glossen: aufsätze
Das Motiv Guernica Pablo Picassos in Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss als Gegenstand visualisierender Geschichtserzählung. Zur Kritik der Verflechtung von bildender Kunst und Rede im deutschen Roman des 20. Jahrhunderts
Fee-Alexandra Haase

Der Begriff Verflechtung dient in Anlehnung an das lateinische Wort ´textum´ mit der Bedeutung ´Geflecht, Zusammenhang´ in dieser Abhandlung als Bezeichnung für ein im Werk von Peter Weiss anzutreffendes Verfahren der Verbindung von visueller und sprachlicher Darstellung von Motiven in der Literatur. Dieses Verhältnis von Text und Bild wird in seiner Mehrschichtigkeit in einer ´virtuellen Bildergalerie´ in seinem Roman Ästhetik des Widerstands veranschaulicht, mit dem sich Weiss - ähnlich wie beispielsweise der Regisseur Peter Greenaway seit seiner mittleren Schaffensperiode in Filmen – vom formalen Strukturalismus löste und historische Elemente in Form von Gemälden in das Werk integrierte. Bei diesem Phänomen, das Kunstwerk im Kunstwerk darzustellen, lassen sich die Fragen nach einer ´Autonomie des Kunstwerks´ und des Prinzips ´l´art pour l´art´ hinsichtlich seiner Funktion als historisch motiviertes, ästhetisches Objekt, dem Historiengemälde, innerhalb des Kontexts Literatur als der das ästhetische Objekt aufgreifende Text stellen. Dieses Verhältnis zwischen bildender Kunst und Literatur wird exemplarisch an dem Historiengemälde Guernica von Pablo Picasso in dem Roman von Weiss untersucht.

I

Im Rahmen der postmodernen Diskussion zur Ästhetik hebt Wolfgang Welsch die ´zunehmende Bildwerdung der Wirklichkeit´ als zeitgenössische Tendenz in der Medienwahl des Alltags und der Kultur hervor. Dabei zeigt er beim philosophischen Denken seit Nietzsche auf, wie die Gedankenstruktur Bildcharakter angenommen hat und in der zeitgenössischen Philosophie dominiert. Für den Bereich der Kunst bemerkt Welsch, dass im Gegensatz zu monologischen Verfahren "diejenige als besonders gewichtige gelten dürfen, die verschiedene Bildsprachen aufeinander beziehen." Diese mehrfach kodierten Werktypen "sind nicht einäugig, sondern vielsprachig, und sie repräsentieren kein blosses Potpourri, sondern intelligente Verknüpfung" . Als Gegenposition äusserte Karl-Heinz Bohrer, dass das Primat des Bildes eine ´Vermengung der Erkenntnismedien´ mit einer „Tendenz, die Ästhetik des literarischen Konstrukts wegen dessen primär kognitiven Signalen [...] aufzulösen zugunsten einer Unmittelbarkeit" mit sich bringt. Die ÄdW darf als ein Schlüsselwerk für den postmodernen Ästhetik-Diskurs angesehen werden, Weiss als ein ´Wanderer zwischen bildender Kunst, Literatur und Film als Vertreter der ´Multi-Media-Art´´ verbindet unterschiedliche Ebenen der Wahrnehmung in einem Texte .

Der hier betrachtete Text liegt nach dieser Gliederung in der 6. Sequenz des ersten Bandes der ÄdW als 31. Textblock. Nach der Formanalyse Stephan Meyers gliedert sich die ÄdW neben der dreibändigen, in Teile untergegliederten Makrostruktur in aneinander montierte Sequenzen und Textblöcke. Das von Meyer aufgezeigte Verfahren orientiert sich am optischen Erscheinungsbild des Romans, durch dessen formale Prinzipien im Aufbau der Inhalt erschlossen werden kann.

