glossen: aufsätze
Trostlose Landschaft mit Literat
Kritische Bemerkungen zum Versuch der Inszenierung einer literarischen Nullstunde nach 1989 am Beispiel Reinhard Jirgls
Christine Magerski


Die Natur, so Roland Barthes 1966, habe sich gewandelt; sie ist gesellschaftlich geworden, da alles, was dem Menschen auf seinen Reisen begegnet, bereits mit Bedeutungen versehen sei. Den gesellschaftlichen Landschaften, die "ganz einfach die Kultur" sind, leiht der "strukturale Mensch" sein Ohr, um den Weg der Bedeutungen noch einmal zurückzulegen und über eine Rekonstitution der Objekte das an ihnen Unverständliche verständlich zu machen.1 Vorausgesetzt wird dabei, dass sich Bedeutung allein über die Verknüpfung zweier Objekte konstitutiert, dass also jedes Auftreten des einen Objektes die Aktivierung des anderen nach sich zieht oder zumindest begünstigt. Dies gilt nicht nur für die vom "strukturalen Menschen" den Objekten abgelauschten Assoziationen, sondern auch für die neuerlichen Bedeutungszuweisungen innerhalb der strukturalistischen Tätigkeit. Der formale Ausdruck dieses assoziativen "Regelzwangs" ist der konstruierte Charakter eines jeden Werkes strukturalen Entwurfs, der sich nach Barthes an der regelmäßigen Wiederkehr der Objekte und der spezifischen Art ihrer Verknüpfung erkennen lässt.2

Um derartige poetisch-strukturalistische Entwürfe nun handelt es sich, wie ich denke, bei den 1995 und 1997 als literarische Ereignisse3 gefeierten Romanen Abschied von den Feinden und Hundsnächte, in denen der Autor Reinhard Jirgl die Ohren und Augen seines Schreibenden zur Stätte ihrer Betrügereien - in die ostdeutsche Provinz - zurückkehren lässt.4 Mich interessiert zunächst, mit welcher Bedeutung diese soziale Landschaft durch ihre literarische Rekonstitution versehen wird, um dann eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Möglichkeiten des Schreibens in ihr wenige Jahre nach dem Mauerfall eröffnet werden. Dazu verkürze ich den Vorrat der im Roman bereits zerlegt vorliegenden Objekte auf zwei sprachlich geschlossen auftretende Einheiten: das kollektive "Wir" der Provinzbewohner - und wer würde hier nach den Ereignissen von 1989 nicht an "das Volk" denken - und den nach den Spuren seiner Vergangenheit suchenden Anwalt. Im Anwaltsberuf erfolglos und unbefriedigt widmet er sich dem Schreiben, und so nenne ich ihn im Folgenden den Literaten.

Das Volk dämmert so dahin, versammelt um den Gasthof "Die Eiche" und nur selten von Ereignissen wie Mord, Totschlag oder Kanakenjagen in seiner täglichen Routine unterbrochen. So bedeutungslos wie der Alltag des kollektiven 'Wir' ist dessen undifferenzierter Sprachbrei ohne Punkt und Komma; eine Vokabelliste aus Floskeln, Mediensprüchen, Werbung und Vorurteilen, die als endlose Wiederholungen von Konventionen und Fertigprodukten zum Monolog einer Stimme zusammenfließen. Die "Sprache der Ohnmächtigen" kennt nur eine Unterscheidung: die zwischen dem Wir und dem Anderen, und aus diesem Digitalismus und der schlichten Quantität erwächst dem Wir jene blinde Macht, die sich vernichtend gegen jeden wendet, der "draussen" geblieben ist.5

Draussen bleiben muss auch der Literat, obwohl er als Kind diese soziale Landschaft zeitweilig bewohnt hat, und es ihn nach dem Mauerfall auch zu ihr zurückzieht. Geboren aber wurde er in der ostdeutschen Metropole. Erst eine Adoption brachte ihn in die Provinz, um den "komischen Seifenblasentraum von Heimat im 2. Stock der Güterabfertigung" (A, 130) jener beiden Alten wahr werden zu lassen, die selbst als Flüchtlinge nach dem letzten Krieg im Schatten der Eiche nach Schutz gesucht hatten. Ihr Traum musste am digitalisierten Denken des Wir zerplatzen und mit ihm das, was eine glückliche Kindheit hätte werden sollen. So zog es den Schreibenden schon früh fort, ohne Ziel; einfach anhalten wollte er die Fahrt des Zuges und irgendwo aussteigen, nur nicht da, wohin die Fahrt planmäßig ging. Der eigensinnige Freiheitsdrang führte ihn zuerst zurück nach Ost-Berlin, später in den Westen, und nach dem Scheitern der historischen Glücksverheissung zurück in jenen geschichtslosen Ort im Niemandsland eines sich ausdehnenden Grenzstreifens, in dem er die verlorenen Fragmente seiner Geschichte zu sammeln gedenkt.

