glossen: rezension
In Grenzen (über-)leben — Zu Gottfried Meinholds Erzählung Die Grenze. VDG Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften Weimar, 2000, 168 Seiten.

Eines Tags lässt Gottfried Meinhold in seiner Erzählung Die Grenze, geschrieben um 1970 in der DDR, einen Qua(l)mann, bislang unbescholtener Bürger im Diktaturland, graue Maus allen Observierern, einen Ausbruch planen, der seine Lebensrichtung abrupt ändern soll. Er bricht alle Brücken ab und macht sich mit leichtem Gepäck in wackligem Gefährt aus der Hauptstadt auf und davon, bereit, die Grenzzäune irgendwie zu überwinden und in einem Land seiner Illusion neu anzufangen. Doch muss er bald die Erfahrung machen, dass er als potenzieller Grenzgänger schon im Visier steht und längst im Spitzelgespinst gefangen ist. Und just als sich ein Fluchtweg zu bieten scheint und höchste Entschlusskraft vonnöten wäre, versagt sich ihm sein Körper, der Ausbruch scheitert, der Freiraum für Eigenbewegung schwindet, die Sehnsucht nach Aufbruch schrumpft, die Möglichkeit, die Lebensrichtung zu ändern und in ein Anderland mit "weiteren Horizonten" zu entfliehn, stirbt.

So bleibt Quamann Gefangener in dieser "armseligen, gottverlassenen, verworfenen Stadt" im "Land der Lüge", "viel Buchenwald rundherum". umlauert von Misstrauen und Verrat und in ständiger "Gefahr für Liebe und Leben, Geist und Seele". Er hat sich verfangen im Labyrinth seines eigenen Zauderns und Zögerns. Er muss lernen, sich an das Absurde zu gewöhnen und innerhalb enger Pfähle zu vegetieren. Allzu lange hat er bereits geschwiegen und sich ein- und angepasst. Die Unentschlossenheit ist ihm zum Wesenszug geworden. Er darf nun gnädig im Morbus dahindämmern, der ihm fernere Entscheidungen nimmer abverlangt. Sein kranker Körper herrscht. Ideale und Wünsche versiegen, und er akzeptiert fortan sein Knastleben und will schließlich nur noch sein beschränktes Leben illusionslos zu Ende leben.

Die Erzählung Die Grenze erscheint nun – nach dreißig Jahren – in der vom Collegium Europaeum Jenense herausgegebenen Reihe "Gerettete Texte". Von Meinhold, in bürgerlichem Beruf Sprach- und Sprechwissenschaftler in Jena, erschienen zu DDR-Zeiten nach z.T. jahrzehntelangen Verzögerungen mehrere Romane und Erzählungen (1982 Molt, 1984, Weltbesteigung, 1986, Kilidone, 1988, Mit Rätseln Leben, 1989, Sein und Bleiben), von der offiziellen Kritik wenig wahrgenommen – eine sattsam bekannte Form gelenkter Zensur.

"Ich sollte gehen, aber wohin?", schrieb Meinhold damals in sein Tagebuch, "nachts heftiges Erbrechen." Oder "Ich bin tot und erwache nur als Schreibender zum Leben." Derart hat Meinhold seine "Grenz"-Erfahrungen ganz konkret angelegt, und er projiziert sie auf ein Spielfeld, das sowohl eine streng bewachte Landesgrenze hat als auch Großmetapher ist für das Unvermögen, seine eigenen Grenzen übersteigen zu können.

Mit derartigen Erkenntnissen im Hintergrund ist Meinholds intensive Erzählung eine kafkaesk ins Poetische transferierte und seismisch empfindsame Erlebnisregistratur. Sie atmet den Geist einer absurden Lagerwelt, in der Leben und Überleben nur innerhalb von Beschränktheiten möglich ist. Sie ist ein subversiver Erfahrungsbericht und zugleich ein eindrucksvolles Erinnerungsbuch an eine Mauerwelt, die den Alltag beherrscht und durchwaltet.

Edwin Kratschmer
Universität Jena