. Bis jetzt ist es ihm gelungen zu bleiben – er geht den Wärtern und der Gefängnisverwaltung zur Hand und ist sehr beliebt. Mein Murmeltierchen, mein Wüstenfüchslein, im Geiste umarme und verpacke ich Dich. Schreib mir. Christo. – Du weißt, ich bin anders als Schahriar, ich verlange keine Hingabe, keine Treue, schreibt Christo. Christo ist klug. Er weiß, daß ich mich ihm noch am ehesten hingebe, wenn er keine Hingabe, keine Treue verlangt, daß ich ihm noch am ehesten treu bin, wenn er keine Treue verlangt. Wer Treue verlangt, dem geschieht recht, wenn man ihm untreu wird. Nachdem Schahriar und sein Bruder von ihren Ehefrauen betrogen worden waren, gingen sie fort und suchten jemanden, dem dasselbe widerfahren war. Am Rande des Salzmeers stießen sie auf einen schlafenden Dschinni, einen Feuergeist, in dessen Gewalt sich ein Mädchen befand. Das Mädchen zeigte den zwei Königen einen Beutel mit fünfundsiebzig Siegelringen, aufgereiht auf einer Schnur. Diese Ringe seien die Pfänder von fünfundsiebzig Männern, die ihr zu Willen gewesen seien, während der Dschinni geschlafen habe, sagte das Mädchen. Es habe dem Geist nichts genützt, daß er sie in eine Kiste sperrte. Gerade weil sie eingesperrt gewesen sei, habe sich ihr ganzes Denken darauf gerichtet, ihn zu hintergehen, und ihr ununterbrochenes Denken habe ihr auch Möglichkeiten zur Täuschung erschlossen. Das leuchtet mir ein, denke ich, der Zwang zur Treue zieht notwendigerweise den Treuebruch nach sich. Es ist bedauernswert, daß der Begriff der Treue existiert, denke ich, gäbe es auch keinen dazu im Gegensatz stehenden Begriff der Untreue, und jedem bliebe viel erspart. Die Wirklichkeit ist eine Schöpfung der Begriffe, sage ich und freue mich über soviel plötzliche Einfachheit des Denkens. Hielte man die Begriffe in Grenzen, so hätte man eine übersichtliche Welt. Es gibt zu viele Begriffe, das Elend ist das Ausufern der Begriffe. Man sollte es bei der Benennung der Dinge bewenden lassen und nicht unbefugt mit Abstraktionen hantieren. Abstraktionen sind feuergefährlich, in der Nähe von Abstraktionen herrscht Explosionsgefahr. Treue und Untreue. Bin ich treu? In Gedanken, Worten und Werken? Ja und nein. In Gedanken am wenigsten. Was würde Christo sagen, wenn er Bescheid wüßte über Clint Eastwood und mich, über Andrew Lennon und mich, über den Hopi-Indianer Tom und mich, über Johannes den Täufer und mich? Wenn er wüßte, was sich abgespielt hat zwischen ihnen und mir, was ich erlebt, erträumt habe mit ihnen? Nichts würde er sagen, er würde ein Einsehen haben. Er hat auch seine Geschichten, er wäre ein Komplize. Gäbe es den Begriff der Treue nicht, könnte man nebeneinander liegen im Halbdunkeln und sich erzählen von den spannenden Treulosigkeiten in Gedanken, Worten und Werken. Solche Erzählungen würden keinem etwas nehmen, sie wären sogar eine Bereicherung des gemeinsamen Lebens. Einer würde erzählen, der andere würde aufmerksam zuhören, beifällig nicken, lächelnd zustimmen, traurig den Kopf schütteln. Komplizenschaft: etwas Schöneres als Liebe und Treue. Wie erfreulich wäre es, könnte man dem, mit dem man lebt, erzählen von seinem gleichzeitig geträumten Glück, von seinem gleichzeitig gelebten Unglück mit dem anderen Geliebten, vom Profil, von den Gliedern des gleichzeitig geliebten Anderen. (Denn es ist kein bedeutsamer Unterschied zwischen Gedanken und Werken, zwischen Einbildung und Wirklichkeit.) Doch man hat uns diese Freiheit, dieses Aussprechen der Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten, diese menschenfreundlichen Liebesgedanken und Liebeswerke von allem Anfang an untersagt, man hat uns dafür bestraft, uns in Zweisamkeitskoben, in Zweisamkeitsgehschulen gesperrt, uns von allen Seiten mit Wänden umstellt, mit Drahtverhauen aus Schuld und Gewissensbissen. Von wem stammen die Begriffe "meine Frau", "mein Mann", wer hat durch solche Begriffe erst die Bedingungen geschaffen für die Eifersucht? Wer hat uns die Freiheit zu lieben und geliebt zu werden genommen, wer hat Männern wie Schahriar Vorschub geleistet? Es sind die christlichen, die