Hier angekommen drängt es ihn zunächst ganz unerschrocken zum assoziativen Herz des Volkes - in die "Eiche". Was aber unter dem Dach jener Gastlichkeit versprechenden Wirtschaft während seiner Abwesenheit heranreifte, ist lediglich der Empfang von Privatsendern und mit ihm ein unwesentlich verändertes Freund-Feind-Bild, in dessen verengendes Deutungsmuster nun auch der fremde Literat gezwungen wird. Im aggressiven Klima des Mißtrauens muss allein seine Frage nach dem Weg zum Gasthof dem Wir zum Zeichen für die Wiederholung vergangener Katastrophen werden. Wozu, so fragt die Stimme der Provinz, geschieht sowas, wenn es keine Bedeutung hätte. Es wird alles wieder beginnen, das ganze Unglück noch einmal. Das Ohr der Provinz ist für seine Stimme taub, und weil das Wir den Sinn seiner Zeichen nicht zu verstehen vermag, wird auch der Schreibende gewissermaßen natürlich zum Opfern einer verhinderten Kommunikation. Anders aber als seine Adoptiveltern oder die Asylsuchenden des nahegelegenen Flüchtlingsheimes bezahlt er den Preis der verunglückten Mit-Teilung nicht mit dem Leben, sondern mit der selbsterwählten Einsamkeit in einer Ruine des Grenzstreifen. Dabei hatte er durchaus versucht, die unheilschwangere Landschaft zu verlassen. Nur war der Zug im ehemaligen Todesstreifen steckengeblieben, und statt auf seine Weiterfahrt zu warten, nimmt auch der Literat den Zufall als schicksalhaftes Zeichen. Gestützt wird die Entscheidung von dem Wissen, dass sich jene gefahrvoll dahin schlummernde Grenzregion über ganz Deutschland ausdehnt. Und weil es im Roman kein Entrinnen aus der hoffnungslosen Landschaft gibt, bleibt dem Literaten nur ihre auftragslose, darum aber um so lustvollere Destruierung als Akt des symbolischen Widerstandes.6

Damit möchte ich zur Ausgangsfrage zurückkehren, mit welcher Bedeutung der solchermaßen erweiterte Landschaftsbegriff durch seine literarische Rekonstituierung versehen wurde. Aus der Perspektive des Literaten an sich bedeutungslos funktioniert die Kulisse im Arrangement der Romane als das Andere des Literaten. Sie ist der Ort der ewigen Wiederkehr des Grauen, Leblosen, Alltäglichen und Unmenschlichen, vor dessem Hintergrund sich das freiheitlich-selbstbewußte und trotz oder wegen seines Leidens an der Landschaft vitale Subjekt bedeutungsvoll abzuheben vermag.

Dann aber schreibt der Text den Objekten keine neue Bedeutung zu, sondern wiederholt statt dessen zwei moderne Mythen in radikalisierter Form: den Mythos der Massenkultur und den des sich in ihr und gegen sie verwirklichenden Künstlers. Die Spuren beider führen zurück in den Kulturpessimismus des späten 19. Jahrhunderts; in die 90er Jahre, in denen sich die Künstler, vor allem aber die Literaten, von einem gesellschaftlichen Umbruch und einem Zuwachs an Komplexität bedroht sahen, die sich ihrem Verständnis entzogen und sie mit der Rechtfertigung, einem Prozeß des allgemeinen Niedergangs beizuwohnen, den programmatisch untermauerten Rückzug in die autonome Welt der Kunst antreten liessen.7 Auch von Jirgl wird der gesamte Verlauf der okzidentalen Kulturentwicklung als ununterbrochener Verfallsprozeß inszeniert, in dem das "kommunale Ich der Filzlatschen" nur den derzeitigen Stand des "Zeitalter-des-Pöbels auf der jüngsten Messe der Meister für Pogrome von Morgen" (A,105) markiert. Gegen den nivellierenden Sog der Geschichte lässt er seinen Protagonisten "nicht mehr die glatte Rede", sondern gerade das "Stottern, das Stocken in der Rede, den 1zelnen Laut; die 1zelheit aus Bildern" (A,139) suchen; im doppelten Sinne ein Versuch der Wiederbelebung schreib-technischer Innovationen der mit dem Kulturpessimismus verbundenen sogenannten "Sprachkrise" der frühen Moderne, die nicht nur den Prozeß des Schreibens und mit ihm den Schreibenden zum eigentlichen Gegenstand der Literatur erhob, sondern diesem selbstreferentiellen Akt zusätzlich durch die Aufnahme verfremdender Elemente Nachdruck verlieh.

