Barbara Honigmanns Briefroman Alles, alles Liebe: ein Beitrag zur García Lorca-Rezeption in der DDR
Gabriele Eckart

Es ist bekannt, dass für die Kulturpolitik der DDR die “Pflege“ des literarischen Erbes einen zentralen Stellenwert hatte, wobei aber nur Texte in Frage kamen, die in das zu vermittelnde marxistisch-leninistische Weltbild passten. Wie Wolfgang Emmerich zeigt, war die Alternative zu dieser Erbe-Pflege “das ’völlige Verwerfen’, wie noch das ’Kulturpolitische Wörterbuch’ von 1970 lehrt – als ob es sich bei den kulturellen Traditionen um einen Topf mit guten und schlechten Erbsen handelte, aus dem man sich Passendes herausnehmen und anderes auf den Müll werfen könnte“ (84-5). Verworfen wurde etwa das als spätbürgerliche Dekadenz bezeichnete Werk von Autoren wie Kafka, Beckett, Joyce, Proust, Gide, Sartre und Camus.

Federico García Lorcas Texte wurden als die eines Opfers der Franco-Truppen im spanischen Bürgerkrieg von der offiziellen Kulturpolitik der DDR zu den “guten Erbsen” gerechnet. Seine Gedichte und Theaterstücke staken nicht im Giftschrank der Bibliotheken; sie waren einem breiten Publikum zugänglich. Und seine Stücke wurden an Bühnen der DDR gespielt. Ein Höhepunkt war in den siebziger Jahren die sensationelle Aufführung des Stückes Doña Rosita bleibt ledig an den Berliner Kammerspielen, bei der Siegfried Höchst Regie geführt hatte. Sensationell war diese Aufführung wegen des Bühnenbildes. Horst Sagert “hatte, ohne jedes folkloristische[s] Moment, die ganze Bühne inklusive der Kostüme in eine eiskalte und dennoch schöne Landschaft aus Spitzen verwandelt“ (Honigmann, Brief 2).

Wie Barbara Honigmann in ihrem 2000 erschienenen Tatsachenroman Alles, alles Liebe[1] erzählt, war die Rezeption García Lorcas in der DDR jedoch keineswegs unproblematisch. Honigmanns Text zufolge inzenierte eine Gruppe Berliner Theaterleute Mitte der siebziger Jahre García Lorcas Stück Bernarda Albas Haus illegal in einer Wohnung. Aus dem Roman geht nicht hervor, ob dieses Stück in der DDR der siebziger Jahre nicht aufgeführt werden durfte oder ob die Theaterleute es einfach auf eine gewagte Weise, die die Toleranzgrenze der DDR-Kulturpolitik überschritt, inszenieren wollten. Diese Arbeit untersucht, auf welche Art Honigmanns Protagonisten García Lorcas Theaterstück interpretierten -- sie heben den Text aus dem dörflichen Raum Andalusiens der dreißiger Jahre in den Kontext der Gesellschaft des real existierenden Sozialismus der DDR und unterminieren dabei mit erstaunlicher Rigorosität deren Voraussetzungen.

Wie C. Brian Morris in seiner Untersuchung des Theaterstückes Bernarda Albas Haus zeigt, besteht seine hohe Qualität vor allem darin, dass es die verschiedensten Interpretationen zulässt: “The play could be a statement about politics, about the subordination of the individual to a higher authority or strategic necessity, about the failure of any complexion of government, whether that of Primo de Rivera or of the Republic, to change deeply-ingrained attitudes and tenaciously-held customs” (114). Viele andere mögliche Interpretationen kommen hinzu, weswegen das Theaterstück nicht nur unaufhörlich neu aufgelegt, sondern auch neu aufgeführt und kritisch gedeutet wird. Morris listet im Anhang seines 1989 beendeten Buches über García Lorcas Stück Bernarda Albas Haus allein siebenundneunzig verschiedene Interpretationen auf.

