glossen: aufsätze
Grauzone Gewalt
Rolf Dieter Brinkmann und die Achtundsechziger
Gerrit-Jan Berendse


"Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, dann würde ich Sie jetzt niederschießen."1 Mit diesen krassen Worten verstärkte Rolf Dieter Brinkmann 1969 das negative Image als angry young man, das er sich in der Zeit der Jugendrevolte zugelegt hatte. Der Angriff galt dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki, der auf diese Weise daran gehindert wurde, einen seiner gefürchteten Verrisse während der Tagung in der Westberliner Akademie der Künste vorzutragen. Natürlich überlebte der Kritiker den "Anschlag", denn es wurde ihm ja bloß ein Konditionalsatz an den Kopf geworfen. Spekulationen über die möglichen Gründe des Eklats gehen nach wie vor in den Literaturgeschichten um. Die einen Literaturhistoriker behaupten, der ungezügelte Wutanfall sei der Konfrontation des Dichters mit seinem literarischen Übervater Reich-Ranicki entsprungen, die anderen halten es für ein surrealistisches Happening, dessen Inszenierung allerdings außer Kontrolle geriet.2 Ohne Frage steht der Affront in der Tradition der MG-Poetik André Bretons, jedoch im gleichen Atemzug verlautbarte Brinkmann zum wiederholten Mal seine faschistoide Fasson. Martin Walser reagierte unmittelbar nach dem Skandal mit einem furiosen Gegenangriff. In seinem Essay "Über die Neueste Stimmung im Westen" klassifizierte er den verbalen Amoklauf als einen Gewaltakt, der Ende der sechziger Jahre in der Literaturszene zunehmend zur Modeerscheinung wurde, und den es einzudämmen galt.3 Walser wertet die neumodische Rhetorik der Gewalt als apolitische Wichtigtuerei und Ausdruck des privaten Vergnügens ab. Diese Kindereien, so Walser, seien unzeitgemäß.

Der Schriftsteller, der nach Bomben und Maschinengewehr gegen Mitmenschen ruft, erfüllt dieselbe Funktion wie der Filmschauspieler, der zum 7. Mal heiratet. [...] Er praktiziert einen Narzißmus, der, wenn man die Entfernung zum Publikum bedenkt, zynisch genannt werden darf. [...] Er praktiziert eine untergehende Lebensweise. 4

Walser marginalisiert Brinkmann samt der in Westdeutschland auf der internationalen Popwelle reitenden Literaten als Vertreter der von den Linken verpönten amerikanischen Unkultur. Die von Verlagen wie Maro, Malik und März veröffentlichte und in der Untergrund-Presse als "Super Garde" bzw. "BeatPopPorno" angepriesene neue Literatur hatte sehr wohl eine (kultur-) politische Botschaft. Allerdings ließ sich diese nur schwer mit dem dominanten Diskurs der Neuen Linken vereinbaren. Die Pioniere der deutschen Postmoderne stellten sich dem Paradox, denn sie machten sich auf, die 1968 zum Tode erklärte Literaturszene mit literarischen Mitteln wiederzubeleben.5