So klingen Jirgls Monologe aus der vermeintlich letzten unkolonisierten Enklave des einsamen Schreibens wie Anleihen bei der Vokabelliste des eigentlichen Meisters des ästhetisierten Individualismus: Friedrich Nietzsche. Die poetische Selbstdarstellung des Literaten verrät dem Leser, dass er "Doktor Jekyll u Mister Hyde in=sich am Leben" (A,27) erhalten wolle; den einen im Sein, den anderen im Denken. Auch sieht er sich als "Protagonist auf der Bühne" (A,27) des ewigen Stücks um die Eiche, über dessen Statisten er sich mittels eines "Privatkalenders" (A,33), "geheimer Hilfeleistungen" (A,28) und eines Gehirns als "Motor zur Hölle" (A,28) erhebt. In erzwungener Einsamkeit übt er sich als Verweigerer im Zeitalter-des-Pöbels, indem er den Ort der Vielzuvielen, die doch nur ins Licht treten, um den Schatten zu vergrößern, als Sand vor dem Meer imaginiert, auf dem seine unendlichen Interpretationen treiben können. Die Stimme der herausfordernden Unabhängigkeit von allem Publikumsbeifall ist dem Leser so vertraut wie der naturalistisch präsentierte Chor der "Wir". Man glaubt den einsamen Seefahrer noch einmal zu hören, der bereits gut einhundert Jahre früher um das "Mißverhältnis" zwischen der Größe seiner Aufgabe und "der Kleinheit (seiner) Zeitgenossen" wusste und heftig gegen die Anderen wetterte, die, weil sie nicht nur anders reden, sondern auch anders sind, die Bedeutung der Schriften schlicht nicht verstehen können. "Es steht", so der Verfasser des "Höhenluft-Buches" im Ecce Homo, eben "niemandem frei, für Zarathustra Ohren zu haben"; erlauschen nämlich können die Prophezeiungen der Symbolfigur des modernen Krisengefühls nur die "kühnen Sucher, Versucher und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, -".8 Auf ein solches hat Jirgl auch seinen Protagonisten entlassen. Sich behaglich an den zeitgenössischen Unzulänglichkeiten abarbeitend, erwächst dem Schreibenden die Schaffenskraft aus dem Ekel vor einer Massenkultur, die ernsthaft glaubt, sie könne Geschichte machen.

Mittlerweile aber ist das Kapitel der Moderne als Geburtsstunde der künstlerischen "Eigenwelt und als Selbstzweck von gleichsam höherem und fast absolutem Rang" auch aus nicht-künstlerischer Perspektive aufgearbeitet und damit relativiert worden.9 Auch Barthes hat in seiner gleichnamigen theoretischen Schrift die Nullstunde der Literatur mit Flaubert für Frankreich nachgezeichnet.10 Ihr lässt sich entnehmen, dass der Akt des Schreibens insofern als zweideutige Wirklichkeit zu verstehen ist, als der Konfrontation zwischen Autor und Gesellschaft seiner Zeit der tragische Rückschlag folgte, durch den der Literat gewissermaßen auf seine Instrumente der Schöpfung zurückgeworfen wurde. Dem Schreibenden blieb, da die Geschichte ihn nicht mit einer freiheitlich konsumierten Sprache versorgen konnte, nur die "Erfindung" einer neuen. Diese neue Sprache steht nicht gänzlich ausserhalb der zeitgenössischen Norm, sondern ist ein Kompromiß zwischen individueller Freiheit und Erinnerung an die konventionelle Sprache vor dem Bruch. Dass dieser Bruch gelang und Flaubert nicht nur seiner Gesellschaft, sondern auch der literarischen Tradition den Rücken kehren konnte, führt Barthes auf eine größere Krise in der Geschichte zurück, mit der die Desintegration der modernen Literatur korrespondiert. Nicht nur trat eine neue ökonomische Struktur neben die alte, sondern mit ihr und darüber hinaus vollzog sich unter einzigartigen historischen Umständen ein Mentalitätswandel, dessen Identität im literarischen Bereich eben jene revolutionäre Schreibform ist. Die von Barthes vorgenommene Charakterisierung der neuen poetischen Sprache nun zeigt einige Gemeinsamkeiten mit dem sprachlichen Ringen 'unseres' Literaten auf: sie ist symbolisch und introvertiert, antikommunikativ und einschüchternd, und scheint, so zumindest der Eindruck des Volkes, in etwa der Sprache aus Jenseitigem zu wurzeln. Die Stimme des Wir lässt die Leserin wissen, dass der Fremde "zumeist so merkwürdig verschroben (sprach), wie es nur die 1samen tun". "Immer", meint das kollektive Wir, "wollte er mehr sagen, als er mit Worten sagen kann", und so wurden seine Erzählungen immer knapper, "sozusagen spröder, wie Formeln od Glaubenssätze, die er gewiß mehr für sich=selber als für irgendjemand Anderen erzählte" (H,19). Und auch die oben bereits ausgeführte Sprechweise des "kommunalen Ich" deckt sich mit Barthes "Fluss leerer Zeichen" als "ewigem Abriß" eines immer nur den beweglichen Schopf der Sprache packenden Sprechens. In ihm kann die poetische Sprache zu keiner Tiefe vordringen, und so wendet sich der Schreibende von der Gesellschaft ab, um die Welt der Objekte jenseits historischer Formen und sozialen Leben zu konfrontieren.11