Im Gegensatz zur Verwendung des Begriffes in dieser Arbeit beschreibt Meyer mit seinem Begriff der Verflechtung nicht das Verhältnis von Bild und Text, sondern "von reinem Erzählen und ästhetisch-theoretischem Reflektieren" im Werk. Kennzeichen dieser Verflechtung sind für Meyer selbstreferentieller Aufbau, Segmentierung in Textblöcke und Sequenzen, eine zirkuläre Erzählweise und vornehmlich argumentativ-dialektisch angelegte Erzählstruktur. Diese formalen Kennzeichen der ÄdW lassen sich auch durch den ausgewählten Textteil erschliessen und als Elemente der Textkonstitution mit dem Gesamtzusammenhang des Romans verbinden. Durch das Schriftbild heben sich die auf das Kunstwerk Guernica bezogenen Textstellen nicht vom übrigen Text im 31. Textblock ab. Inhaltlich kann in die das Gemälde Guernica beschreibende bzw. auf des Bild verweisende und vom Bild unabhängige Textpassagen unterschieden werden. Die auf Guernica bezogenen Passagen gliedern sich in:

Textpassagen, die auf das Gemälde bezogen sind

A Werkimmanente Bildbetrachtung des Bildes
Beispiel: Beschreibung des Bildraums, der zunächst als Kontrast zum Umfeld betrachtet und dann beschrieben wird

B Bildgenese
Beispiel: Der Vergleich unterschiedlicher Fassungen und Vorstudien des Bildes

C kunstgeschichtliche Vergleiche
Beispiel: Motivgeschichtlicher Vergleich von Kunstwerken
Bildunabhängige Textpassagen des 31. Textblocks orientieren sich an den Protagonisten des Romans:

A Ich-Erzähler und Ayschmann auf dem Weg von Valencia in die nähere Umgebung der Stadt

B Ich-Erzähler in Berlin

In der 6. Sequenz greift der Roman zurück auf frühere Geschehnisse in der Biographie des Ich-Erzählers. Die Verknüpfung von Biographie der Protagonisten und Guernica wird durch die Arbeitstechnik Weiss' erläutert. In den Notizbüchern Weiss findet sich diese Bemerkung "Von der Küche im span. Bauernhaus zu Picassos Guernica-Küche, zu Coppis Küche zur Küche meiner Eltern-". Neben anderen Notizen, die eine Vorlage der Zitate in Form von Dialogen, Aphorismen oder Bemerkungen aus der Privatsphäre Weiss bilden, beinhaltet diese Anmerkung eine Vorstrukturierung der inhaltliche Anlage des Guernica-Textblockes der ÄdW. Im 31. Textblock lässt sich das Motiv im Raum ´Küche´ in der bereits in den Tagebüchern vorgegebenen Reihenfolge lokalisieren. Mit dem Thema werden unterschiedliche zeitliche Ebenen des Roman miteinander verknüpft. Die Küche im spanischen Bauernhaus greift auf den Aufenthalt des Ich-Erzählers eines spanischen Bauernhauses während seines Dienstes im spanischen Bürgerkriegs als Sanitäter in der Sanitätsstation Cueva zurück. Picassos Küche mit der Guernica liegt in der Zeitspanne des Aufenthalt des Ich-Erzählers in Valencia. Die Darstellung von Coppis Küche fällt in die Zeit in Berlin, während der sich Ich-Erzähler und seine Kameraden mit dem Studieren von Kulturgut auseinandersetzen. Die Küche seiner Eltern greift zurück auf die Lebensumstände, unter denen sich in der Familie des Ich-Erzählers das Wissen zum Verstehen der historischen Ereignisse angeeignet wird.