Die Polemik des "altlinken" Walser wurde von den Neulinken im Sozialistischen Deutschen Studentenbund begrüßt, vor allem nachdem sich Brinkmanns Gewaltausbrüche während eines weiteren obskuren Auftritts an der Universität Köln wiederholten. Der Schriftsteller wurde beschuldigt, gegen die Ideale der Neuen Linken, die Kulturrevolution in Deutschland gewaltlos zu verwirklichen, zu verstoßen. Die richtungweisende, obzwar 1969 bereits an Vorbildlichkeit einbüßende Lebensweise lag eben in der Großen - kollektiven - Verweigerung, deren Konzept keine Einzelaktionen vorsah, vor allem nicht von jemandem, der dem "Lustprinzip" unterlag und die Ziele der Studenten nur als anstrengend bezeichnete. Noch im gleichen Jahr, in dem Walser und der SDS unisono ihre Korrektive veröffentlichten, legte Brinkmann ein Manifest vor, in dem er eine mögliche, für die Ideologen allerdings unakzeptable Legitimität seines wiederholten aggressiven Verhaltens anbot. "Die wilden Ratten reagieren in der radikalen Ausweglosigkeit radikal", heißt es im Nachwort der Anthologie Acid (1969).6 In diesem einmaligen Dokument der kurzen westdeutschen BeatPopPorno-Welle lenkt der Schriftsteller die Aufmerksamkeit auf eine vom Politdiskurs abweichende Sicht auf die westdeutsche Kulturszene. Er introduziert einen im Kontext von 1968 unerwarteten Diskurswechsel, wenn seine Reklame für die deutsche Postmoderne plötzlich in eine anthropologische Rhetorik übergeht. Dabei wiederholt Brinkmann seine Bewunderung für die Arbeiten des Paläoanthropologen Rudolf Bilz, insbesondere für dessen Studien über Angst und Schmerz.7 Bilz' Forschungen stützen sich größtenteils auf die Pionierarbeit zur Umweltforschung und Vergleichenden Physiologie von Jakob Johann Baron von Uexküll und gehen von der deprimierenden These aus, daß die Verrichtungen des Alltags von Beklemmung und dumpfer Wut bestimmt werden.8 Der soziale Verkehr des Menschen wird in Kategorien physischer Gewalt, analog zu den Mechanismen aggressiven Verhaltens in der Tierwelt beschrieben. Wo zum Beispiel Ratten, die in einer ausweglosen Gefangenschaft den sogenannten Vagus-Tod (d.i. an einer Dysfunktion der Endnerven im Rückenmark) sterben, führt beim Menschen die Ahnung, in der Gewalt des Feindes zu sein, zu einer extrem depressiven bzw. apathischen Verfassung. In anderen von Bilz untersuchten Fällen führt Ausweglosigkeit zu aggressivem Verhalten, was einen Amoklauf oder "Gefängnisknall" evoziert. Dieser Habitus ähnelt dem Todestrieb bei Ratten, so Bilz.

Für Brinkmann hatte sich die "bürgerliche" Literatur Ende der Sechziger (und hiermit stimmte er mit Hans Magnus Enzensbergers Urteil im Essay "Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend" völlig überein 9) solchermaßen in eine Sackgasse manövriert, daß nur eine Radikalkur bzw. ein Rundumschlag Befreiung versprechen konnte. Brinkmann identifiziert sich mit jenen wilden Ratten, die mit ihren neuen "autonomen" Ausdrucksformen die Leser zu provozieren suchten.10 Doch im Gegensatz zu Enzensberger überwindet Brinkmann die Klage über die anachronistische Kultur der Väter und führt den "Tod der Literatur" statt dessen auf die Dürftigkeit der kulturellen Angebote der Linken zurück. Die Neuauflage des Agitprop und des Straßentheaters versprechen für den Propagandisten des deutschen BeatPopPornos keine Alternative, vor allem weil die darin dominierenden politischen Diskurse das Authentizitätsstreben der Jüngeren erstickt. Enzensberger hatte bereits 1962 die Aporien der Avantgarde ausgesprochen als regressiv erklärt. Die deutsche Neo-Avantgarde sei eine bloße Wiederholung der ausgespielten historischen europäischen Avantgardismen. Aber gerade diese Wiederholungen, wurden zum Ausgangspunkt für eine literarische Umsetzung seiner Sinnlichkeitsutopien. Der gegenkulturelle Habitus schärft Brinkmanns Blick auf die herausragende Rolle der Gewalt im Alltag der westdeutschen Jugendkultur.11, wobei sich die Rekonstruktion sub- und popkultureller Bezüge zu Amerika von den "offiziellen" Bekenntnissen zur Westallierten Schutzmacht USA ebenso unterscheidet wie von der Zivilsationskritik eines Antiamerikanismus.12