Die Nummer 73 in Morris’ Liste ist ein 1971 in Ostberlin erschienener Artikel Carlos Rincóns, über den Morris anmerkt: “Underlines the social, semifeudal setting with its stress on money and class, and explores the conflicts between Bernarda and María Josefa and between Bernarda and Adela”(125). Dieser Artikel sowie Rincóns 1975 erschienenes Buch Das Theater García Lorcas, dessen Schlusskapitel eine überarbeitete Fassung des von von Morris erwähnten Artikels bildet, repräsentieren das offizielle García Lorca-Verständnis der DDR. Obschon Rincón das andalusische Frauendrama Bernarda Albas Haus nicht direkt als ein Klassenkampf-Drama deutet, tut er es doch indirekt. Seiner Ansicht zufolge steht nämlich jede Szene im Zusammenhang mit dem “Hauptwiderspruch des Stückes”(311), der den gesellschaftlichen Hauptwiderspruch der Epoche darstellt: der Widerspruch zwischen Bernarda Alba, “Herrin aus der Landbourgeoisie”(310), und den Landarbeitern. Die letzteren sind Schnitter; ihr Arbeitsgerät, die Sichel, hat für Rincón eine “politische Konnotation”(311). Folglich betont der Autor: “Allein die Schnitter können für Lorca auf einer poetischen Ebene die Aufgabe erfüllen, die keine bürgerliche oder kleinbürgerliche politische oder soziale Kraft jemals auf sich nahm: die Mauern des morschen spanischen Feudalbaus zum Einsturz zu bringen”(311) und damit “die Ausbeuterschaft von ihren Wurzeln her zu bekämpfen”(312). Es drängt sich die Frage auf, warum solch ein im marxistischen Sinne fortschrittliches Stück mit einer utopischen Dimension in der DDR illegal in einer Privatwohnung, d.h unter den lästigen Bedingungen der Überwachung durch die Staatsicherheit, aufgeführt wurde.

Bernarda Albas Haus ist ein Drama über eine wohlhabende, verwitwete Frau, die in einem Haus Andalusiens mit dicken Mauern in den dreißiger Jahren despotisch über ihre fünf unverheirateten Töchter wacht, von denen sich die jüngste, Adela, am Ende erhängt. Sie hatte heimlich ein Liebesverhältnis mit einem Burschen des Dorfes, der aus materiellen Gründen um die Hand ihrer ältesten, unattraktiven Schwester anhält. Als die Mutter auf ihn schiesst und Adela annehmen muss, er seit tot, bringt sie sich um. Die Mutter lässt im Dorf ungerührt und scheinheilig verkünden, sie sei als Jungfrau gestorben. Die von Rincón hervorgehobenen und mit einer utopischen Dimension versehenen Schnitter haben insofern eine wichtige Funktion im Stück, als ihr aus der Ferne erklingendes Lied die Sinne und Sehnsüchte der im Haus eingesperrten Töchter aufstachelt und damit ihr Eingesperrtsein erst recht unerträglich macht:

Abrir puertas y ventanas
Las que vivís en el pueblo,
El segador pide rosas
Para adornar su sombrero (Lorca 68).

Barbara Honigmanns Briefroman, der unter anderem [2] von den illegalen Proben von Bernarda Albas Haus in der schon erwähnten Gruppe junger Theaterleute erzählt, spielt zwischen dem 1. November 1975 und dem 3. Januar 1976. Anna arbeitet zu dieser Zeit am Theater in Prenzlau, um ein Weihnachtsmärchen zu inszenieren; dabei erstickt sie fast unter den Zumutungen der Theaterbürokratie. Um sich Luft zu machen, tauscht sie Briefe mit Eva, ihrer Berliner Freundin, die derzeit an einem Provinztheater in Thüringen arbeitet, außerdem mit ihrer Mutter, ihrem Liebhaber Leon und einigen anderen Freunden, von denen vor allem Alex für unsere Untersuchung eine wichtige Rolle spielt. Am 5. November ermahnt er Anna, am Wochenende in Berlin “die Bernarda-Proben” in seiner Wohnung nicht zu versäumen, und fügt interessanterweise hinzu, dass ein Carlos, der in Leipzig seine Doktorabeit über García Lorca beendet hat und jetzt wie er selbst jeden Tag im Café ‘Espresso’ sitzt, angeboten hat, ihnen einmal “das Stück interlinear zu übersetzen und etwas über Lorca vorzutragen”(24). Obschon der Nachname nicht genannt wird, können wir davon ausgehen, dass es sich bei Carlos um den bereits erwähnten chilenischen Hispanisten Carlos Rincón handelte, der in jenen Jahren im Exil in der DDR lebte und tatsächlich in Leipzig über García Lorca promoviert hatte.[3] Und Alex fügt hinzu: “Er meinte, bei einer neuen Übersetzung des Stückes, wie wir uns das ausgedacht hatten, gäbe es Schwierigkeiten wegen der Rechte, aber da unsere Arbeit ja nicht öffentlich ist, wäre es eventuell auch egal”(24). Im gleichen Brief teilt Alex Anna mit, dass ihr gemeinsames Theater-Projekt nicht länger geheimzuhalten sei: “Dauernd fragen mich Leute, ob das stimmt, daß wir einen Lorca im Zimmer aufführen, und alle wollen plötzlich mitmachen” (24-5).

