glossen: feuilleton

Der Literaturstreit um Martin Walsers Tod eines Kritikers: Ein Rückblick
Christine Cosentino

Im Sommer des Jahres 2002 tobte in der deutschen Presse die Art von affektaufgeladenem Literaturstreit, an die man sich zu gewöhnen beginnt und deren Werdegang man glaubt, voraussagen zu können. Trotzdem wurde der kritisch beobachtende Leser überrascht bis zur Fassungslosigkeit, denn die mit Antisemitismusanschuldigungen gewürzte Feuilletonfehde betraf einen noch unveröffentlichten (!), in sich selbst noch fassungslosen Roman Martin Walsers, genannt Tod eines Kritikers. Dieser war vor der Publikation nur einigen wenigen Kritikern und Verlagslektoren bekannt, geriet also in seinem Vorstadium in email-Form in die Fänge führender Zeitschriften, die die Furore, pro und con, verursachten. Wohl als unmittelbare Reaktion auf den Krach kam es zu korrigierten Formen, die wiederum öffentlich debattiert wurden, wobei allerdings nicht immer klar war, welcher Rezensent sich auf welches Manuskript bezog. Nach wochenlangen Querelen über einen dem Publikum unbekannten Text wurde Walsers schlankes Büchlein am 26. Juni 2002 endlich veröffentlicht. Die Tatsache, daß Bodo Kirchhoff einen Tag vorher seinen Schundroman veröffentlicht hatte, der zeitgleich und völlig unabhängig von Walsers opus entstanden war und der marginal ebenfalls das Thema des Mords an einem ungeliebten, verurteilungsbereiten Kritiker anspricht, gab dem hysterischen Rummel eine besonders pikante Würze, zumal man bei Kirchhoffs Werk auch bei politisch überkorrektestem Abklopfen des Textes auf antisemitische Topoi keine Spur von Ressentiments finden konnte. Beide Autoren fühlten sich vom Kritiker Marcel Reich-Ranicki verletzt, weil er sie selbst zwar für begabt, ihre Werke aber für bedauerlich erklärt hatte.

Daher verstehen sich beide Romane - bei Walser primär, bei Kirchhoff nebenepisodisch - als Satire auf den deutschen Literaturbetrieb und seiner Mächtigen, vorrangig auf den Starkritiker Reich-Ranicki. Im Tod eines Kritikers trägt dieser den Namen Andre Ehrl-König. Walser war im “Literarischen Quartett” von Reich-Ranicki beharrlich mit apodiktischen Urteilen abgekanzelt worden. Im Laufe der Jahre hatte sich ein ungemeiner Zorn in ihm angestaut. Im Jahr 2002 holte er dann mit seinem Roman zum langgeplanten Gegenschlag aus. Die Goethesche Folie suggeriert es: “Erlkönig hat mir ein Leids getan.” Der Autor, der die Antisemitismusanklage empört als “Rufmord” zurückwies, bestätigt den Personenbezug unverhohlen in einem Focus-Interview vom 3. Juni 2002: “Man kann nicht alles bloß einstecken, man muß zurückgeben, und zwar in der eigenen Sprache (von mir kursiviert). Mein Ehrl-König ist nicht deckungsgleich mit Reich-Ranicki, wenn er ihm auch viel verdankt.” Das allerdings ist - auch der naivste Leser wird es merken - schlicht eine Untertreibung, denn der überdeutliche Roman lebt von der unkontrollierten Demontage eben dieser spezifischen authentischen Person.