Aber lässt sich die Nullstunde der Literatur nach ihrer theoretischen Inanspruchnahme vor dem Hintergrund des Nach-Wende-Deutschlands tatsächlich noch einmal inszenieren, oder wird nicht aus der vormals revolutionären durch ihren "interessierten" Einsatz eine intellektuelle Schreibform? Auch diese Einschätzung erfolgt in Anlehnung an Barthes, nach dem eine auf kollektive Erklärungen aufbauende Sprache als Zeichen politischer Verpflichtung gewertet werden muss.12 Die Form der Romane wäre dann zwar kein Anknüpfen an die marxistische Tradition, aber eine gezielte Weiterführung der mittlerweile auch nicht mehr ganz neuen Politik des Fragments, in der die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit weiter lebt.13 Auch für sie aber gilt, wie mir scheint, was Barthes noch 1957 dem marxistischen und intellektuellen Schreiben vorwarf: sie ist eine Sprache des Wissens, in der selbst Metaphern, wie ich kurz aufzuzeigen versucht habe, kodifiziert erscheinen. Ein Verständnis der gewählten Form als "Akt der historischen Solidarität" sowohl mit den Gründungsvätern der Moderne, als auch mit den sich auf sie beziehenden westlichen Intellektuellen der 50er und 60er Jahre mag dann mit Sicht auf das Ideal einer von allen Institutionen freien Sprache als Ernüchterung erscheinen, doch sagt diese Wertung vielleicht mehr über die nach dem Mauerfall sich in Deutschland eröffnenden Möglichkeiten des Schreibens.

In diesem Zusammenhang kann hier nur kurz daran erinnert werden, dass die von Barthes verfassten Schriften zur strukturalistischen Tätigkeit 1966 schon einmal deutsche Autoren inspirierten. Damals erschienen sie im Kursbuch 5 und hatten einigen Anteil an der 1968 programmatisch formulierten Parole vom "Tod der Literatur". In der berüchtigten Novemberausgabe hatte der Kursbuch-Redakteur Karl Markus Michel eine neue Literatur angekündigt, die nicht nur den Avantgardismus senil erscheinen lässt, sondern die progressive westliche Literatur insgesamt an ihre Ohnmacht gemahnt. Der Grund ihrer Ohnmacht lag den literarischen Revolutionären zufolge in der Privilegiertheit, und genau dagegen wollte man mit der Politisierung der Kunst ankämpfen. Dabei richtete sich der Kampf vor allem gegen eine bürgerliche Kritik, die "Kultur für Kultur" und "Kunstwerke für Kunstwerke" hielt, und die den Versuch der Literaten, das "Unbürgerliche, Gegenbürgerliche als das Neue und Künftige" zu verstehen, unmöglich begreifen könne.14

Von einem solchen Unverständnis der Kritik weiß für die Fiktion auch Jirgl. Er schickt den jüngeren Bruder des Literaten auf den Weg zur Redaktion, um für "die-ganze-Geschichte" einen Interessenten zu finden. Die Antwort aber ist enttäuschend, denn, wie der Redakteur den Bittsteller wissen läßt: "Alle Autoren, die wir-bei=uns aus der Alten-DDR unter Vertrag haben, sind ja in den letzten Jahren depressiv geworden & haben aufgehört zu schreiben. Sie aber haben weitergeschrieben, und das ist jetzt Ihr Problem"(A,80). Weitergeschrieben haben nach dem Rückzug aus der gesellschaftlichen Landschaft auch die 68er, und dies vielleicht gerade, weil die von Barthes prophezeite "neue Sprache" aus der Geschichte nicht "aufgetaucht" ist, und somit auch die Aufgabe der Literatur nicht beendet war.15 An die dann noch immer aktuelle Rede von "Verantwortung, Geschichts-& Sprachverlust sowie offensichtlicher Schweigesverabredung über gewisse Vorkommnisse deutschdeutscher Vergangenheit heute im gegenwärtigen D..." (A,78) kann Jirgl seinen literarischen Vertreter anknüpfen lassen.