II
Anstelle einer systematisch chronologisch orientierten Erzählweise wird in der ÄdW durch die Entfaltung der Handlung innerhalb der Küche die Handlung des Romans entwickelt und so u. a. auch bereits zurückliegende Ausschnitte der Handlung wiederaufgenommen. Nach Stierle liegt hier bereits in den Vorarbeiten zu einem Roman eine ´Geschichtsdisposition´ vor, die auch die Struktur der späteren erzählten Geschichte vorwegnimmt. Der theoretischen Umsetzung des narrativen Schemas in die Disposition einer Geschichte entspricht im ausgewählten Text der ÄdW die Umsetzung des Leitmotivs in dem Raum Küche.Während Stierle jedoch von "narrativen Oppositionen" als strukturierendes Element für das narrative Schema ausgeht, ist das literarische Motiv der ÄdW ein pragmatischer Appell an das Lernen als Bildungsideal. Aus der speziellen Anlage des Motivs leitet sich die Handlung im späteren Teil der ÄdW ab. Mit dem Raummotiv ´Küche´ werden Handlungen unterschiedlicher zeitlicher Ebenen zusammengesetzt dargestellt. Neben diesem übergeordneten Motiv, das bereits in den Notizbüchern von Weiss stichpunktartig fixiert und im Text entfaltet wird, kann mit Hofman als weiteres Kennzeichen der Textkonstitution auf denselben Erfahrungszusammenhang von Picassos Guernica und die Protagonisten der Romanhandlung verwiesen werden. Neben der für die Textkonstitution notwendigen Entwicklung des Motivs wird eine Entfaltung des Motivs bei der Konstitution des Bildes von Weiss vorgenommen. Die Guernica wird in einer Beschreibung durch die Protagonisten in den Roman eingeführt. Als Variation des Raumes liegt sie ausserhalb der Rahmenhandlung. Hofman sieht in der Küche einen durch den ganzen Roman hindurch angelegten "Rückzugsort, an dem die in die Enge getriebenen und verfolgten Menschen um ihr Selbstverständnis und um ihre Identität ringen". Guernica wird nach Prinzipien in den Textblock eingeführt, die Panofsky erstmals im Jahre 1939, also in zeitlicher Nähe zur Romanhandlung, zur kunsthistorischen Bildanalyse formuliert hat. Die drei von Panofsky eingeführten Phasen der ikonographischen Bildforschung von der ´vorikonographische Beschreibung´ über die ´ikonographische Analyse´ zur ´ikonographischen Interpretation´ durchläuft das Gemälde Guernica im 31. Textblock in der Beschreibung des Protagonisten. Das Gemälde wird in der vorikonographischen Beschreibung zunächst in einer Beschreibung wiedergegeben:

Die Körper waren nackt, zusammengeschlagen und deformiert von den Kräften, die auf sie einbrachen. Aus Flammenzacken ragten steil die Arme hervor, der überlange Hals, das aufgebäumte Kinn, im Entsetzen verdreht die Gesichtszüge, der Leib zu einem Bolzen geschrumpft, verkohlt, emporgeschleudert von der Hitze des Feuerofens. [...] Ihr aus dem Unendlichen kommendes dominierendes Gesicht drängte sich fließend aus dem Inneren eines Bauwerks, unter Dachziegeln, nach draußen, an einem weißgetünchten Mauerstück vorbei, doch in dieser Bewegung gelangte es wieder nach innen, in den langgestreckten kargen Raum, in dem das apokalyptische Geschehn sich abspielte, erhellt von der elektrischen Sonne der Küchenlampe, neben deren kalten Strahlen die Flamme der Ölfunzel mild und unberührt in ihrem Glasschirm stand.

Nun folgt die ikonographische Analyse:

Die Skizzen in der Zeitschrift, die Zeichnungen, die ersten Fassungen des Bildes gaben zu erkennen, daß der Stier und die vorschnellende Hand mit dem Notlicht von Anfang an die Vision überragten, und da der Stier immer menschlicher wurde und das Pferd immer bestien- hafter, meinten wir, im Taurus die Dauerhaftigkeit des spanischen Volkes dargestellt zu sehn, und im engäugigen, starr schraffierten Hengst den verhaßten, vom Faschismus aufgezwungenen Krieg.

Die ikonographische Interpretation des Gemäldes im Roman verweist auf eine verallgemeinerte Situation in einer Gesellschaft:

Dies alles, der mächtige Aufstieg und das Scheitern, das Absinken und die Sammlung zu neuem Vorstoß, war in dem großen Bild von Guernica enthalten. Vor zwei Jahrzehnten hatten sich die arbeitenden in unseren Ländern die Macht entreißen lassen, die Reformisten hatten zur Stärkung der Profiteure verholfen, deren Herrschaft zu furchtbarer Verunstaltung verholfen hatte. Picassos zerbeulte, berstende Leiber und verschobne Gesichtszüge zeugten von dieser Epoche. Das Bild schrie und erinnerte an alle zurückliegenden Stadien der Unterdrückung.