Die Presse sorgte dann für eine ähnlich skandalumwitterte Demontage der Walserschen Sprache - “der eigenen Sprache” - und der in ihr enthaltenenen Referenzen auf die Nazizeit und auf Jüdisches. Sowohl Walsers Tod eines Kritikers als auch Kirchhoffs Schundroman sind - darüber wird zu sprechen sein - Schlüsselromane. Im Falle Walsers sei hier einleitend sofort gesagt, daß es selbst dem allerkritischsten Beobachter des Feuilletonkrieges, geschweige dem Durchschnittsleser, nicht möglich sein wird, dem Werk völlig unbefangen zu begegnen. Der am 26. Juni 2002 veröffentlichte Roman, für den Walser verlagsrechtlich haftet, ist ja bereits die dritte, redigierte, also von Anstößigem “gesäuberte” Fassung. Dem Publikum allerdings wird sie im aufgeheizten Klima einer vorausgegangenen, aber noch laufenden kontroversen Mehrfrontendiskussion bekannt, die auf unveröffentlichte Vor-Fassungen zurückgeht. Suggestiv seinen eigenen kulturpolitischen, liberalen, moderaten oder konservativen Präferenzen (vertreten waren wiederholt Der Spiegel, Focus, Die Zeit, Die FAZ, Die Frankfurter Rundschau, Die Süddeutsche, Neues Deutschland, Die Welt etc., etc.) folgend, ist der Leser vermutlich längst in die Falle von Blicktrübung und Voreingenommenheit geraten, ist versucht, sich entweder auf antisemitische Spurensuche zu begeben oder auf Entrüstung zu pochen, je nach Vorprogrammierung durch von ihm geschätzte Kritiker; das alles - nolens volens - auf Kosten der literarisch-ästhetischen Einschätzung des Buches. In der vorliegenden Analyse geht es vorrangig um Rekonstruktion des Skandals, um deutsche Empfindlichkeiten und Überreaktionen und letztlich um die Frage des moralisch Erlaubten und Nichterlaubten, d.h. des Mißbrauches moralischer Beißhemmungen in der nach wie vor vom Holocaust überschatteten deutschen Literatur.

Der Skandal um Walser fiel in eine Zeit, die für eine neue Antisemitismusdebatte reif war, denn nachdem sich der FDP-Politiker Jürgen Möllemann mit Michael Friedman vom Zentralrat der Juden angelegt hatte, entstand bei so manchem die Meinung, in Deutschland sei nun auch auf politischer Ebene der Antisemitismus wieder salonfähig. Die deutsche Presse hatte ihr Saisonthema. Auf literarischer Ebene war bereits im Jahre 1998 der zur “Spitzenkraft in der Disziplin ‘interessantes Missverständnis’” gekürte Martin Walser (Der Spiegel, 1. Juli 2000) ins Fettnäpfchen des politisch Unkorrekten getreten, als er in seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche betonte, der Holocaust eigne sich nicht als Moralkeule. Das führte zur Walser/Bubis-Debatte, in der der Autor als deutschtümelnder Advokat einer Normalisierung verstanden/mißverstanden wurde, der an eine Dauerausstellung deutscher Verbrechen nicht ständig erinnert werden wollte, weil er sie als erpressend empfindet. Als Walser Anfang Mai sein noch nicht lektoriertes Manuskript vom “Tod eines Kritikers” zwecks Vorabdrucks an den Chef der FAZ, Frank Schirrmacher, schickte, wußte er vermutlich nicht, daß dieser Kopien dieser ersten, unvollendeten Fassung auch an andere Kritiker weitergeleitet hatte. Am 29. Mai bezeichnete Schirrmacher den Roman in einem “Offenen Brief” wortgewaltig als ein Dokument des Hasses, das antisemitische Klischees vermittle und weniger einen Mord an einem Kritiker als vielmehr an einem Juden vor Augen führe. Der Suhrkamp-Verlag verschickte daraufhin in email-Form auch an andere Zeitschriften Kopien des Manuskriptes, das bereits teilweise lektoriert war, d.h. das Manuskript begann sich zu wandeln. Die nun ausbrechende Hysterie kreiste im wesentlichen um die Frage, ob eine literarische deutsche Figur eine andere, als Juden kenntliche gemachte Juden Figur gehässig demontieren und umbringen darf. Die aus verschiedenen Manuskripten zitierenden Rezensenten machten das Verwirrspiel zu einer unerträglichen Farce.