Brinkmann ist kein Freund der Dialektik, sondern frönt dem Alles-Oder-Nichts. Die Kompromißlosigkeit, der Hang zur absoluten Selbstaufgabe, kombiniert mit der Rhetorik der Verachtung schlägt bei ihm öfter in ein regressives Stadium animalischen Verhaltens um. Auch das fiktive Personal agiert in den Prosatexten wie Bilz' ausweglose Ratten, wenn in die Enge sozialer Erwartungen getrieben. Einflüsse von Rudolf Bilz auf Brinkmanns Schreiben finden sich zuhauf in seinem postum veröffentlichten Tagebuch Rom, Blicke (1979). Die frühen Anklänge anthropologischer Reverenzen in seinem Roman Keiner weiß mehr (1968) sind aber besonders aussagekräftig, weil sich darin seine deviante Haltung zum dominanten Politdiskurs ableiten läßt. Die Ursprünge des Gewaltpotentials, das sich in der im Roman beschriebenen Subkultur manifestiert, werden nicht dem Establishment und "Polizeistaat BRD" angekreidet, sondern werden aus der dysfunktionalen alternativen Lebensweise abgeleitet. Der Autor erstellt ein Psychogramm der Mitglieder einer Kölner Wohngemeinschaft, in der Vergewaltigungen, Mordgelüste und Psychoterror den Tagesablauf in der Anti-Gesellschaft bestimmen. Die im Roman dargestellte Unfähigkeit, sich kritisch dem zunehmenden Zerfall in Bilder- Reiz- und Zeichenfluten zu stellen, hat Jürgen Lieskounig in überzeugender Weise unter dem Gesichtspunkt des Welt- und Wirklichkeitsverlustes besprochen. Die in der Spätmoderne zunehmende Krise führt dazu, dass Brinkmanns Subjekt mit größtmöglicher Detailbesessenheit die ihn entwischten Bilderfolgen sammelt, ohne einen diskursiven Halt zu finden.13 Verurteilt, mundtot zu sein, scheint der Protagonist Gewalt als alternatives Kommunikationsmittel zu wählen.

Der Roman steht teilweise in der Tradition der Kölner Schule von Dieter Wellershoff, gleichzeitig reitet er aber auf der Beat- und Popwelle, deren artistische Phänomene sich mit Trivialmythen und Männerphantasien schmücken. Das hyper-realistisch geschilderte Geflecht von Beziehungen ähnelt einer lebenden Falle, die sich mit allerhand Banalitäten des Alltags füllen, ohne daß die Protagonisten - und die Leser - in der Lage sind, dieses Nichts zu analysieren. Brinkmann schafft es, uns die Trostpflaster erhabener philosophischer oder gar politischer Analyse vorzuenthalten. Die ersten Symptome der unvermeidlichen Ausweglosigkeit lassen sich an der spezifischen Textur des journal intime ermitteln:

Was wollte er denn also noch immer von ihr, was sie von ihm, wie, sicher nicht so, wie es war, verschüttet, doch wollte, sie, wollte, er, wollte, wirklich, irgendwas, wollte, ja, was, und wenn auch bloß das, manchmal zusammen in eine Spätvorstellung freitags oder samstags zu gehen und sich einen Film ansehen oder Schallplatten anhören, aber nicht so, alles durcheinander, ständig mißtrauisch.14

Die Ausweglosigkeit rührt von der Gewißheit her, daß keine Flucht möglich ist. Fluchtwege werden angeboten, welche jedoch aus einem Überangebot aus Sex, Drogen und Popmusik bestehen - erwartungsgemäß mit nur kurzweiliger Wirkung. Die Falle klappt immer wieder zu, womit weitere Territorien der Gewalt in den Köpfen der Protagonisten erkundet und im Alltag praktiziert werden. Vom Anti-Helden wird berichtet:

Er fühlte sich eingeschlossen [...] Man konnte sie nur totschlagen, mit einem Knüppel, aus Notwehr. (KWM, 37)