Die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Guernica entwickelt sich bei den Protagonisten somit nach kulturhistorischen Aspekten mit der Zielsetzung, Traditionszusammenhänge aufzudecken. Die Genese der Guernica und anderer Werke Picassos liefert für diese Thematik den Stoff. Neben der Guernica und ihren Vorstufen werden die von Picasso geschaffenen Werke Traum und Lüge des Franco, das im Jahre 1937 entstand, und die bereits zwei Jahre zuvor gemalte Minatauromachie im Guernica-Textblock durch das Bild-Motiv Stier in den Text eingearbeitet. Bereits in diesen vor der Guernica entstandenen Arbeiten Picassos sehen die Protagonisten der ÄdW den Kampf mit dem Stier als ein Symbol der ´Dauerhaftigkeit des Spanischen Volkes´ im Kampf gegen den Faschismus und in der Guernica und Traum und Lüge Francos als Franco personifiziert. Das Pferd findet sich als Symbol des Faschismus in der Guernica, Traum und Lüge Francos und der Minatauromachie wieder.

Weiss übernimmt durch die Gemälde Picassos Elemente für die Konstitution des Textes. Der Kubismus diente Picasso hier als analytisches Verfahren der Gestaltung von Motiven, das von den Protagonisten entdeckt wird. Das kunsthistorisch in die Stilepoche des Kubismus einzuordnende Guernica-Gemälde weist den Protagonisten zufolge künstlerischen Prinzipien auf, die auch an Fernand Legers Akte im Wald, Franz Marcs Turm der blauen Pferde und Bildern Lynol Feiningers zu beobachten sind. Die rezeptionsästhetische Wirkung der Bilder ist für die Protagonisten dieselbe. Ebenso, wie die Guernica „uns aufforderte, den ersten Eindruck nur als Anlaß zu benutzen, das Gegebene auseinander- zunehmen und von verschiednen Richtungen her zu überprüfen, es dann aufs neue zusammenzusetzen und es sich somit anzueignen, bestätigte sich die Regel, die ich von frühesten künstlerischen Untersuchungen her kannte", wird bei Legers Bild Akten im Wald der „Blick wachgerissen auf den eigenen Zustand."

III
Die Interpretation des Gemäldes wird im Roman zum Methode der Erschießung der Umwelt. Das kubische Kunstwerk, das nicht von einem geschlossenen Aspekt, sondern von einer Vieldeutigkeit ausgeht, ist für den Ich-Erzähler ein Medium "zum Aufschluß über die Mechanismen, zwischen denen wir lebten" und "die Phantasie dazu anzuleiten, nach Beziehungen, nach Gleichnissen zu suchen und damit den Bereich der Aufnahmefähigkeit zu erweitern." Diese hier exemplarisch an dem Gemälde Guernica aufgezeigte Funktion des Kunstwerks der Interpretation der Vergangenheit lässt sich durch den gesamten Roman verfolgen und ist als Sentenz bereits im Titel des Werks enthalten. Die Nutzung von Bild und Text als zwei im Austausch stehende Medien ermöglicht Weiss die Verbindung von poetischer Ebene der fiktiven Erzählung und der historischen Ereignisse, die das Bild überliefert. Der Übergang von der Rahmenhandlung zum Bild ist Teil dieses Konzeptes. Wie Meyer in seiner Formanalyse nachgewiesen hat, wird in der ÄdW "die Dominanz monotoner, zeitlicher Sukzession als die Grundform jeder erzählten Ereignisabfolge durch den Primat des kausal determinierten Erzählens aufgehoben oder doch zumindest unterbrochen". Diese ununterbrochenen Erzählpassagen innerhalb der mehrschichtigen Struktur des Handlungsgefüges lassen sich als Rahmenhandlung bezeichnen, die in chronologischer Abfolge den Handlungsverlauf des Ich-Erzählers wiedergibt. Diese Rahmenhandlung definiert sich im Gegensatz zur zirkuläre, mythologisch strukturierte Erzählweise, die einen Grossteil des Romans ausmacht, durch die Ingressivität ihrer einzelnen Handlung. Im untersuchten Text konzentriert sich die Rahmenhandlung auf Beginn und Schluss des 31. Textblocks. Diese Handlung beschreibt den Gang vom Stadthaus in Valencia in den ausserhalb der Stadt gelegenen Apfelsinenhain bis zum Schwächeanfall und Schlussmonolog Ayschmanns. Die Rahmenhandlung ermöglicht auch die Einbindung dialogischer Elemente der Protagonisten und bildet eine notwendige Voraussetzung, um statische Elemente wie Guernica in den Roman aufzunehmen und gleichzeitig eine historische Chronologie mit einer fiktiven Handlung zusammen im Roman ablaufen lassen
zu können.