So sind die Texte, auch wenn Jirgl seine schreibenden und lesenden Protagonisten eher entlang der literarischen Ausnahmegestalt Arno Schmidts entwirft, welcher völlig abseits des Literaturbetriebes zurückgezogen in der Lüneburger Heide lebte und arbeitete, zweifelsfrei das Produkt der Zeugenschaft eines historischen Umbruchs einschließlich aller damit verbundenen Euphorien und Desillusionierungen. Sie wollen zurück zu der von der Moderne und ihren späten Theoretikern versprochenen "erfrischenden Unschuld"16, die den Schreibenden mittels seiner stilistischen Macht über die Geschichte und die Tradition stellt, und stehen doch mitten darin. Das den Romanen eingeschriebene Ringen um formale und sprachliche Originalität untersteht der Norm der autonomen Kunst und ihrer Absage an alles Konventionell-Triviale. Und doch wiederholen sich gerade durch dieses emphatische Anknüpfen an die Tradition der Moderne deren stoffliche und formale - mithin also selbst zur Konvention erstarrte - Muster. So ist die Leserin auch nicht wirklich überrascht vom theatralisch inszenierten Ende; jener Schilderung einer versuchten Versöhnung zwischen dem Literaten und den Menschen, denen noch bis vor wenigen Augenblicken seine Verachtung galt. Aus der wohlgemeinten Intention wird nichts, denn

als ich nahe genug heran bin, berühre ich einige der Masken [...], ich kehre das Innere ihrer Köpfe herum, lege sie mit ihren gewölbten Seiten ins Gras, und was ich ahnte, finde ich: von der einstigen Hirnmasse ist nichts geblieben - selbst Fliegen & Maden dort sind längst verdorben; ein paar Klumpen verwittert und schwarz finden sich in den Höhlungen, tote Parasiten die mit toten Parasiten sich mischten. (H,518)

Und wie Strindbergs Helden findet sich auch hier der einsame Protagonist nach all den Rückschlägen am offenen Meer und lenkt seinen Blick auf jenes "unendliche Blau" (H,520), wie es nur die kühnen Seefahrer des Geistes kennen.

Die Auswahl der Objekte und ihr Arrangement erinnern noch an eine andere Schrift von Barthes. Es ist ein kritischer, Voltaire gewidmeter Essay mit dem bezeichnenden Titel "Der letzte glückliche Schreibende".17 In ihm werden drei entscheidende Voraussetzungen erfolgreichen Schreibens ausgeführt. Der Literat, so Barthes, brauche zunächst einen eindeutig negativen Feind, so dass er seine einsame Schlacht in einer Welt voller Gewalt und Dummheit erfolgreich schlagen kann. Daneben hilft ihm ein historischer Beweis für die Inexistenz sozialer Evolution, der ihm dann die Möglichkeit eröffnet, die Geschichte in eben jenem Moment zu vergessen, in dem sie ihn unterstützt.18 Und, zum Dritten, habe sich Voltaire an keiner lebenden Kraft messen müssen. Alle genannten Voraussetzungen, so scheint mir, wirken auch bei den hier vorgestellten Texten zusammen. Der Autor hat sich nicht nur einen durchgängig verdammungswürdigen Feind gesucht, um ihn dann bedeutungsvoll zu bekämpfen. Er nimmt den gescheiterten Realisierungsversuch der theoretisch besseren Gesellschaft als Möglichkeit, sich vom Fortschrittsgedanken als solchem zu verabschieden. Und weil die von den Romanen so obsessiv abgedeckte tote Landschaft kein Raum für Entdeckungen sein kann, sind dann auch seine Protagonisten eher Gutachter und Inspektoren als Abenteurer.