Der Autorin dieses Essays ist nur die dritte Fassung bekannt. Die gestrichenen inkriminierenden Stellen und Kommentare darüber kennt sie ausschließlich aus den Diskussionen im Feuilleton, denen sie aufmerksam gefolgt ist. Walser schildert im fiktiven Gewand (s)einen “Skandal”-Fall, der dann tatsächlich in Realität umgesetzt wird. In stark gekürzter Form, in nuce, läßt sich die Handlung der dritten Fassung folgendermaßen wiedergeben: ein Ich-Erzähler, der Schriftsteller und Mystikforscher Michel Landolf, liest in Amsterdam in der FAZ, daß sein Freund, der Schriftsteller Hans Lach, gestanden hätte, Deutschlands führenden Literaturkritiker, Andre Ehrl-König, ermordet zu haben. Nachdem ein Roman von ihm auf sadistischste Art von Ehrl-König in dessen TV-Show “Sprechstunde” verrissen worden war, sei er uneingeladen auf einer Party des Verlegers erschienen und habe geschrieen: “Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Herr Ehrl-König möge sich vorsehen. Ab heute Nacht Null wird zurückgeschlagen” (S. 10) Dieses, so die Zeitung, habe Abscheu ausgelöst, “schließlich sei allgemein bekannt, daß Andre Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocausts” (S. 10) Der Kritiker sei dann nach der Party tatsächlich verschwunden; gefunden wurde aber (s)ein blutiger gelber Pullover. Der Ich-Erzähler Landolf kehrt nach Deutschland zurück, denn er glaubt nicht an die Schuld seines Freundes. Er rekonstruiert den Fall, indem er verschiedene Vertreter des deutschen Kulturlebens, die auf der Party waren, befragt. Daraus ergibt sich ein subjektiv eingefärbtes Bild. Tatsächlich habe Lach gedroht, ob es aber in Form der Hitler-Variation des Zitats “Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei ...” geschehen sei, ist nicht mehr klar. Aus all den individuellen, von Groll and Antipathien getönten Berichten der Befragten ergibt sich eine zur Fratze verzerrte Darstellung eines Kritikers, in der vor nichts Abscheulichem zurückgeschreckt wird. Der Mord ist folglich nicht unwahrscheinlich. Ehrl-König ist ein sadistisches Monster, ein machtsüchtiger, geiler und physisch und moralisch häßlicher Machtmensch und “Großkasper”, der aus Frankreich kam, um in Deutschland in der deutschen Literatur, Unheil anzurichten und Autoren zu vernichten. Die Ästhetik habe er zu einer “Pleasure-Moral” der Unterhaltung und des Vergnügens reduziert. Er treibe es gern mit ganz jungen Mädchen, am liebsten aber mit “Schwangeren bis zum dritten Monat” (S. 175), obwohl er doch - seine Frau gibt später sein Geheimnis preis - eine “unbremsbare Ejakulation habe” und die “Nullbefriedigung” schlechthin sei usw. usw. Dann löst sich das rätselhafte Verschwinden des Kritikers. Er hatte sich mit einer jungen Autorin vergnügt. Lach aber verschwindet mit der Frau des Verlegers und genießt sein Liebesglück. In den Phantasien der beiden steigert sich die Schilderung der deutschen Literaturszene dann zu einem bis zur Unerträglichkeit bizarren Bericht über Ehrl-König, den “Aal”, und seine “Ejakulations- und Orgasmus”-Kultur mit großem Preis, genannt PRICK, und vor der Kamera onanierenden Autoren. Am Schluß stellt sich heraus, daß der Erzähler Michel Landolf und Hans Lach, Hans und Michel, die beiden deutschen Autoren, eine Person sind.

