glossen: rezension
Lutz Rathenows Eroberung des Wilden Westens — Zu The Fantastic Ordinary World of Lutz Rathenow. Poems, Plays & Stories. Herausgegeben und übersetzt von Boria Sax & Imogen von Tannenberg. Xenos dual-language edition, Riverside CA, 2001, 202 S

"Die vielleicht verrückteste Biografie ist ein in den USA erschienenes Buch. Da sucht ein Herausgeber eine Art politische Entwicklung anhand von literarischen Textauszügen zusammenzustellen." So der betroffene Autor Lutz Rathenow. Und das Buch, das er meint, heißt: "The Fantastic Ordinary World of Lutz Rathenow", also: "Die phantastische gewöhnliche Welt des L. R.", und der Herausgeber ist der Germanistikprofessor Boria Sax, der auf 15 Nachwortseiten seine zwanzig Jahre währende schwierige Annäherung an den deutschen Dichter Rathenow schildert und dabei ein Kapitel DDR-Zeitgeschichte am Beispiel L. R. demonstriert.

Sax war um 1980 als Student in Buffalo auf ein paar Texte des Unknown Lutz Rathenow gestoßen, dem damals irgendwo hinter irgendeiner Mauer gerade ein Prozess wegen Veröffentlichung im Westen bevorstand. Sax las also einige der ihn bizarr, aber intensiv anmutenden Verse, setzte sich mit dem Autor via Jürgen Fuchs, Westberlin, in Verbindung und organisierte Widerstand bis hinauf zu President Jimmy Carter. Freilich wurde Sax vom MfS sogleich als Spion geführt und seine Korrespondenz observiert. Doch niemand in den Saaten kannte Rathenow, aber den Fuchs-Sax ging es ernsthaft um Rathenows "Schutz durch Öffentlichkeit". Sax agierte also recht risikoreich als Rathenows Mut- und Muntermacher.

Freilich stellten sich beim Andocken der beiden Protagonisten übern Großen Teich hinweg bald mannigfache Missverständnisse und Frustrationen ein. Man hatte ja nur "comic-book"-hafte Vorstellungen voneinander und vom jeweils anderen Land. Während der inzwischen doktorierte Sax Fußböden scheuerte und keinen Dollar für die Drucklegung seiner eigenen Werke aufbringen konnte, postulierte der schreibende Hilfsarbeiter in Ostberlin unerfüllbare Publikationswünsche und träumte dabei von einem Dritten Weg. Und das alles unter striktem Spionage-Verdikt.

Doch Sax probierte immer neue Rollen; als Freund, Übersetzer, Kritiker, und er bewegte und betrieb. Und Schritt für Schritt erkannte er die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit in einer Kommandowelt. Er akzeptierte schließlich die zuweilen penetrante politische Infizierung der Rathenowschen Texte und erhoffte sich für ihn eine baldige Chance, besser zu sich selber finden und sich von der oktroyierten Unbill befreien zu können. Freilich, Westler hielten Dissidenten noch immer für Romantiker, und nur langsam dämmerte die Vermutung, dass Groteske und schwarzer Humor nahezu klinische Mixturen waren, um den Gischt aus Schmerz und Wut besser hinter vieldeutigen, irritierenden Metaphern verstecken zu können. Es dämmerte, dass angstbesetzter Alltag selbst den Vollmond noch verdächtigte: "Mond, du / alter Spitzel: von oben". Der Autor im Visier eines Orwellschen Big Brothers.

Die Saxsche Textauswahl von 2001 setzt mit "Zangengeburt" ein ("Gegen mein Stemmen / ins Leben gezerrt…"), zeugt von Kenntnis und Klugheit und liefert dreißig Augenblicke aus dem Leben eines observierten schreibenden DDR-Bürgers, der beißt und sketcht und kalauert, und oft hat ihn die Dunkelangst, und dann pfeift er im Angststollen ein freches Lied.

Über die Auswahl ließe sich dennoch streiten. Immerhin gibt es von diesem Rathenow seit 1980 zwanzig Bücher (zehnmal Gedichte, achtmal Erzählungen, zweimal Stücke). Daraus werden dreißig Texte angeboten. Da wünschte ich mir manchen ausgetauscht. Doch da es nun einmal so ist, siehe da: Am Ende stellt sich so etwas heraus wie eine gelungene Darstellung zur Normalität des Abstrusen oder zur Absurdität des Banalen. Ein Stück lebendigen Lebens-Laufs des L. R. ists allemal, dazu ein aufmüpfiges literarisches Beispiel zur Beherzigung für Klischeedenker.

Edwin Kratschmer
Universität Jena