Genia Schulz argumentierte 1995 in ihrem Aufsatz "Sich selbst suchend sehen", daß die Struktur des Textes einem Kurzschluß ähnelt. Schon der Titel des Buchs legt nahe, daß von einer psychologischen Stagnation die Rede ist: es fehlen Anfang und Ende.15 Die Wahl der Ästhetik der Oberfläche ist in dem Sinne bedeutend, weil mit fotografischer Genauigkeit die Banalität des subkulturellen Alltags porträtiert werden soll, die nicht über dem Finalsatz "Guten Tag !!!" (KWM, 182) hinauszugehen scheint. Eine theoretische Abhandlung über Jugendkultur wird vermieden, weil diese bloß der von Brinkmann verhaßten Lustfeindlichkeit und Unsinnlichkeit Beifall zollen würde.16

Brinkmanns Poetik intervenierte mit den Zielen einer politischen Avantgarde, die Gewalt für ihre Strategien beanspruchen wollte. Brinkmann schaffte es, die Tabuzone der Gewalt zu betreten, die der SDS zu monopolisieren glaubte. Die Tatsache, daß die neue Sprache dieser Literatur sich wenig um moralische Werte kümmerte, war nicht das Problem. Anrüchiger waren in den Augen der Neuen Linken die stilistischen Ähnlichkeiten mit jenen Texten der bewaffneten Stadtguerilla, deren Sprache der Verachtung der Brinkmanns und der übrigen westdeutschen Beats bedrohlich nahe kam.17 Die literarischen und "terroristischen" Diskurse treffen sich zum Beispiel im inflationären Gebrauch von jenen Schimpfwörtern, die es auf die Genitalien abgesehen haben. Der harte Kern der Neuen Linken war darauf bedacht, die Grauzone des Terrors zu meiden, vor allem nachdem Jürgen Habermas sie 1967 des Sympatisierens mit dem Linksfaschismus bezichtigt hatte. Der Philosoph hatte während des Begräbnisses von Benno Ohnesorg in Hannover terroristische Energie in Fraktionen der Studentenbewegung identifiziert, deren Sprengkraft bald spürbar werden sollte.

Die Ideologen der Neuen Linken unterschieden messerscharf zwischen zwei Rhetoriken der Gewalt, um sich so ihr Monopol des politisch korrekten Gebrauchs des anarchistischen Diskurses für ihre politischen Aktionen zu sichern, die sich auf gewaltfreie Demonstrationen beschränken sollten. Gewalttätige Aktionen - auch der verbale Terrorismus in der Literatur - sollten aus Gründen möglicher negativer Publizität ausgemerzt werden. Obwohl die Öffentlichkeitsarbeit des SDS auf vollen Touren lief, ging dieser Wunsch nicht in Erfüllung, wie zum Beispiel die Springer-Aktionen zeigten.

Brinkmanns Texte und die seiner Beat-Kombattanten, wie Wolfgang Bauer (Magic Afternoon), Heinz von Cramer (Paralleldenker), Felix Rexhausen (Die Sache), Uwe Brandner (Innerungen), Peter Chotjewitz (Die Insel) und Hubert Fichte (Die Palette), können als Beispiele einer Intervention im Machtstreit um das Gewaltmonopol in der westdeutschen Jugendkultur Ende der sechziger Jahre gelesen werden.18 Mit ihren eigenwilligen und provokativen Chroniken aus der Subkultur störten sie das binäre Denken in Sachen Gewalt, das den Diskurs des SDS seit 1967 dominierte. Die literarische Front verwischte die Demarkierungslinie zwischen der von den Neuen Linken abgesegneten Gewalt und dem bewaffneten Kampf der Terroristen, so die Argumentation.