Der dritte Punkt nun, die mangelnde Konkurrenz, führt als Möglichkeit des Schreibens eher zur gesamtdeutschen Situation. Wie gesagt, wurden die Romane von Teilen der Kritik als Ereignisse gefeiert, und dies wiederum ist eine Einschätzung, die nur unter Berücksichtigung der zeitgenössischen literarischen Landschaft vorgenommen werden kann. Die vornehmlich westdeutschen Kritiker der führenden Zeitungen waren sich in der Hoffnung einig, dass sich mit der "Wende" auch ein Umbruch in der Literatur ereignen werde. Dabei waren alle Augen auf den Roman gerichtet. Das Neue, so die einhellige Meinung, werde sich aus der neuen Metropole, dem wiedervereinigten Berlin, gleichsam natürlich ergeben.19 Unstimmigkeit herrschte lediglich dahingehend, ob die herbei geredete neue Literatur an die Moderne anknüpfen20, oder endlich von diesem Kapitel Abschied nehmen solle21, um sich der Post-Moderne zu öffnen.22 Das Warten auf den Berlin-Roman aber zog sich hin. Es sah so aus, als wollten die Literaten in Ost und West sich vom spießig-provinziellen Realismus nicht lösen. Innerhalb dieser Stimmung nun bedeuteten Jirgls Romane durchaus eine Überraschung. Sie sind zunächst gerade aufgrund ihrer Objektauswahl alles andere als provinziell - auch wenn Jirgl seinen Literaten um den Alexanderplatz im "stehngelassenen Osten" (H,119) einen Bogen machen lässt - und stehen formal durchaus für die späte Umsetzung des 1968 angekündigten Versuchs, die Avantgarde senil erscheinen zu lassen. Hinter einer derart rabenschwarzen Abrechnung mit der gesellschaftlichen Landschaft blieben selbst die Vorstellungen der Kritik zurück. Kein zweites Mal, so die Zeit, würde man solche "poetischen Totenlieder" finden, und die Frankfurter Rundschau setzte den Verfasser auf "die ziemlich einsame Position in der vordersten Reihe deutschsprachiger Literaten".23 Ganz so allein aber sitzt er dort nicht, sonst liesse sich Jirgl nicht von eben diesen Kritikern neben Hilbig und Ziegler zur Gruppe der "tragischen Expressionisten" zusammenfassen.24 Auch verrät schon die Begrifflichkeit, dass sich auch mit ihnen das eigentlich literarisch Neue noch nicht ereignet hat.

Dass die Bilanz auf Seiten der Literaturkritik trotzdem durchaus positiv veranschlagt wird, liegt vielleicht weniger an der Existenz einer ostdeutschen Literatur, die "an ein authentisches Leben in der Warenrepublik Deutschland" erinnert, als vielmehr an dem Umstand, dass Deutschland nun über "zwei blühende Literaturlandschaften" verfügt: "der Osten ist tragisch, der Westen ist lustig"; der "Osten beruft sich auf die metaphysischen Traditionen der deutschen Geistesgeschichte, der Westen auf den amerikanischen Pragmatismus".25 Zwar hat dieser Kampf zwischen Ernster- und Unterhaltungsliteratur selbst eine lange Geschichte, aber die ist der Bedeutung der literarischen Landschaft bis heute nur zuträglich. Schließlich können Autoren und Kritiker, nachdem sich ein Redakteur auch dem Problem 'unseres' Literaten angenommen hat und das Feld bestellt und zugeordnet wurde, eine authentische Diskussion fortführen, von welcher der gesamtdeutsche Literaturbetrieb vor 1989 sicher nur geträumt hat.


ENDNOTEN

1 Roland Barthes, "Die strukturalistische Tätigkeit", in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 222.

2 ebd., a.a.O., S. 217.

3 Die Lobpreisungen der Romane in den Literaturbeilagen der Zeit und der Frankfurter Rundschau, auf die ich am Ende meiner Ausführungen zurückkommen werde, finden sich u.a. im Anhang der Hanser Ausgabe des Romans Hundsnächte (München/Wien 1997).

4 Reinhard Jirgl, Abschied von den Feinden, München/Wien 1995, u. ders., Hundsnächte, München/Wien 1997. Die Zitate aus beiden Romanen werden im folgenden mit entsprechenden Seitenabgaben hinter den Kürzeln "A" und "H" in Klammern erscheinen.

5 Bereits in dem von Jirgl gemeinsam mit dem polnischen Autoren Andrzej Madela verfassten Büchlein Zeichenwende hat er sich der Frage der "funktionalen Kommunikation" theoretisch zu nähern gesucht. Im einleitenden Teil zum "minimierten Sein", der, wie der Titel bereits andeutet, weit eher der radikalen Kulturkritik Nietzsches als den zitierten Autoren Barthes und Lyotard verpflichtet ist, fasst er die "digitalisierten Landschaften" als "Zersplitterung der Sprachpragmatik" und belegt die Degradierung der Sprache zur "metaphorischen Vokabelliste für Raufbolden und Ganoven" mit Beispielen wie "einen Weg einschlagen", "Entscheidungen fällen", "Reise antreten" und "Gedanken verfolgen"; nach Jirgl allesamt nicht weniger als "Wörter am Verbalanker im tiefen Abgrund" eines Leids, wie es sich aus "zu lange(m) und zu viele(m) Dahinlebenmüssens in den Gefilden egalisierender Normalität" (!) geradezu zwangsläufig ergeben muss. Im Anhang der kleinen Schrift plazierte der Koblenzer Verlag Siegfried Bublies seine Werbung für zwei Biografien. Sie sind den "linken Leuten von rechts" innerhalb der NSDAP, den herausragenden Vertretern der "konservativen Revolution" und "überzeugten Nationalisten" Otto Strasser und Ernst Niekisch gewidmet. Vgl.: Andrzej Mandela und Reinhard Jirgl, Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotalitärer Mentalität, Koblenz 1993, S. 19, 30f.