Warum die Freunde ausgerechnet Bernarda Albas Haus zur Aufführung ausgewählt haben, erfährt der Leser zum erstenmal andeutungsweise aus einem Brief Evas an Anna vom 13. November 1975: “Es ist so wichtig, dass wir etwas zusammen arbeiten, denn wir müssen auch einmal Dinge nach unserem Maß tun und uns nicht weiter immer nur beugen und alles runterschlucken, bis wir schließlich genauso eingesperrt und erstarrt leben wie in Bernardas Haus”(41). Zwei Tage später schreibt sie Anna über einen Wutanfall Alex’, der sich nach einer Premierenfeier in Meiningen betrunken über die Schienen der Straßenbahn warf und unter anderem brüllte: “Die ganze Misere! Die Scheiß-DDR! Die Enge! Die Starre! Das Unglück! Die Lügen! Das ewige Runterschlucken!”(51). Spätestens an diesem Punkt der Erzählung wird dem Leser klar, die Freunde haben das Drama von der selbstgerechten Despotin Bernarda, die ihre Töchter einsperrt und drangsaliert, kaum des Klassenkampfes wegen ausgewählt. Nicht um den Grundwiderspruch zwischen Landbourgeoisie und Landarbeitern in Spanien geht es ihnen, sondern um die Befindlichkeit der Protagonisten aus Honigmanns Text in der DDR, für die sich Bernarda Albas Haus mit den dicken Mauern als Metapher geradezu aufdrängt. So sagt Sandra etwa während eines der folgenden Bernarda-Treffens: “Bernardas erstes Wort heißt ‘Ruhe’ und das letzte heißt ‘Schweigen’. Das ist es, was wir spielen müssen, dieses Schweigen und die unendlichen Entfernungen zwischen den Personen und die unendliche Entfernung nach ‘draußen’”. Darauf erwidert Rick: “Die Bewegungen also, bzw. die verhinderten Bewegungen in den Zwischenräumen”(55). Es versteht sich von selbst, dass Bernarda Albas Haus auf einer öffentlichen Bühne der DDR nicht auf diese Weise interpretiert werden konnte.

Aus Alex’ Protokoll über eine der Proben erfahren wir, dass Carlos Rincón tatsächlich behilflich ist und in den Freundeskreis, der die illegale Aufführung von Bernarda Albas Haus plant, mehr oder weniger mit eingezogen wird. Dies vermag nur einem, der die DDR nicht kannte, fremd erscheinen. Till Sailer schreibt im Rückblick:

In diesem Land gab es zwei Ebenen, auf denen man miteinander verkehrte. Im offiziellen Bereich herrschte ein unpersönlicher, entindividualisierter Stil vor, geprägt von Denkklischees und Worthülsen. Wer sich offiziell äußerte, geriet fast zwangsläufig in das Fahrwasser eines vorgetäuschten Wir-Gefühls. Daneben gab es die informellen Beziehungen der Nischen, im privaten Bereich, unter engen Freunden. Hier fiel der geistige Zuckerguß weg. Man sprach offen über die Folgen der Dummheit, Verantwortungslosigkeit und Inkompetenz. Hier gab es ein echtes starkes Wir-Gefühl (1777).

Und in diesem “verborgenen Raum” war es, fährt Sailer fort, wo sich “das Leben in der DDR vorwiegend abgespielt” (1777) hat. Wenn Carlos Rincón, auf die Sichel als das Arbeitsgerät von Schnittern verweisend, eine utopische Dimension in das Stück hineininterpretiert, die letztlich auf die Befreiung der Arbeiterklasse verweist (eine Sichel war Teil des Staatsemblems der DDR), so hat das mit dem nötigen “geistigen Zuckerguß” zu tun, von dem Sailer spricht. Ohne ihn konnte in der DDR nichts, schon gar nicht ein gesellschaftswissenschaftliches Werk, offiziell veröffentlicht werden. Und obschon es in Honigmanns Text nicht direkt gesagt wird, allein die Tatsache, dass Rincón in die Arbeit an der Inszenierung mit einbezogen wird, weist darauf hin, dass in dieser Nische des Freundeskreises der “Zuckerguß” in seiner García Lorca-Interpretation weggefallen sein muss.