Der Soziologe Martin Doehlemann kam bereits 1967 in seiner Umfrage "Gesellschaftliche Isolierung und progressive Ideologie" zu dem sicherlich unbequemen Schluß, daß nur wenige junge Autoren die Rolle des Agitators beanspruchten. Doehlemann interviewte etwa dreißig deutsche Schriftsteller im Alter von 20 bis 30, darunter auch Brinkmann. Sie scherten sich nicht um die Ziele des SDS, konnten nichts mit dem neuen politischen Jargon anfangen. Viele der befragten Autoren hatten nur vage Ideen über die (Kultur-) Revolution und die Beseitigung überholter Strukturen in der Gesellschaft, lasen weder die Klassiker des Sozialismus, noch kannten sie die Theorien der Frankfurter Schule. Die Statistik bewegte die Gemüter der Revolutionäre. Die Folge: Ende der sechziger Jahre bahnte sich eine Welle von Korrektionsmaßnahmen an. Die Neuen Linken installierten Kontrollmechanismen, um die literarischen Renegaten ins Lot zu bringen. So wurde zum Beispiel die Agitprop-Lyrik als die Kunstform gefördert, die Gewalt, insbesondere während des Vietnam-Kriegs, gemäß linker Ideologien kodieren sollte. Und das richtungsweisende Kursbuch ging eine überraschende Liaison mit der Konkreten Poesie ein, um - wie Klaus Briegleb in seinem Buch 1968. Literatur der antiautoritären Bewegung (1993) argumentierte - von den trivialen Produkten der Untergrundpresse abzulenken. Sonstige Korrektive gingen von der Diskreditierung der postmodernen Konstellationen während der 1968er Fiedler-Debatte durch das Argument des Faschismus aus.

Natürlich ging dem gefürchteten Untergrund nicht die Luft aus. Im Gegenteil: Ende der Sechziger/Anfang der Siebziger blühte die alternative Presse, so auch Brinkmanns Kölner Kleinzeitschrift Der Gummibaum. Trotz Versuche der SDS-Gruppe "Kultur und Revolution" und der "Literaturproduzenten 1968", den Untergrund zu kontrollieren, stieg die Nachfrage und rollten die alternativen Druckpressen schneller als je zuvor. Keine der Korrektive und Kontrollinstanzen sah sich jedoch imstande, dasjenige zu leisten, was die Leser später selbst unternahmen: dem deutschen BeatPopPorno Halt zu gebieten, einfach weil der ganze "Pop Hokuspokus" anfing, langweilig zu werden. Der wichtigste Grund für die Beendung der transatlantischen Rezeption war aber, daß das Phänomen der politischen Gewalt, die Westdeutschland in den siebziger Jahren terrorisierte, eine Nummer zu groß für die aus den USA entliehenen Spielereien wurde. Gewalt löste sich von der Hülle der Metaphern und wurde den Akteuren des realen Todesspiels zwischen Staat und Roter Armee Fraktion überlassen. Die Literatur machte sich auf, die Phänomene der Gewalt neu zu kodieren, d.h. sich vorwiegend beschaulich heranzutasten.

In einem Brief an seinem Freund Hermann Peter Piwitt skizziert Brinkmann 1972 die Verlagerung des Gewalt-Topos im westdeutschen kulturellen Gehege, wobei die von ihm drei Jahre vorher propagierte MG-Poetik eine markante Wandlung nimmt. In seiner hyper-realistischen Manier und mit seiner Vorliebe für niedere Triebe schafft er es jetzt, sich dem Ernst der Lage zu nähern. Brinkmanns Frustration mit der Wirklichkeit führt nicht mehr zu einem Zustand der Machtlosigkeit, vielmehr gerät er angesichts der pausenlose Endspiele in Bewegung, "sich selbst suchend zu sehen". Der kurze Auszug aus dem Brief, der mit "Frankfurt, Blicke" überschrieben werden könnte, nimmt Brinkmanns zukünftige Poetik vorweg, die sich in den literarischen Erkundungen europäischen und amerikanischen Großstadtlebens bewähren sollte.