Die Anordnung des Gemäldes in der Handlung des Romans ist ein Teil des Beschreibung der Zusammenkunft in der Küche. Der Übergang von der Rahmenhandlung zur visuellen Rezeption des Kunstwerks wird in der ÄdW minutiös in einer an die Situation gebundene Konfrontation der Betrachtenden mit dem Bild beschrieben: „Zunächst hob sich das Bild [...] fremdartig ab von dem blanken, ungeheuer leuchtenden Blaugrün der Blätter der Apfelsinenbäume. [...] Die Luft war erfüllt vom metallischen Gesang der Grillen. Von der Stadt her waren keine Geräusche zu hören. Nach einer Weile nahm die Komposition [...] Gegenständlichkeit an." An dieser Stelle wird der beschriebene Gegenstandsbereich so weit eingeengt, bis sich das Umfeld von der Bildfläche löst und isoliert beschrieben wird. Die Guernica zeichnet sich als Kunstwerk für die Romankonzeption dadurch aus, dass hier - anders bei den Kunstwerken Pergamon-Altar oder Floß der Medusa – eine erlebte Welt der Protagonisten und die vorgestellte Welt der Guernica als Erzählstränge zeitlich und räumlich äusserst dicht beieinander liegen. Bereits durch die Rahmenhandlung - Ich-Erzähler und Ayschmann betrachten ein Sammelwerk mit Abbildungen von Kunstwerken- ist festgelegt, dass Guernica nicht als isoliertes Kunstwerk in den Text eingebettet ist. Neben Reproduktionen unterschiedlicher Entstehungsphasen der Guernica betrachten Ich-Erzähler und Ayschmann Kunstwerke unterschiedlicher Epochen. Die Tradition des Leitmotivs ´Leid´ in der Guernica ist offensichtlich für das Einfügen dieses Bildes in das poetische Konzept von Weiss. Ungeachtet der für die literarische Gattung Roman spezifische Tradition der Verbindung einer Erzählung mit fiktiven und historischen Elementen und Themen entwickelt Weiss durch das Medium Bild unterschiedlicher Motive wie ´Unterdrückung´ und ´Leid´ in der Darstellung der Guernica wie auch mittels Rousseaus Darstellung des Grauens in Reiterin mit schwarzerm Pferd. Miit der Verkörperung des Leids Mariae in christliche Andachtsbildern der Renaissance und Steinzeitzeichnungen wird das Motiv als universelles Thema überliefert.

Picassos Gemälde der spanischen Stadt Guernica hat somit im Roman durch seine Technik und Aktualität eine Schlüsselfunktion innerhalb der Lebensgeschichte der Protagonisten. Für die Entfaltung der Romanstruktur spielt die Gestaltung dieser Stadt in der bildenden Kunst als Teil der Handlung in der Küche eine weniger gewichtige Rolle. Meyer hat bereits aufgezeigt, dass der Pergamon-Altar für die Romankonzeption als Kunstwerk die entscheidende Funktion hat. Das Historiengemälde ist jedoch im Gegensatz zur Architektur für die Handlung bedeutsam. In der Reihe der Bilder des Guernica- Textblocks, die nach traditionellen kunsthistorischen Kategorien in die Gattung des Historienbilds fallen und als ´Wegzeichen im Gewirr der historischen Linien´ dem Ich-Erzähler dienen, bildet die Guernica, vom Zeitpunkt seiner Entstehung her gesehen, den zeitliche Abschluss. Auch mit Goyas Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 , die im Jahre 1814 gemalt wurde, verbindet sich bei den Protagonisten die eigene politische Situation nach der spanischen Niederlage: „Ich fragte Ayschmann, ob ich ihn zum Krankenheim bringen solle, aber er hatte das Buch schon wieder aufgeschlagen mit Goyas Bild von der Erschießung der Aufständischen. Und doch, sagte er [.....] verspüre ich keinen Schrecken beim Gedanken, daß das, was uns eben noch nah ist, gleich unwiederbringlich verloren sein kann [...]." Gericaults Historiengemälde Floß der Medusa, das im Jahre 1819 gemalt wurde, dient den Protagonisten als Sinnbild eines Lebenszustandes, in dem Unterdrückte durch ihre gemeinsame Kraft zur politischen Macht werden: „Voller Verachtung den Angepaßten den Rücken zukehrend, stellten die auf dem Floß Treibenden Versprengte dar einer ausgelieferten Generation, die von ihrer Jugend her noch den Sturz der Bastille kannten." Delacroixs im Jahre 1830 fertiggestelltes Historiengemälde Freiheit auf den Barrikaden zeigt ein Stadium an, in den eine Idee sich in einer Allegorie zu einer Szene mit einer Situation, die materielle Gewalt veranschaulicht, wandelt. Picassos Guernica, die im Jahre 1937 fertig wurde, hat als Mahnmal aller zurückliegenden Stadien der Unterdrückung wie das literarische Leitmotiv ´Leid´ eine exponierte Funktion für den Roman: Auf der Ebene der erzählten Geschichte ist das Gemälde historisches Element einer aktuellen poetischen Handlung. Bei Bildern wie der Guernica lassen sich nur "Erfahrungen der Künstler wiedergeben", wobei "Picasso am eindeutigsten die Unmöglichkeit ausgedrückt hatte, dem Erlebnis anderer menschengerecht zu werden." Wie bereits bei verschiedenen Werken der Kunstgeschichte das Leit-Motiv ´Leid´ als Methode zur Erzeugung des Pathos herangezogen wurde, wird auch innerhalb der Gattung Historienbild bei Picassos Bild so ein Traditionszusammenhang für die Interpretation von den Protagonisten hergestellt. Die im Roman eingeflochtenen Kunstwerke haben verweisende Funktion auf andere Romanpassagen, in denen sie wieder aufgegriffen werden und sind somit seriell funktionierende Elemente der Textkonstitution.