katholischen schwarzen Vögel mit ihren perfiden Erfindungen von Sündenfällen, die uns die Offenheit vergiftet haben, die stinkenden Weihrauch schwenkenden Pfarrer, die uns an dem, was wir sagen wollen, würgen lassen, es uns nicht aussprechen lassen, es sind die alten Priester mit ihren unbenutzten, wie nie erblühte Rosen eintrocknenden Geschlechtsteilen, die uns das Lieben verleiden, es sind die himmlischen Heerscharen der Dechanten, der Vikare und Hilfsvikare, der Diakone und Bischöfe, die schon die Ministranten eifersüchtig beobachten, ihnen den Ekel am Fleisch, den sie selber empfinden, hämisch einpflanzen, es sind die sicheren Ausdeuter der Schrift, die Exegeten, die die Wahrheit kennen wie sonst keiner, die uns die Welt und das Gefühl zusammenschrumpfen lassen und zu wissen glauben, was Rechtens ist, es sind die blutroten Kardinäle, die neidisch von fleischlicher Sünde reden, es sind die Erzbischöfe mit den tiefliegenden Augen, die nie eine unschuldige Lust verspürt haben und sie niemandem gönnen. An ihren Verboten erstickt die Welt, an ihren wahnwitzigen Postulaten wird sie zugrunde gehen in einer Orgie der Zerstörung, in der alle in Schach gehaltene Libido freigesetzt werden wird. – Der Inquisitor sitzt im Beichtstuhl der Dorfkirche von Kirchdorf und fragt begehrlich: Scheherazade Hedwig Moser, ist dein Fleisch schwach? Hast du fleischlich gesündigt in Gedanken, Worten und Werken? Hast du gesündigt? Hast du gesündigt? Wie oft? Wann? Mit wem? Wie oft? Wann? Mit wem? Wie oft? Wann? Mit wem? Ja, ich habe gesündigt, sage ich fröhlich und freimütig, praktisch andauernd, praktisch an jedem Wochentag, sage ich, was sind doch Sünden für ein Glück, sage ich fröhlich und freimütig. Du mußt Rosenkränze beten, meine Tochter, Rosenkränze und abermals Rosenkränze, sagt der Inquisitor mild und läßt sich seine Wut nicht anmerken. Zur Strafe werde ich dir deinen Rosenkranz zerreißen, und du wirst die Kügelchen auflesen, wieder und wieder, sagt der Inquisitor mild. Du wirst auf den Knien um die Kirche rutschen müssen, mein Kind, öfter als einmal, fürchte ich, sagt der Inquisitor mild. Meinen ganzen Hostienvorrat wirst du aufessen müssen, fürchte ich. Ich werde mich dir gegenüber an den Tisch setzen und darauf achten, daß du auch wirklich alle Hostien ißt. Und zum Dessert wirst du wohl auch noch deine Firmungskerze verspeisen müssen, da sehe ich keine andere Möglichkeit, sagt der Inquisitor mild, und alle Heiligenbildchen, die dir der Dechant im Lauf der Jahre als Belohnung für deine Kirchgänge geschenkt hat. Nichts werde ich, sage ich fröhlich und freimütig, ich werde lediglich ein paar Rosenkränze beten, und zwar zum Dank für die Existenz der fleischlichen Sünde, dieses großen Glücks. Der Inquisitor legt seine Milde ab wie seinen Priesterrock, wenn er sich zum Schlafen legt, und sagt zähneknirschend: Du bist also hartgesotten, meine Tochter. Das wundert mich nicht, wo wir doch schon mit deiner Mutter, der Heidin, Scherereien gehabt haben. In diesem Falle wird es mit dem Essen der Firmungskerze und der Heiligenbildchen nicht getan sein, fürchte ich. Du wirst auch noch die vom Kirchendiener zur Rechten und Linken des Altars aufgestellten Chrysanthemensträuße verzehren, und wenn die Hartgesottenheit dann immer noch nicht von dir gewichen ist, ißt du auch noch das violette Karfreitags-Altartuch, Und ich kann dir jetzt schon sagen, daß die gold-durchwirkten Fransen nicht sehr bekömmlich sind, sagt er triumphierend. Reden Sie keinen Unsinn, sage ich. Also was ist, Inquisitor, frage ich, wollen sie nun meine Beichte hören oder nicht? Soll ich Ihnen die sündigen Geschichten von Andrew Lennon und mir, von Clint Eastwood und mir, dem Hopi-Indianer Tom und mir und Johannes dem Täufer und mir erzählen oder nicht? Erzähle, meine Tochter, sagt der Inquisitor. Es wird dir wohltun, dein Gewissen zu erleichtern. Du weißt, Gott verzeiht alles, wenn du nur bereust. Denke an Maria Magdalena. Was heißt hier bereuen? sage ich.

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin aus: Die neue Scheherazade. München: List Verlag.