Der Roman, der wahre und fiktive Namen vermischt, ist generell ein Schlüsselroman, ein Genre also, in dem immer reale Personen und Vorkommnisse in leicht verfremdeter, aber für den Leser erkennbarer Form erscheinen. Gewöhnlich ist der Auslöser für diese Romanform Unmut, auch Rache. Zweck ist das Lächerlichmachen. In der Literaturfehde wurde verschiedentlich auf Thomas Manns Zauberberg und die gelungene Darstellung des Naphta (Georg Lukacs) verwiesen. Ein guter Schlüsselroman ist in sich selbst jedoch ein geschlossenes Gebilde, das den Test der Zeit übersteht, wenn das auslösende Ereignis längst vergessen ist. Der fiktive Charakter erscheint mit Zügen des real Angegriffenen ausgestattet, ist aber trotzdem eine in sich stimmige, geschlossene Gestalt. Philipp Reemtsma wartete mit treffenden Kommentaren darüber auf (FAZ 27. Juni 2002) und bewies, daß die Komposition von Walsers Ehrl-König allein vom emotionalen Kontrollverlust und Skandalwert gespeist ist und nur verständlich wird, wenn man den zum Popanz gewordenen Reich-Ranicki vor Augen hat.

Nur andeutungsweise sei hier kurz auf Bodo Kirchhoffs Schundroman eingegangen, der ja ebenfalls ein Schlüsselroman und eine Parodie auf den Literaturbetrieb und den schlechten Geschmack des Lesepublikums ist. Auf Schund, billige Groschenromane, Schmuddelkrimis und Pulp weist nicht nur der Titel, sondern auch das reißerische Titelbild, das den Leser darauf vorbereitet, was da auf ihn zukommt: ein gekonnt konstruierter Plot mit grellen Effekten, Mord, Rache, Liebe, Kitsch und in verschlüsselter Form Personen des Kulturlebens, die der Leser kennt. Ein Auftragskiller verliebt sich in einer Lufthansamaschine in eine Edelnutte, die gesucht wird. Er will ihr einen Gefallen tun und die Aufmerksamkeit von ihr ablenken. Ein Faustschlag auf das Nasenbein eines in der Zeitung blätternden Fremden tut es, und Louis Freytag, Deutschlands berühmtester Kritiker, liegt tot auf dem Boden: “Er hatte feuchte, irgendwie erschöpfte Lippen, dazu die Nase eines Kirchenfürsten ...” (S. 34). Mehr und mehr Tote folgen, und - da gerade Buchmesse in Frankfurt ist - glaubt die Presse an die Wahnsinnstat eines gekränkten Schriftstellers. Louis Freytag ist bei Kirchhoff eine arabeske Randfigur, ein Zufallsopfer. Sein Judentum ist kein Thema, und jegliches Suchen nach antisemitischen Klischees im Kielwasser der Walser-Affäre erwies sich als erfolglos. Nicht einmal die “Nase eines Kirchenfürsten” geriet unter die Lupe des Antisemitismusverdachtes. Schundroman und Tod eines Kritikers sind Schlüsselromane mit ähnlichen Sujets, aber sehr unterschiedlichen Manifestationen von Groll und Frust.

Wäre die Verfasserin dieses Artikels nicht der Feuilletonkontroverse gefolgt, so hätte sie Walsers Buch Tod eines Kritikers in aller Wahrscheinlichkeit nach etwa einem Drittel der Lektüre aus der Hand gelegt, denn die nicht enden wollende Emotions- und Haßtirade ermüdet. Das Buch ist auf langweilige Art vulgär und peinlich, leidet an schiefer Konstruktion und an bis zur Leblosigkeit überspitzten Charakteren. Es lebt von Klatsch und Kolportage und einer unkontrollierten Rebellion, die pubertär anmutet. Der beleidigte Hans Lach zitiert auf der Verlegerparty Goethes “Prometheus”: “Ich kenne nichts Ärmeres ...” Dieses Gedicht ist ein Sturm-und-Drang-Gedicht, rebellischer Ausdruck einer noch unausgereiften Dichtergeneration. Walser beschreibt seinen Hans Lach (unbewußt/bewußt?) ja auch entsprechend: “Kinderaugen ...Trotzmund.” Lach bzw. Landolf sind Fiktion, und das grotesk übersteigerte Bild des Starkritikers ergibt sich aus einem Chor vieler sich äußernder, auch alkoholisierter Einzelstimmen. Im trotzigen Lach/Landolf, dem fiktiven Ich-Sprecher, aber vereinigen sich alle Handlungsstränge wie die Fäden der Marionetten in den Händen des Spielers. Er ist der Gegenspieler des widerlichen Scheusals. Mit seinem unentwirrbaren Verquicken von realen, bei ihrem richtigen Namen genannten Personen und erfundenen, fiktiven obskuriert Walser die Grenze zwischen dem Autoren-Ich und der literarischen Ich-Figur. Das geschieht auf Kosten dichterischer Distanz und Selbstironie. Ist Lach/Landolf, mit Vornamen Hans und Michel, der beleidigte deutsche Michel? Ist Walser hinter dieser Maske zu vermuten? Hans Lach nimmt ja im fiktiven Gewand den Skandal vorweg, den Walser für sich selbst in der Realität inszeniert hatte und worauf er vorbereitet sein mußte: “Hans Lach hatte einen Juden getötet”, d.h. einen expliziert als Juden ausgewiesenen Kritiker. Auch Walser hatte mit Worten, und zwar in einem mit antisemitischen Topoi getränkten Jargon einen Juden “töten” wollen.