VI
Das Bild hat für Weiss auch Anteil an der Auflösung des erzählenden Ichs und der Etablierung und Klassifizierung von sozialen Gruppen im Roman. Weiss hat sich zu den Aufgaben von Malerei und Literatur geäussert. Im Jahre 1980 bemerkte Weiss zur Bedeutung der Malerei:

Es gibt Bilder, die eine ungeheuer politische Wirkung haben, wenn man sich Goya ansieht, zum Beispiel die Erschießung der Aufständischen oder Picassos Guernica- das sind politische Agitationen. Die Malerei hat im Grunde genommen die gleichen Möglichkeiten wie die Literatur. Nur ist es andererseits ebenso, daß im Bild eine einzige Situation gezeigt wird, während ich mehr und mehr ein Weltbild bekam, das so vielseitig und vielschichtig wurde, daß ich mit der Malerei allein nicht mehr auskam.

Diese Position einer agierenden, politische Literatur formulierte Weiss bereits nach Abschluss des ersten Bandes der ÄdW, findet sich jedoch bereits in den Notizbüchern der ÄdW: Zwischen dem Leben und Kunst, symbolisch durch den Fluß getrennt, gibt es keine Brücke. Wohl gibt es Ratschläge von klugen Leuten, den Schriftstellern, aber ihre Weisheiten verstehen die Menschen nicht. Das Gemälde Guernica wird für die Auflösung des subjektiven Standpunkts des Erzählers genutzt. An ihre Stelle tritt ein politisch motiviertes ästhetisches Konzept. Picasso und Weiss haben sich über diese Bedeutung von Kunst geäussert. Aus der Notiz "Der Kampf um Guernica geht auch um die Erhaltung der Kultur" geht nicht hervor, ob sie als Zitat für den Roman als Devise oder als Sentenz von Weiss einzuschätzen ist. In leicht erweiterter und variierender Form findet sie sich in der ÄdW und als Zitat Picassos wieder. So äusserte sich Picasso im Dezember des Jahres 1937 zu seiner Position im spanischen Bürgerkrieg: „Ich habe immer geglaubt und glaube noch immer, daß Künstler, die mit spirituellem Vermögen leben und arbeiten, sich nicht gleichgültig gegenüber einem Konflikt, in dem die höchsten werte der Menschheit und Zivilisation auf dem Spiel stehen, verhalten und dies auch nicht sollten." Im Roman findet sich diese Position Picassos zu seiner Kunst – bereits in der Tagebuch-Notiz von Weiss und Picassos Zitat vormals formuliert – als indirektes Zitat im Guernica-Textblock. An dieser Stelle kann aufgezeigt werden, wie zugunsten der historischen Authentizität auf eine eindeutige Zuweisung verzichtet wird und bereits in der Arbeitstechnik Weiss' nicht mehr berücksichtigt ist: „Sein ganzes Leben [...] sei nichts anderes als ein fortwährender Kampf gegen die Rückständigkeit des Denkens und gegen den Tod der Kunst und er verstand mit diesen Worten die Übergriffe der Reaktion auf das Volk und die Freiheit in Spanien."