In Frankfurt sah ich einen Tag, nachdem in Hannover U. Meinhof gefaßt worden war, am Platz der Republik junge Polizisten mit umgehängten Maschinengewehren und Pistolen stehen, und überall kurvten Polizei-Patrouillen herum, während im Halbschatten der Bar- und Strip-Tease-Club-Eingänge, in rotem, verstaubten Plüsch träge die fleischigen Nüsse hingen und am Bahnhof eine enorme Wühlerei mit Baggern und Kränen stattfand An den Litfaßsäulen klebten Plakate für den Film Quo Vadis?, der wieder aufgeführt wurde. Und dann, anschließend, in einem Zimmer nachmittags ein kluges Reden über die Bedeutung der Baader-Meinhof-Gruppe.19



ENDNOTEN

1 Wolfgang Rüger, "Direkt aus der Mitte von Nirgendwo. Bruchstücke zu Leben und Werk von Rolf Dieter Brinkmann." In: Gunter Geduldig und Marco Sagurna (Hg.), too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen 1994, S.72.

2 Vgl. Gabriele Kreis, "... daß das eine starke Begabung war, eben nur nicht gezügelt, nicht diszipliniert." Aus einem Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki. In: Ebd., S.132.

3 Siehe hierzu Hannelore Schlaffer, "Der Einzige und die anderen. Zur Sprache der Verachtung." In: Merkur 7/1983, S.847.

4 Martin Walser, "Über die Neueste Stimmung im Westen." In: Ders., Wie und wovon handelt Literatur. Aufsätze und Reden. Frankfurt/M. 1973, S.7-41. Zuerst in: Kursbuch 20/1970, S.19-41, hier S.39-40.

5 Rolf Günter Renner, Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne. Freiburg 1988, S.144-151.

6 Rolf Dieter Brinkmann, "Der Film in Worten." In: Ders. und Ralf-Rainer Rygulla (Hg.), Acid. Neue amerikanische Szene. Berlin und Schlechtenwegen 1969, S.399. Siehe auch in Brinkmann, Rom, Blicke. Reinbek 1979, S. 92-93, 296-299 und 405.

7 Rudolf Bilz, "Studien über Angst und Schmerz." Paläoanthropologie. Band 1/2. Frankfurt/M. 1974, S.160.

8 Vgl. Wolfgang Sofky, Traktat über die Gewalt. Frankfurt/M. 1996, S.7-12.

9 Hans Magnus Enzensberger, "Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend." In: Kursbuch 15/1968, S.187-197.

10 Brinkmann war einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, der Leslie A. Fiedlers 1968 in Freiburg vorgetragene Thesen zur literarischen Postmoderne vorbehaltlos begrüßte. Die Fiedler-Debatte in Christ und Welt erschien gleichzeitig mit dem legendären Kursbuch 15. Siehe hierzu Uwe Wittstock (Hg.), Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994.

11 Vgl. Richard von Dülmen, Historische Anthropologie. Entwicklungen. Probleme. Aufgaben. Köln, Weimar und Wien 2000, S.63.

12 Jörgen Schäfer, Pop-Literatur. Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998, S.94.

13 Vgl. Jürgen Lieskounig, "Die Entwirklichung von Ich und Welt: Rolf Dieter Brinkmanns Keiner weiß mehr und Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte. In: Hans-Jörg Knobloch und Helmut Koopmann (Hg.), Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Tübingen 1997, S.193, 198-199.

14 Rolf Dieter Brinkmann, Keiner weiß mehr. Roman. Reinbek 1970, S.74. (Sigle KWM, Seitenzahl)

15 Genia Schulz, "Sich selbst suchend sehen". In: Maleen Brinkmann (Hg.), Literaturmagazin 36. Sonderheft: Rolf Dieter Brinkmann. Reinbek 1995, S. 167-181.

16 Vgl. Gerd Gemünden, "From Andy Warhol to Rolf Dieter Brinkmann". In: Ders., Framed Visions. Popular Culture, Americanization, and the Contemporary German and Austrian Imagination. Ann Arbor 1998, S. 52-61.

17 Vgl. u.a. in den Manifesten und Kommuniqués ehemaliger deutscher Linksterroristen, gesammelt in Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Berlin 1997 und in Ralf Reinders und Ronald Fritzsch, Die Bewegung 2. Juni. Berlin 1999.

18 Klaus Briegleb, 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt/M. 1993, S.51-71.

19 Maleen Brinkmann (Hg.), Literaturmagazin 36, S.86.