Ein zweiter Blick auf Rincóns in der DDR publizierte Arbeiten zu García Lorca lässt indessen auch hier schon eine zweite mögliche Interpretation des Stückes erkennen, die in die gleiche Richtung wie jene von Honigmanns Protagonisten zielt. Morris, erinnern wir uns, hatte zu Rincóns Artikel bemerkt, dass es dem Autor darin vor allem um die Analyse der sozialhistorischen Struktur, um Klassen und die Rolle des Geldes geht. Und er hatte hinzugefügt: “and explores the conflicts between Bernarda and María Josefa and between Bernarda and Adela”(125). Da alle drei Frauen, es handelt sich um Großmutter, Mutter und Enkelin, der gleichen Klasse angehören, nämlich der Landbourgeoisie, kann es bei der Erörterung der Konflikte zwischen ihnen Rincón wohl kaum um das Klassenkampfthema gegangen sein. Schauen wir uns Rincóns Analyse der Beziehungen zwischen den drei Frauen einmal an!

Als die dramatische Situation des Stückes beschreibt er die "Enge des Hauses, das zum Gefängnis wird"(311), eine "geschlossene“, von der äusseren Welt „abgekapselte Enge"(312). Innerhalb dieser Enge gibt es zwei Frauen, die Bernardas Gebot des Schweigens durchbrechen: ihre wahnsinnige Mutter María Josefa sowie Adela, ihre jüngste Tochter. María Josefas "fertile imagination stands in dramatic opposition to Bernarda's petrified mind"(Wilcox 582). Hinzukommt, dass sie eine ihrer Enkelinnen auffordert, mit ihr zu fliehen: "¿Me acompañarás tú a salir al campo? Yo quiero campo…" (115-6). Adela spricht aus, was alle denken, aber nicht zu sagen wagen: "Yo no puedo estar encerrada.[…] ¡Yo quiero salir!" (41). Rincón deutet diese Verhaltensweisen folgendermassen: "Mit dem Protest gegen die Gefängnisfunktion des Hauses wird dessen Stabilität und Ordnung erschüttert"(317); mit anderen Worten: die Sprechakte der Großmutter und Adelas sind Rebellion. Inszeniert man das Stück so, dass Bernarda Albas Haus metaphorisch für die DDR steht, wirken bei den strikten Reisebeschränkungen in diesem Land die Worte der beiden Frauen geradezu staatsgefährdend. Noch interessanter wird es, wenn Rincón die Reaktion Bernarda Albas auf diese Sprechakte beschreibt: Sie duldet sie zähneknirschend, solange sie nicht nach aussen, an die Ohren der Nachbarn, dringen: "Aquí no pasa nada.[...] Y si pasa algún día, estáte segura que no traspasará las paredes" (García Lorca 81). Auf diese Weise, folgert Rincón, wird "die Opposition zwischen Schein und Realität […] zur Schizophrenie"(320). Zutreffender konnte die Situation in der DDR mit ihrem Nebeneinander von offizieller und inoffizieller Welt, die das Nebeneinander von offizieller und inoffizieller Sprache einschloss, nicht beschrieben werden.

Aus Alex’ “Protokoll des Bernarda-Treffens vom 15. 11. 1975”(55) geht hervor, dass die Freunde sich keineswegs darüber einig sind, in welchem Maße sie es wagen können, das Stück offen auf ihre eigene Situation des Eingesperrtseins in der DDR zu beziehen. Die einen schlagen vor, die Aktualität des Stückes mehr durch “Gesten, Geräusche, Körpersprache” auszuspielen: “Schlafen, sticken, putzen, trinken, sich umkreisen und belauern.[…] Ein Ballett von behinderten Frauen” (57); anderen, vor allem Thomas (es handelt sich um den bekannten Schriftsteller Thomas Brasch), geht dies nicht weit genug:

Ihr solltet das Stück viel deutlicher in unsere eigene Misere transponieren. Eventuell den Grundriß übernehmen, aber dann diese viel zu klassische Dramaturgie aufbrechen, eigene Texte dazwischenschneiden oder auch so etwas wie ‘Leben Lorcas’ einmontieren, seine Situation als Schreibender, eure Situation als Spielende, ihr könntet auf zwei oder drei Podien spielen, aber auch das nicht stur, hier Berlin und dort Andalusien. Die klassische Dramaturgie verlassen, eure eigene Ratlosigkeit hineinnehmen! (59)