Für den Weg vom historischen Materialismus zum Mythos sind Marx, Picasso und Weiss als Denker repräsentativ. Nach Raphaels Interpretation wird innerhalb der marxistischen Theorie der Zusammenhang zwischen einer ökonomischen Basis und Überbau durch die ´Mittlerrolle des Mythos´ hergestellt. Diese mythologischen Elemente lassen sich in der ÄdW formal in der Erzählstruktur des Romans und inhaltlich durch die Aufnahme mythologischer Gestalten wie Pegasus und Odysseus, die in die oben genannten Bildinhalte integriert werden, und Parallelen im Werk verschiedener Künstler oder die Kunstwerke behandelnde Personen in mit Mythen konzipierten Werken nachweisen. Die Funktion des Ich-Erzählers spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Als Hilfskonstruktion für den Rezipienten entwickelt er die analytischen Verfahren, die zum mythologischen Weltbild der ÄdW führen, in dem die Gemälde Allegorien für die Erinnerung an historische Ereignisse sind. Zeitgenössische Historiker hatten bereits zu Lebzeiten Picassos Aufgabe der Erinnerung fesrgehalten. Über Picassos ästhetisches Vermögen sagte bereits Apollinaire: "Picasso hat Bilder der Menschheit erblickt, die im Azur unseres Gedächtnisses schwebten und in Verbindung zum Göttlichen standen, um sie an Metaphysiker weiterzugeben."

Neben der Betrachtung vom Verhältnis zwischen Bild und Text innerhalb des Guernica -Textblocks der ÄdW kann aufgezeigt werden, wie Weiss die mythologische Konzeption des Romans bereits innerhalb seiner vorstrukturierenden Tagebuch-Notizen anlegte. Dabei bediente Weiss sich verschiedener Leitmotive wie dem Pathos, die er ausführlich im Romantext entwickelt und somit neben einer chronologisch orientierten Rahmenhandlung eine in sich geschlossene, komplexe Erzählebene schafft. In der ÄdW wird das authentische Kunstwerk mit den mystischen verweisenden Funktionen und die Aufgaben, Geschichte – wenn auch von subjektivem Standpunkt – augenscheinlich zu machen, übernimmt und als Material für intellektuelle Methoden der Auseinandersetzung und zur Urteilsfindung dient. Die traditionelle Aufteilung in Autor, Künstler und erzählendem Ich wird dabei weitgehend im Text aufgelöst und durch Medien ersetzt. Die Addition verschiedener Motive aus Kunstgeschichte und Romanhandlung machen die ÄdW zu einem Werk der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, dass auf eine einfache lineare Erzählform weitgehend verzichten kann, um verschiedene Erzählperspektiven miteinander zu verbinden. Mit der Kombination der Fiktion der Dichtung und historischer Überlieferung des Bildes werden so – vergleichbar multimedial bearbeiteten Texteditionen – historische Elemente in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhundert durch das Zitat anderer Medien realisiert.

Anmerkungen

Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1991, S. 15.

Ebd., S. 42-44.

Ebd, S. 73-75.

Ebd., S. 77.

So formuliert auf dem Kongress ´Die Aktualität des Ästhetischen´ in Hannover vom 3.- 5. September 1992. Veröffentlicht als: Bohrer, Karl-Heinz: "Die Grenzen des Ästhetischen." In: Die Zeit. 4. 9. 1992, S. 56.

Stephan Meyer: Kunst als Widerstand. Zum Verhältnis von Erzählen und ästhetischer Reflexion in P. Weiss' "Die Ästhetik des Widerstands". Tübingen 1989, S. 15-17. Im folgenden werden zum Stellenbeleg Seitenzahl und Meyersche Gliederung angegeben; Beispiel: ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 332; S 6, Tb31. Grundlage ist die Edition: Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Frankfurt am Main 1988.

Vgl.: Meyer: Kunst als Widerstand. S. 297-298.