6 Mit dem Rückzug des Literaten in eine verlassene Ruine des Grenzstreifens lässt Jirgl den ersten Roman enden. Im zweiten, Hundsnächte, setzt er einen arbeitslosen ostdeutschen Ingenieur in eine Abrisskolonne, die eben diese Ruine und mit ihr den dahinsiechenden, aber unermüdlich schreibenden Literaten unter dem Beifall der Provinzbewohner gänzlich zu beseitigen trachtet. Der Ingenieur wagt sich als einziger trotz Dunkelheit und Gestank in das Innere und beginnt mit einem gleichsam absorbierenden Prozeß des Lesens, der ihn sich selbst begreifen und die draussen vergessen läßt.

7 Überzeugende Belege dieser unter anderem durch die Nietzsche-Rezeption angestossenen Entwicklung finden sich in der Sammlung wichtiger literarischer Manifeste und Dokumente aus der Zeit von 1890 bis 1910: Erich Ruprecht und Dieter Bänsch (Hrsg.), Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890-1910, Stuttgart 1981. Eine treffliche Gesamtdarstellung der Fin-de-siecle-Stimmung, unter der sich diese Tendenz in der Literatur am Ausgang des 19. Jahrhundert entfaltete, ist das Buch von Jens Malte Fischer, Fin-de-siecle, München 1978. Klaus Lichtblaus 1996 zur Kulturkrise erschienene Arbeit bietet in der Einleitung eine mit zahlreichen Verweisen angereicherte Charakteristik des in erster Linie künstlerischen "Unbehangens an der modernen Kultur" (Klaus Lichtblau, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kunstsoziologie in Deutschland, Frankfurt 1996, hier vor allem das einführende Kapitel "Das Unbehagen an der modernen Kultur", ebd., S. 13-58).

8 Siehe hierzu: Friedrich Nietzsche, "Warum ich so gute Bücher schreibe"(Ecce Homo), in: ders., Das Hauptwerk, Bd. 4, München 1990, S. 464-510.

9 Die bei aller Kürze treffendste Abhandlung zum ästhetisch stilisierten Konflikt zwischen "Ich" und bürgerlicher Lebenswirklichkeit scheint mir noch immer Thomas Nipperdeys Wie das Bürgertum die Moderne fand zu sein (hier zitiert nach der Reclam Ausgabe, Stuttgart 1998, S. 25). Jirgl verkürzt in seiner theoretischen Schrift das durchaus ambivalente Verhältnis zwischen anti-bürgerlicher Kunst und seiner bürgerlichen Trägerschicht auf die ästhetische Suche nach "verbindlicher Konvention" einerseits, und "starrer Etikette eines ephemeren Kreises gutsituierter Opernhausbesucher" andererseits, um dann zu jener grossen "Frage/Suche nach dem Maßstab" auszuholen, wie sie unter den Literaten und Intellektuellen im Deutschland um 1900 verhandelt wurde (Mandela u. Jirgl, Zeichenwende, a.a.O., S. 27, 31). Inwiefern sich diese Neuauflage des "Spannungsverhältnisses von Normalität und Andersheit, von Entfremdung und Beisichselbstsein, von geordnetem Leben und fruchtbarer Anarchie, von der [nun westdeutschen, C.M.] Leistungswelt und dem Sog von Abgrund und Chaos" (Nipperdey, Bürgertum, a.a.O., S. 75), dem nicht nur Jirgl, sondern auch Wolfgang Hilbig seine Protagonisten preisgibt, vor der den Autoren hinlänglich bekannten ostdeutschen Kulisse "vor und nach dem Grenzenfall" erklären lässt, wäre zu fragen. Das Provisorium nämlich - so der Titel des jüngsten Romans von Wolfgang Hilbig und auch die Charakterisierung des Lebensstils des Literaten bei Jirgl ("Zustand des erstarrten Provisorium", A,29) - welches hier erneut zum "richtigen Leben" erhoben wird, kann in seiner "Andersheit" und seinem "Chaos" auch als eine am Rand zur Nostalgie sich bewegende Stilisierung der DDR als das in der Tat "erstarrte Provisorium" gelesen werden.

