glossen: rezension
Sascha Anderson schreibt Sascha Anderson -- Zu Sascha Anderson, Sascha Anderson, Dumont Köln 2002,

Der Titel ist gut gewählt. Ein Autor steht einem Text gegenüber, der seinen Namen trägt. Am Text „Sascha Anderson“ haben schon viele mitgeschrieben: Sascha Anderson selbst, Journalisten und DDR-Forscher, „Szene-Spezialisten“ und Sozialpsychologen, Führungsoffiziere und Verratsopfer.

Die gespaltene, um Millimeter ver-rückte Druckschrift „Sascha Anderson“ auf dem Umschlag und die Dopplung von Autornamen und Buchtitel deuten zugleich an, was das Buch nicht ist: Kein DDR-Kindheitsroman, keine Künstlersozialgeschichte des Prenzlauer Bergs, kein Dokumentenband zur Zeitgeschichte. Was haben wir vor uns? Den autobiographischen Rückblick eines Ich, etwa 50 Seiten Kindheit, 80 Seiten Jugend, die schließlich über 170 Seiten bis in die 80er Jahre reicht. Der Kindheitsstoff ist erwartungsgemäß das interessanteste Feld; vor unseren Augen entsteht das Schattenbild eines einsamen, verkrampften, stummen, kurzsichtigen, unerlösten Kindes. Ein paar Brocken Russisch, ein paar Adressen und Daten, eine weinrote Kordsamthose, „der Teppich mit den orientalisch fernen Motiven“ müssen als Gedächtniskrücken reichen. „Keine der ins Schöne gilbenden Erinnerungshilfen mit ungleichmäßig zackig gezahntem Rand rahmt meine erste Erinnerung.“ Mit den Jugenderinnerungen nimmt das Erzähltempo zu: Schriftsetzerlehrling, Antiquariat, Malermodell, Bewährungsstrafe, KGB-Kontakte, Stasianwerbung, Selbstmordversuch, Haftstrafe. Gegen Ende fliegen einem Namen und Ereignisse nur so um die Ohren: Arbeit an (dann in der DDR verbotenen) Anthologien, erste eigene Bücher im Westen, Punkkonzerte, Ausstellungsfeten, Lesungen in der Keramikwerkstatt von Wilfriede Maaß. Den 90ern sind nur wenige Bemerkungen gewidmet: erwähnt wird die Gründung des Autorenverlags Galrev, überlagert von der Aufdeckung der Spitzeltätigkeit Andersons durch Jürgen Fuchs und Wolf Biermann. Politische Ereignisse entziehen sich der Wahrnehmung, nicht einmal die Ausreise bildet einen Einschnitt im Erinnerungsstrom. Anderson wählt eine vergleichsweise traditionelle Erzählweise mit umgekehrt teleologischer Struktur: erzählt wird vom negativen Ende her. Denn als Scheitern wertet der Autor dieses Leben im Rückblick, auch Schuld wird nicht bestritten. Wo früher der große Macher hinter unzähligen Kunstprojekten, Kleinstzeitschriften und Künstlerbüchern zu stecken schien, werden nun auch andere Namen genannt. Ende der Selbststilisierung.