Vgl. für die kunsthistorischen Motive in der ÄdW: Nana Badenberg: Kommentiertes Verzeichnis der in der Ästhetik des Widerstands erwähnten bildenden Künstler und Kunstwerke. In: Alexander Honold; Ulrich Schreiber (Hrsg.): Die Bilderwelt des Peter Weiss. Hamburg 1995, S. 161-230.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 332; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 334; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 340-341; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 330-331; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 339; S 6, Tb 31.

Peter Weiss: Notizbücher 1971-80. Bd. I. Frankfurt/M. 1981, S.188.

Vgl. hierzu die den Notizen entsprechendem ausführlichen Motivbeschreibungen der ÄdW:
a)"[...] als Ayschmann die Abbildung der Minotauromachie aufschlug, wurde die Küche des Bauernhauses bei Cueva la Potia und der tief in die Erde gegrabene Keller gegenwärtig." (ÄdW, Bd. I, Teil II, S. 336; S 6, Tb31)
b) "Daß die Zerstörung Guernicas auf den vieleckigen Fliesen einer Küche stattfand, war mir unmittelbar verständlich." (ÄdW; Bd. I; Teil II, S. 337; S 6, Tb 31)
c) "In einem solchen Raum (i.e. Coppis Küche, F. H.; vgl. hierzu ÄdW 1. Band, 1. Teil, 3. Textblock, S. 25ff) hatte auch ich die Einsicht gewonnen, daß es keine Trennung gab zwischen den sozialen und politischen Materialisationen und dem Wesen der Kunst." (ÄdW; Bd. I; Teil II, S. 337; S 6, Tb 31)
d) "Es lagen immer Reiseschilderungen, Biographien, Berichte über Entdeckungen und historische Ereignisse bei uns in der Küche" (ÄdW; Bd. I; Teil II, S.338; S 6; Tb 31).

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 268 ; S 5., Tb 24.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 332-334; S 6, Tb 31.

ÄdW, Bd. I, Teil I, S. 25-27; S 1, Tb 3.

ÄdW, Bd. I, Teil I, S. 88-90; S 2, Tb 8. Vgl. hierzu: Stierle, Karlheinz: Text als Handlung. München 1975, S. 21.

Vgl.: Hofman, Michael: "Ästhetische Erfahrung in der historischen Krise. Eine Untersuchung zum Kunst- und Literaturverständnis", P. Weiss' Roman Die Ästhetik des Widerstand". Bonn 1990, S. 46-47.

Ebd. , S. 75.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 332-333; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 334; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 340; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 336; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 336; S 6, Tb 31.

Die aufklärende Funktion der Kunst in der ÄdW ist bereits auf Kritik gestossen. So argumentiert Welsch gegen eine kunst-externe Position als Basis-Perspektive des Romans, die sich selbst durch die Kunst bestätigt sieht und folgert: "Das Verfahren des Peter Weiss ist nicht nur für eine sozialistische, sondern ebenso für eine aristokratische, konservative oder faschischtische Korrelation von Ästhetik und Politik verwertbar." Vgl.: Welsch: Ästhetisches Denken, S.159-164.

Meyer: Kunst als Widerstand, S. 40.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 332; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 340-341; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 340; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 345; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 342; S 6, Tb 31.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S. 345; S 6, Tb 31.

Wolf Schön: "Die Malerei ist statisch. Als aus Bildern Bücher wurden. Ein Gespräch mit Peter Weiss", Matthias Richter; Rainer Gerlach (Hrsg.): Peter Weiss im Gespräch. Frankfurt/M. 1986. S. 259-261.

Weiss: Notizbücher, Bd. 1, S. 30.

Ebd., Bd. 1, S. 194.

Barr, Alfred: Picasso. Fifty Years of his Art. New York 1946. S. 202.

ÄdW; Bd. I, Teil II, S.335; S 6, Tb 31.

Hierzu sei innerhalb der 31. Tb der 6. Sequenz (S. 339) zitiert: "Perseus, Dante, Picasso [...] überlieferten, was ihr Spiegel aufgefangen hatte, das Haupt der Medusa, die Kreise des Inferno, das Zersprengen Guernicas."

Düching, Hajo: Apollinaire zur Kunst. Texte und Kritiken 1905-1918. Köln 1989, S. 51.