Ist der Roman deutlich oder unterschwellig antisemitisch? Auf den für Studenten bestimmten Seminarleselisten dieser Rezensentin hat Walser - jenseits eines jeglichen Antisemitismuskontextes - seit Jahren seinen festen Platz. Warum wirkt das Buch Tod eines Kritikers dann so befremdlich, warum rückt es in die Nähe von Büchern, in der ein Walsersches Werk traditionell nicht sein sollte? Der Roman ist, will man es konziliant fassen, Juden gegenüber unsensibel, bewußt verletzend und ätzend provozierend. Aber es läßt sich nicht umgehen, daß dahinter mehr verborgen ist: der Autor schöpft in seinem eigenen unkontrollierten Gekränktsein wissentlich - wie auch immer “satirisch” gebrochen - so kräftig aus dem Fundus antisemitischer Topoi und Stereotypen, daß er es jenen, die die Antisemitismusthese vertreten, arg leicht macht und Antisemiten selbst mühelos in die Hände spielt. Die mit Walser befreundete jüdische Autorin Ruth Klüger faßt es in einem “Offenen Brief” treffend: “Der Satiriker wählt, was ihm bedeutend erscheint ... Lieber Martin, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, die sich nun einmal nicht ausklammern läßt, ist die komische Wiederkehr des nur scheinbar ermordeten Juden noch schlimmer als ein handfester Krimi mit Leiche gewesen wäre.” (Frankfurter Rundschau 27. Juni 2002) Auch ohne die aufgeheizte Feuilletonvorwarnung glaubt die Rezensentin sagen zu können, daß das Buch unangenehm antisemitisch auf sie wirkte. Dieses um so mehr, weil es der Feder eines geschätzten Autors entstammt. In dem von Walser selbst hervorgerufenen Klima überbordender emotionaler Reaktionen und Überreaktionen gewinnen dann oft auch belanglose Dinge eine suspekte Kontur, die sie nicht unbedingt haben müssen, “ein gewaltiger schwarzer Hut” etwa, den Ehrl-König auf der Beerdigung des Verlegers trägt erinnert an die traditionelle Kleidung orthodoxer Juden. Eine Satire auf den deutschen Literaturbetrieb und seine Kritiker bedarf keiner Einbettung der Handlung in traditionelle antijüdische Klischees. Die Rezensentin schließt sich der Meinung des Holländers Leon de Winter an (Die Welt 29. 6. 2002), der sachlich und ausgewogen ausführt, daß Walser sich ausschließlich für einen jüdischen Kritiker entschieden habe, obwohl dieser Umstand nirgendwo im Roman eine zwingende Begründung erfährt. Für Walser jedoch war die Wahl wohl überlegt. Die jüdische Herkunft wurde explizit herausgestellt. Auf die Frage in einem Interview : “Mussten Sie ihn als Juden kennzeichnen?” kam die Antwort: “Ja, das gehört ins Logotop.” (Focus, 3. Juni 2002).