Die meisten reagieren bestürzt, später finden sie es immerhin eine “gute Idee”(59), ein von Thomas geschriebenes Nachspiel in das Stück aufzunehmen, das etwa so sein wird wie das Gedicht, das er zum Abschluß der Probe vorliest und auf das alle mit Begeisterung reagieren:

Ich bin der Sänger nicht das Lied.
Ich zieh den Vorhang auf,
Leer ist die Szene.
Nichts geschieht. Ich springe auf die Bühne
Und schrei ins Dunkel meine kalten Zweifel.
Vier Hände plätschern lau Applaus.
Ich flüstere meine Liebe in den Saal.
Ein dürres Lachen hüpft zu mir.
Ich schlage Salto, verrenke Arme, Beine.
Nichts. Nur Dunkel und Geflüster.
[…] (60).

Im Anhang an das Protokoll, das Alex offenbar an alle Teilnehmer an den Proben versandte, findet sich ein “Brief an den Mitleser”(61). Dieser eigenartige, an unbekannte Personen, die heimlich Briefe öffnen, gerichtete Text beginnt ironisch mit der Anrede: “Sehr geehrter Genosse Leser von der Stasi!”(61) und zeigt, weshalb die Freunde es sich leisten konnten, ein wenig mit der Gefahr, für die Aufführung des Stückes möglicherweise verhaftet zu werden, zu spielen: Nachdem Alex zunächst, sich absichernd, erklärt hat, dass ihr Stück “vom Kameraden Lorca, einem Guten”(61) ist, von dem “die bösen Faschisten”(62) schon Stücke verboten haben, droht er:

Ich bitte Sie, es sich gründlich zu überlegen, ob Sie etwas gegen uns unternehmen wollen, und zwar aus dem folgenden Grund: Die meisten von uns, oder zumindest viele, sind Prominenten- und Emigrantenkinder, d.h. Kinder von Juden und Kommunisten, unsere Eltern tragen fast alle die Medaille ‘Kämpfer gegen den Faschismus’ […], und wir kennen viele, viele Leute, im Osten und auch im Westen. Das sähe dumm aus, wenn dann im Spiegel stehen würde, daß Sie die Kinder von prominenten Antifaschisten […] belästigen oder schikanieren. Mit antifaschistischem Gruß! Alex Lothar (63).

Mit anderen Worten, Anna und ihre Freunde weisen die Stasi daraufhin, nicht zu vergessen, dass sie zu einer Elite gehören; sie sind die Kinder derer, die diesen Staat gegründet haben, und daher privilegiert. Deshalb können sie es sich ihrer Ansicht nach herausnehmen, die von der Zensur gesetzten Toleranzgrenzen [4] zu überschreiten, wenigstens im Privatkreis. Dass diese Courage beim Rest der Bevölkerung nicht nur auf Bewunderung, sondern auch auf Ablehnung stieß, zeigt ein Brief Leons, Annas Liebhaber, in dem es heißt: “Dein ganzer Freundeskreis, Eva und Alex allen voran, gehen mir nämlich auf die Nerven. […] Eure Eltern sind Bonzen und Funktionäre, die dieses Scheißland mitzuverantworten haben, in dem ihr euch so unglücklich fühlt”(159). Es scheint symptomatisch, dass Leon am Ende des Textes einen Selbstmordversuch unternimmt -- zwar hängt er sich nicht auf wie García Lorcas Protagonistin Adela, aber er springt aus dem Fenster; Anna dagegen, innerlich gewärmt vom Eingebundensein in den Freundeskreis und geschützt vom Netz ihrer in verschiedenen Ländern einflussreichen jüdischen Verwandten, reist nach Moskau, um ihre Freunde zu besuchen, von denen viele eine Ausreise nach Israel beantragt haben und förmlich auf gepackten Koffern sitzen. Auf Grund dieser Reise versäumt sie die illegale Aufführung von Bernarda Albas Haus, die eines Briefes ihrer Mutter zufolge ein Riesenerfolg war.

Wenige Jahre nach diesen Ereignissen stellt die Schriftstellerin Barbara Honigmann selbst einen Ausreiseantrag; 1984 verlässt sie die DDR für immer und ist seither Mitglied der jüdischen Gemeinde im elsässischen Straßburg.