Vor allem die ersten vierzig Seiten aber lassen die Unsicherheit des Chronisten in eigener Sache erkennen: maniriert, metaphernsüchtig, grammatisch umständlich, zerquält. Hier sucht jemand eine Position, von der aus erzählt werden kann. Nur auf den allerersten Seiten wird das autobiographische Ich problematisiert. Wo sich etwa Andreas Koziol virtuos auf dem Drahtseil zwischen biographischem Fakt und Fiktion, Leben und Sprache bewegt (wie in Lebenslauf von 1999 ), da verliert Anderson schnell den Boden unter den Füßen. Das erinnerte Ich im Kinderwagen spricht im Präsens die Vermutungen des erwachsenen Ich aus: „Ein permanentes Hoch-Tief, andauernde Vergesellschaftung, die mich weder wachen noch schlafen läßt [...]“. Dann wieder verwendet der Autor die dritte Person: „mein dreijähriges Ich wurde schlagartig Zeuge“ oder „Der ich bisher bin, bleibt allein.“ Ein System lässt sich in diesem Wechsel nicht erkennen. Innerhalb ein und des selben Satzes treffen das Ich der Kindheit und ein älteres „Wir“ seltsam schief aufeinander: „Mir, ohne Brille, blüht aus dem Graugrün [...] der Buchrückenwiese das Weiß der Wände, wie Bauhaus und Brecht es uns lehren.“ Heutiges und erinnertes Ich treten in keinen Dialog, sie bleiben unvermittelt, einander fremd. Monologe strukturieren auch die Erinnerung – der Erzählende nimmt kaum wahr, wie sehr ihn Umstände und Menschen prägen. Andere Figuren treten vorrangig als Objekte oder Adressaten von Handlungen des Ich auf. Die Vorsicht des Autors, („ich habe genug über andere gesprochen“), beschränkt den Spielraum des Erzählers. Schon hier beginnen sich die Kategorien zu vermischen – rede ich noch von Literatur? Dieses Buch zwingt seinen Rezensenten die Problematisierung der eigenen Rolle auf, schnell gerät man in Gefahr, als psychologisierender Dilettant, als selbstgewisser Moralist statt als Literaturkritiker zu sprechen. Schließlich spinnt jeder, der sich öffentlich zu diesem Buch äußert, ja mit am Diskurs „Sascha Anderson“ und profitiert davon. Nach Jahren des Desinteresses werden erneut die „Prenzlauer-Berg-Spezialisten“ aus der Versenkung geholt, werden Bürgerrechtler und Stasiopfer um Meinungsäußerung gebeten. Einige haben sich dagegen entschieden: sie wollen weder an einer Schlammschlacht beteiligt sein, noch „ihrem“ persönlichen Spitzel zusätzlich Publicity veschaffen oder gar Ablass erteilen. Bis heute hat Anderson das persönliche Gespräch mit den von ihm Verratenen als Form der Auseinandersetzung nicht gesucht. So muss sein erster größerer Schritt in die Öffentlichkeit fast zwangsläufig die Erwartung schüren, das Buch solle sie ersetzen. Woran misst man ein Buch wie dieses? An den Sozialisationsromanen von Andreas Koziol oder Peter Wawerzinek? An Texten von Uwe Kolbe, Gabriele Stötzer oder Jan Faktor? An den Autobiographien von Fritz Rudolf Fries oder Hermann Kant? Zumindest was die 80er Jahre betrifft, sollte man zum Vergleich die Selbstauskunft der Keramikerin und zeitweisen Lebensgefährtin des Autors, Wilfriede Maaß, heranziehen . Hier findet sich, was in Andersons Selbsterkundung fehlt: Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber und Genauigkeit in der Schilderung der sozialen Verhältnisse.

Wenden wir uns nochmals der Erzählweise zu: Es spricht ein Ich, das sich selbst fremd gegenübersteht, das sich die (wodurch auch immer) abhandengekommene Identität zu „borgen“ versuchte, bei einer jüdischen Großmutter, beim KGB, bei der Stasi. Will der Autor „ein Kind auf der Flucht aus der Familie in die Familie erzählen“, wie zu Beginn des Buches in Worten Heiner Müllers angedeutet wird? Anderson beschreibt, wie er die eigene Halt- und Beziehungslosigkeit zum kulturellen Konzept machte. Erzählt wird die Zerrissenheit seltsamer Weise von einem Ich aus, das weder fragmentiert noch multiperspektivisch ist. Stattdessen trifft man auf skurrile grammatikalische Manöver: „Der ich mir einbilde zu sein, der ich nicht bin, schreibt den, der sich findet in dem, was geschrieben steht. Wie denn sonst.“ Das wiederholte „Ich hörte mich sagen“ bildet die unhintergehbare Grenze der Selbsterklärung. Der „autobiographische Pakt“ zwischen Autor und Leser funktioniert nicht, Verdacht überschattet ihn, und zwar von beiden Seiten. Spielt das Ineinanderfallen von Autornamen und Buchtitel darauf an?

Der Autor hütet sich, über andere zu reden und bleibt im narzisstischen Zirkel gefangen. Er geht mit seiner Lebenserzählung an die Öffentlichkeit und hält ihr im letzten Satz entgegen, er erzähle seine Geschichte ausschließlich sich selbst. Philippe Lejeune behauptet, der eigentliche Gegenstand der Autobiographie sei der Eigenname. Fordert uns der Autor auf, erneut am Text „Sascha Anderson“ mitzuschreiben?

Birgit Dahlke
Humboldt Universität Berlin