Volker Braun, Das Wirklichgewollte (Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 2000).

Mit dem erzähltechnisch bewährten Mittel syntaktischer Fragmentierung befragt Volker Braun in drei äußerst kurzen Erzählungen mit den beredten Titeln “Das Wirklichgewollte”, “So stehn die Dinge” und “Was kommt?” sein systemloses Zeitalter um die Jahrtausendwende. Die Texte haben ein Minimum an Satzzeichen, stellen leitmotivisch ein Maximum an Fragen ohne Antwort (“Was wollen Sie?, “Was willst du?”), spiegeln eine unheimlich ungewisse Zukunft auf globaler Ebene. Keine Ausblicke gibt Braun, schon gar nicht auf utopische Horizonte, bestenfalls handelt es sich bei dieser konzentrierten Prosa um sporadische Einblicke. Was Braun bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises im Jahre 2000 über seinen berühmten Vorgänger sagte, gilt auch für ihn: “Er konnte nur die unaushaltbaren Tatsachen zum Sprechen bringen, ungetröstet von einer erhabenen Idee.”

Die gestaltlosen Miniaturen führen nicht nach Deutschland, sondern an drei völlig verschiedene Orte auf unterschiedlichen Kontinenten: in die Toskana in Italien, nach Sibirien, nach Rio de Janeiro in Brasilien. Die Schauplätze könnten auch woanders sein. Die Texte stehen in einem Spannungsverhältnis und korrespondieren miteinander. Ihnen gemeinsam ist das Thema des Einbrechens roher Gewalt in private Lebensbereiche. Gezeigt werden Katastrophen ohne Ergebnis, das Walten des Faustrechtes, ein Ende im Nichts und - last but not least - die Porträtierung von der Zeit gelähmter, “nutzloser Existenzen” älteren Jahrgangs, die einst revolutionäre, jetzt “verbrauchte” Ideen hatten. In ihre leere Welt bricht abrupt die Not und die Armut in Gestalt junger gesichtsloser Gewalttäter: hungriger albanischer Flüchtlinge, alkoholsüchtiger Asozialer, Banden obdachloser Straßenkinder, kurz: Ganoven, Banditen und Mörder haben im Weltbild der Figuren die Genossen ersetzt.

Was ist das Wirklichgewollte, oder soll man sagen das Nichtgewollte? Braun gibt keine Antwort. Er präsentiert ein Gewirr von Interessen (“er oder ich”) und Sehnsüchten, ein Gewirr von sinnlosen, abgelebten Träumen und Trieben, die von der Not gesteuert sind. In der Titelgeschichte findet sich das im Ruhestand lebende Ehepaar Badini mit albanischen Flüchtlingen konfrontiert. Die Eindringlinge sind einfach da, sitzen in der Küche, verletzen die Alten, als man sie fortschicken will, verschwinden dann und kommen, bedrohlich grinsend, wieder. Die Geschichte endet mit der unbeantworteten Frage: “Was wollen sie?” In der mittleren Geschichte “So stehn die Dinge” führt ein sowjetverdienter Miterbauer der Baikal-Amur-Bahn, Sachar Baschkin, das Leben eines Arbeitslosen ohne Zukunft an einer aufgegebenen Bahnstation. So auch sein Neffe Sergej, der im Alkoholrausch einen Mord begeht. Baschkin geht mit ihm, vor allem aber mit sich selbst und seiner Lebensphilosophie, ins Gericht: “Hat das Leben einen Sinn? Einer muß dran glauben. Er hob die Hand und band Sergej los.” Ein offenes Ende auf dem Hintergrund einer “Bahn ins Nichts”. In der letzten Geschichte “Was kommt?” sieht der neunzig Jahre alte Architekt Borges stillschweigend dem entgegen, was ihm bevorsteht. Er, der ehemalige Revolutionär, hat den Straßenjungen Jorge bei sich aufgenommen, der sich wieder davonmacht und dann mit einer Bande in Borges Wohnung eindringt. Was kommt, wird vom Recht der Straße diktiert werden, oder sollte Jorge ihn gar schützen wollen? “Jorge, die Hände nach hinten streckend, stemmte sich gegen die Meute, die ihn trieb”. Die Geschichte ist offen.

In all diesen offenen Geschichten bewegen sich die Figuren auf unsicherem Boden. Festen Boden bietet allein Brauns kompakte, gekonnte Sprache, seine wohlgeratenen Sätze. Dem unbeantworteten Nichts der einzelnen Miniaturen steht ein großartiges formales Etwas gegenüber. Darin liegt der Lesegenuß.

Christine Cosentino
Rutgers University