Anmerkungen

1 Der Anteil an Biographischem im Werk Barbara Honigmanns ist im allgemeinen sehr hoch; im Falle des Romans Alles, alles Liebe schrieb die Autorin in einem Brief an mich vom 23. Oktober 2001: “Also dieses Lorca-Projekt hat es tatsächlich gegeben, eigentlich hat es genauso stattgefunden, wie ich es im Buch beschrieben habe” (1). Deshalb können wir diesen Roman ohne Skrupel in Anspruch nehmen, wenn wir die Rezeption García Lorcas in der DDR untersuchen.

2 Ein anderes wichtiges Thema der 1949 in Ostberlin geborenen Autorin ist ihre Identitätssuche als Jüdin in dem atheistischen Staat DDR, siehe dazu auch Honigmanns frühere Texte Roman von einem Kinde (1986), Eine Liebe aus Nichts (1991) und Damals, dann und danach (1999), für die sie 2000 den Kleist-Preis erhielt. Die Brisanz des Briefromans Alles, alles Liebe besteht neben der provokanten García Lorca-Rezeption auch darin, dass er den latenten Antisemitismus in der DDR beschreibt. Nicht nur, dass die Hauptfigur Anna in der Provinzstadt Prenzlau, wo sie als Dramaturgin arbeitet, ihres exotischen Aussehens wegen angepöbelt wird. Auch die militante antizionistische Politik der SED macht Anna und ihren jüdischen Verwandten und Freunden zu schaffen. Die gefährliche Nähe des Anti-Zionismus der kommunistischen Parteien Osteuropas zum Anti-Semitismus hatte Honigmann übrigens schon in ihrer 1986 nur in der Bundesrepublik erschienen Erzählung “Marina Roza” behandelt. Siehe dazu Thomas C. Fox’ Untersuchung zur jüdischen Problematik in der DDR Stated Memory: East Germany and the Holocaust (132).

3 Rincón hatte bereits 1968 eine García Lorca-Biographie in der DDR veröffentlicht. Honigmann merkt in ihrem Brief dazu an: “natürlich mit viel überflüssiger sozialistischer Vereinnahmung, dennoch war Lorca auch dadurch präsent [in der DDR]” (2).

4 Paul Michael Lützeler schreibt in seiner Rezension von Honigmanns Buch: “Das war die DDR in ihrer bleiernen Zeit, in den Monaten vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns” (Die Zeit). Meiner Erfahrung nach war es eher das Gegenteil: die drei bis vier Jahre nach der Ablösung Ulbrichts auf dem 8. Parteitag der SED 1972 waren die Jahre einer etwas größeren Offenheit, mit Wolfgang Englers Worten ein “kurze[r] Frühling“ (153), der erst mit der Ausbürgerung Biermanns 1976 abrupt sein Ende fand. Wie Manfred Jäger zeigt, versuchte Honecker mit einer relativen Lockerung der Kulturpolitik in dieser Zeitspanne "zu testen, was herauskommen könnte, wenn sie sich zeitweilig auf die Globalsteuerung kultureller Prozesse beschränkte". Dies bedeutete: "Die Kontrollmechanismen wurden flexibler gehandhabt, aber nicht prinzipiell reformiert. Hauptziel war, bei der wichtigen Minderheit der kulturell Tätigen einen Beruhigungseffekt zu erzielen"(139).


Bibliographie

Emmerich, Wolfgang. Kleine Literaturgeschichte der DDR. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1997.

Engler, Wolfgang. Die Ostdeutschen. Berlin: Aufbau, 1999.

Fox, Thomas C. Stated memory: East Germany and the Holocaust. Rochester, N.Y.: Camden House, 1999.

García Lorca, Federico. La Casa de Bernarda Alba. Buenos Aires: Losada, 1969.

Honigmann, Barbara. Alles, alles Liebe! München, Wien: Hanser, 2000.

----------. “Brief an G. Eckart vom 23. Oktober 2001.“

Jäger, Manfred. Kultur und Politik in der DDR. Köln: Edition Deutschland Archiv, 1995.

Lützeler, Paul Michael. “Album der Freunde aus der ‘Scheiß-DDR’: Ein Briefroman Barbara Honigmanns." Die Zeit 47 (2000).

Morris, C. Brian. García Lorca: La Casa de Bernarda Alba. London: Grant & Cutler, 1990.

Rincón, Carlos. Das Theater García Lorcas. Berlin: Rütten & Loening, 1975.

Sailer, Till. “Der Weg nach Golzow.” Von Abraham bis Zwerenz. Bonn: Cornelson, 1995, Bd. III: 1768-81.

Wilcox, John. “C.B. Morris, Garcia Lorca: La Casa de Bernarda Alba.” Hispanic Review. 61,4 (1993): 581-3.