glossen: rezension
Helga Kurzchalia, Im Halbschlaf. Roman. Hamburg: Rotbuchverlag, 2000.

Die Anzahl, der in den letzten Jahren herausgekommenen Bücher, die sich mit dem Leben in der untergegangenen DDR befassen, ist Legion. Von den offenen oder wenig versteckten Selbstrechtfertigungen ehemaliger hoher Funktionäre wie Wolf, Krenz und Schalk-Golodkowski bis zu den schmerzhaften Erinnerungen der Eingesperrten, Geflüchteten und Abgeschobenen kann man in weit über einhundert verschiedenen Texten nachlesen, wie es sich unter der Diktatur des Proletariats gelebt hat.

Auch haben sich von den neunziger Jahren an eine Reihe von Autoren aus der DDR daran gemacht, ihre persönlichen Erfahrungen mit und in der DDR literarisch zu gestalten. Zu den bekanntesten unter ihnen zählen Erich Loests Der Zorn des Schafes (1990), Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992), de Bruyns Zwischenbilanz (1992) und Vierzig Jahre (1996) Jürgen Fuchs’ Magdalena (1998), Monika Marons Pawels Briefe (1999) und Barbara Honigmanns Damals, Dann und Danach (1999) und Alles Liebe (2000). Nun hat sich mit ihrem ersten Roman Im Halbschlaf eine Autorin des Jahrgangs 1948 zu Worte gemeldet, die in Berlin aufgewachsen ist, an der Humboldt Universität Psychologie studiert hat und seit Mitte der siebziger Jahre als Psychotherapeutin arbeitet.

Aus der Ich-Perspektive heraus erzählt die Autorin die Geschichte eines sensiblen Mädchens, einer jungen Frau, Studentin, Mutter und Psychologin, die auf Grund der politischen Stellung ihrer Eltern prädestiniert gewesen wäre, es sich in dieser DDR einzurichten. Die Eltern gehörten zu einer Gruppe von Antifaschisten, die entweder aus rassischen, politischen oder aus beiden Gründen von den Nazis verfolgt worden waren und nach dem Kriege aus den KZs oder aus der Emigration kommend, mit den allerbesten Intentionen einen stalinschen Sozialismus für ein Volk aufbauen wollten, von dem sie gerade eine tödliche Kränkung erlitten hatten, das sie fürchteten und letztendlich auch verachteten; eine emotionale Ausgangssituation, die es ihnen einfach machte, persönlichen Altruismus, Sinn für Privilegien und Vorliebe für diktatorische Lösungen widerspruchslos in sich zu vereinigen. Der Roman handelt vor allem von dem langen und schwierigen Abschied von den Eltern und dem Ankommen bei sich selbst. Die Geschichte dieses Abschieds ist Teil der kollektiven Geschichte und Geschichten einer kleinen aber bedeutenden Gruppe der zweiten Generation von Überlebenden des Holocaust und des kommunistischen antifaschisten Widerstands, zu denen Autoren wie Thomas Brasch, Monika Maron und Barbara Honigmann gehören. Man wird wohl nicht all zu fehlgehen, wenn man vorliegenden literarischen Text in die Nähe der Biographie der Autorin rückt.

Im Halbschlaf ist weniger ein politisches als ein poetisches und persönliches Buch. Die Autorin beschreibt in 31 feinfühligen Skizzen die Lebensorte der Ich-Erzählerin, Menschen, die ihr begegnen, Stimmungen, Atmosphärisches und immer wieder die überwältigende Präsenz der Eltern und der ihr komplementären eigenen Gehorsamkeit, Ziellosigkeit, Hilflosigkeit und Müdigkeit, der sie sich durch Distanz zu entziehen sucht, nur um auch an ihr zu leiden. Ähnlich Gontscharows Oblomov verbringt sie ihr Leben in einer Art Dämmerzustand, im Halbschlaf eben, wie der Titel des Romans lautet. Und wie Lin Kong in Ha Jins Warten harrt sie eines wirklichen Lebens, das nicht zu kommen scheint. Dieses wirkliche Leben sucht sie vorerst gerade dort, wo sie selbst nicht ist, in Moskau, an den Rändern der Sowjetunion, in Amerika, in Wien, der Stadt aus der ihre Mutter stammt oder in England, Orte der Sehnsucht, deren Kraft sich aus der eigenen Hoffnungslosigkeit speist.

Es sind die teils skizzenhaften Impressionen, die in oft schönen Metaphern, Vergleichen und Bildern wiedergegeben werden, welche Kurzchalias Text so intim und gleichsam zerbrechlich erscheinen lassen, ein Text, der sich dem Leser öffnet und sich ihm doch auch wieder entzieht. Vieles, was für die Entwicklung der Erzählerin wichtig erscheint, erschließt sich indirekt. Von der Bedeutung der elterlichen Biographie auf die Erzählerin erfährt man durch ihre Faszination von dieser Biographie und durch den Lethargie auslösenden Dauerschock darüber, daß sowohl der Vater als auch die Mutter sie weniger als Kind denn als Kampfgenossin behandeln; von der Biermannausbürgerung erfährt man durch ihre kurz aufflackernde Empörung; und ihr Gefühl des Verlorenseins und des Verratenseins ist es, das von der Ausreise aus der DDR ihrer Freunde erzählt, während die Mechanismen der Ausreise und das, was diese Freunde dazu bewogen haben mag, den Staat ihrer Eltern zu verlassen, ausgespart bleiben. Die Frage, ob es nicht auch einen Verrat der Dagebliebenen gegeben hat, bleibt daher ungefragt.

Die Konzentration des Textes auf die Widergabe des subjektiven Eindrucks und das weitgehende Ausklammern von politischen Zusammenhängen — die Weltveränderungspläne des Freundes Rudi rufen neben der Angst um ihn eigentlich nur Belustigung hervor — sprechen von der Isolation einer machtgeschützten — und -bedrohten — Innerlichkeit (Thomas Mann) der Kindheit und Jugend der Erzählerin. Sie benennen damit auch auf gestalterischer Ebene die Misere, in der sie sich befand. Erzählerisch überzeugend wirkt daher, daß die Autorin ihre Erzählerin erst dann zu sich finden läßt, als diese sich von ihrem Mann trennt, ihre sinnlose Arbeit in einem Architektenbüro aufgibt, sich als Therapeutin anderen zuwendet und sich von einem politischen System loszusagen beginnt, das ihre Eltern mit errichtet hatten.

Während die Subjektivität und Intimität des Erzählten zur Charakterisierung der Erzählerin gehört und daher ästhetisch gelungen ist, hätte man sich vielleicht doch auch eine objektive Erzählebene gewünscht, auf der einige Zusammenhãnge besser erklärbar gewesen wären. Z. B. fragt man sich, warum denn die Freundin der Erzählerin zu lachen anfing, als sie von einem Besuch bei Biermann hört. Und gibt es über „Onkel Robert", hinter dem sich offenbar der bekannte Wissenschaftler und Dissident Robert Havemann verbirgt, wirklich nicht viel mehr zu sagen, als daß die Eltern wegen der Ansteckungsgefahr seiner Krankheit und später wegen seines Dissidentenstatus besorgt sind. Auch das nur angedeutete Leben der Eltern ruft Neugier hervor, zumal man vermutet, daß die Befreiung der Erzählerin von ihnen und ihren Geschichten erst dann vollständig sein wird, wenn auch sie erzählt sind — noch hat die Autorin ihrer Erzählerin keinen Namen gegeben. Auf so einen oder andere Texte einer talentierten Autorin darf man getrost gespannt sein.

Wolfgang Müller
Dickinson College