Welcher Klischees bedient sich Walser nun im einzelnen? Hier seien nur einige der nicht getilgten in der dritten Fassung erwähnt. Ehrl-König, der zu seinen Vorfahren Opfer des Holocausts zählt, sieht sich der Drohung ausgesetzt: “Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei ... Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen” (S. 48). Er kommt aus der Fremde in “unser Land ..., weil ihm der Sprung nach Paris schwieriger vorkam als der nach Frankfurt-Hamburg-München” (S. 97-98). Sein Vater war Bankier oder Pferdehändler, “eine schauderhafte Gestalt, klein, dicklich, große rote Ohren, die Mutter hat er, als er siebzehn war, geschwängert”. Der Sohn sieht aus “wie der Vater” (S. 106), ist geil, sexbesessen, geldgierig, arrogant und gedeckt von anderen Juden aus anderen Ländern. In der “Sprechstunde” kooperiert die amerikanische Autorin Martha Friday (Susan Sontag) mit ihm. Er gleicht in seiner Machtgier dem “Chaplindiktator” (S. 135), hat, so wird er unter Alkoholeinfluß beschrieben - “vertrockneten Schaum” um den Mund: “das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der deutschen Literatür aufgeilt” (S. 135). Phonetische Eigentümlichkeiten des Kritikers werden immer wieder neu beschrieben - “die ferigide, perimitive Ferau” z. B. In der Tat liefert der reale Reich-Ranicki mit seinen stilisierten, polnisch getönten Sprecheigentümlichkeiten genug Material für eine Parodie. Warum fühlt man sich trotzdem an ein böses Spiel mit dem Jiddischen bzw. sogenanntem “jiddischen Mauscheln”, unverständlichem Sprechen erinnert?

Der Suhrkamp-Verlag handelte gegen seine Tradition, “beschämende” Literatur nicht zu veröffentlichen. Reich-Ranicki bedauerte: “Ein Verlag mit dieser wunderbaren Tradition, der Verlag von Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor Adorno, Paul Celan und vielen anderen sollte ein solch ärgerliches und beschämendes Machwerk nicht bringen. Nur: ein Skandal ist diese Entscheidung nicht, denn das Buch muß unbedingt erscheinen” (u.a. Berliner Zeitung 6. Juni 2002). Überhaupt zeigte sich der angegriffene Kritiker erstaunlich konziliant, denn er behauptete verschiedentlich, er halte zwar nicht den Autor Walser, wohl aber dessen Roman für antisemitisch (u.a. Der Spiegel 10. Juni 2002). Zu erinnern ist ebenfalls an Reich-Ranickis Verteidigung Walsers während der Walser/Bubis-Debatte im Jahre 2000, in der Walser latenter Antisemitismus vorgeworfen wurde. Reich-Ranicki betonte damals emphatisch: “Ich weiß schon: Ich habe ihm nicht selten ein Unrecht getan - und mitunter war er mir gegenüber ungerecht. Aber ich weiß auch: Martin Walser ist kein Antisemit. Noch einmal: Ein Antisemit ist Walser nicht.” (Der Spiegel 10. Juni 2002). Hier spricht ein Kronzeuge. Für den deutschen Jahrmarkt dichterischer Eitelkeiten bedeutet die Walser-Affäre letztlich, daß der rechthaberisch-trotzigen Schaustellung von unverheilten Kränkungen und Verletzungen am Selbst nach wie vor sittlich-ethische Grenzen gesetzt sind. Die Fiktion “Hans Lach” - sollte der Autor mit dem Namen komödienhaft Parodistisches gemeint haben - ist eine Grenzverletzung, denn hier wird nervös, hysterisch und schrill gelacht. Walsers Tod eines Kritikers quittiert bewußt/unbewußt die historische Bürde einer “anormalen” Situation. Mangel an Sensibilität und Fingerspitzengefühl macht Wunden sichtbar, die den Zustand sogenannter deutscher Normalität als das enthüllen, was er im Lande des Holocausts de facto ist: kein Anspruch, sondern ein Wille, ein Wunsch und eine Hoffnung.