10 Barthes, "Writing Degree Zero", in: ders., Selected Writings, ed. by Susan Sontag, Oxford 1982, S. 38ff.

11 Barthes, "Writing Degree Zero", a.a.O., S. 61.

12 Das Beispiel für Barthes ist hier natürlich Sartre, der, indem er eine bereits vorhandene Erklärung für sich angenommen hat, nach Barthes den "ersten Sprung des Intellekts" vollzieht, mit dem er sich vom Ideal einer freien, sich keiner Institution anpassenden Sprache entfernt. Vgl. hierzu: Barthes, "Writing Degree Zero", a.a.O., S. 40f.

13 Zum sozialen Hintergrund der strukturalistischen und post-strukturalistischen Richtung siehe Terry Eagletons Ausführungen in: Terry Eagleton, Literary Theory. An Introduction, Oxford 1997, S. 121-124.

14 Ich zitiere hier aus Walter Boehlichs "Autodafè", abgedruckt im Kursbogen zu Kursbuch 15 (1968).

15 Ich beziehe mich hier auf die sich am Ende des von Barthes 1966 verfassten Aufsatzes zur strukturalistischen Tätigkeit findende prophetische Bemerkung, "daß auch der Strukturalismus eine bestimmte Form der Welt ist, die sich mit der Welt ändern wird; und so wie er seine Gültigkeit (nicht seine Wahrheit) in der Fähigkeit sieht, die alten Sprachen der Welt auf neue Weise zu sprechen, weiß er auch, daß, sobald aus der Geschichte eine neue Sprache auftauchen wird, die nun ihrerseits ihn spricht, seine Aufgabe beendet ist". Vgl.: Barthes, "Zur strukturalistischen Tätigkeit", a.a.O., S. 223.

16 Barthes, "Writing Degree Zero", a.a.O., S. 39.

17 Barthes, "The last happy writer", in: ders., Selected Essays, a.a.O., S. 152ff.

18 Woraus man Voltaire keinen Vorwurf machen könne, da dieser bekanntlich vor dem Historismus geschrieben hat.

19 Frank Schirrmacher leitete das Warten auf den Berlin-Roman mit seinem Artikel "Idyllen in der Wüste oder das Versagen vor der Metropole" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bereits am 10. Oktober 1989 ein.

20 Mit dieser Seite verbinden sich die Namen Karl-Heinz Bohrer und Heinrich Vormweg. Vgl.: Karl-Heinz Bohrer, "Erinnerungen an Kriterien. Vom Warten auf den deutschen Zeitroman", in: Merkur 49 (1995) und Heinrich Vormweg: "Literaturzerstörung", in: Jörg Drews (Hg.), Vergangene Gegenwart - gegenwärtige Vergangenheit. Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960-1994, Bielefeld 1995.

21 Frank Schirrmacher und Ulrich Greiner sind die Schlagwort-Geber eines Bemühens, das grob mit der überfälligen Durchsetzung der Post-Moderne und dem Abschied von einer auf die Geschichte rekurrierenden "Gesinnungsästhetik" beschrieben werden kann. In die Diskussion der Literatur-Journalisten schalteten sich schon bald zahlreiche Lektoren der großen deutschen Verlage ein, von denen Uwe Wittstock am nachdrücklichsten die Aufgabe der Moderne unter Berufung auf einen reichlich unklaren "Vergnügens"-Begriff forderte. Vgl.: Uwe Wittstock, "Ab in die Nische?", in: Neue Rundschau 104 (1993), H3.

22 Vgl. zur Diskussion um den Stand der deutschen Gegenwartsliteratur u.a.: Andreas Erb (Hrsg.), Baustelle Gegenwartsliteratur. Die Neunziger Jahre, Opladen 1998; Andrea Köhler und Rainer Moritz (Hrsg.), Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Leipzig 1998.

23 Ich beziehe mich hier auf die im Anhang des Romans Hundsnächte abgedruckten Rezensionen von Jirgls erstem Roman Abschied von den Feinden.

24 Siehe hierzu vor allem Iris Radischs zuerst in der Zeit erschienen Artikel "Der Herbst des Quatschocento", der dann in die Aufsatzsammlung Maulhelden und Königskinder aufgenommen wurde.

25 Ebd., a.a.O., S. 181, 188. Wie Jirgl es ja seiner "Dame Cheflektorin" in den Mund legt: anders als die "Dutzendware" der "Drehbuchschreiberei" könne sein Literat "manchmal richtig=gut erzählen, richtig ! originell - wenn der Rest nur nicht so ! kopflastig wäre" (A,80).