glossen: rezension
Töten lernen oder Schmerzpunkte des Terrors — Zu Lutz Rathenows Sisyphos. Erzählungen. Berlin Verlag, 2001, 160 Seiten.

Nein, als Spitzel sei er nicht nachweisbar und als inzwischen raffinierter Killer nicht belangbar, aber am liebsten würde er einfach und blindwütig in die Massen halten, jetzt, wo sein Staat überm Jordan ist. So räsoniert ein unauffälliger Ehemaliger in Rathenows Erzählung "Töten lernen." Da werden Spannungen auf absurde Weise kompensiert.

Vor fünf Jahren erschien die erste Auflage von Rathenows erfolreichem Erzählband "Sisyphos", nun liegt – "printing on demand" – die fünfte vor. Die Texte sind zwar noch dieselben, doch man liest sie, ein Jahrfünft später, anders, hängt die Gewichte anders. Einst Überlesenes wird plötzlich wesentlich, anderes rutscht weg. Die Lektüre eben im Wechselbad vor den täglichen TV-Enthüllungsmeldungen. Bereits die erste Erzählung liest sich vor solchem Hintergrund und besonders in Erfahrung des hierorts inzwischen fast paranoid registrierten Rechtsrucks geradezu seherisch: In gedemütigtem Schüler nisten meuchelnde Gedanken, Tötungswünsche keimen, der Lehrer ist ein zu Exekutierender, Mord und Selbstmord werden erwogen – wie die Schule Feindschaft übt, den "Klassenkampf"probt, wie ein Rebell heranwächst, wie sich aus Trotz und Verweigerung Terrorfantasien entfalten. Noch weiß man nicht: rep oder apo oder anarcho? Alles ist offen.

In "Der Hampelmann" erfährt einer schon als Kind die sadistische Lust am Leid der anderen, er begeilt sich an deren Erschrecken und Qual und gelangt stracks aus dem Kinderzimmer auf die Straße der Terroristen. In "Drei Leute" entwickelt sich aus lauter Spaß unvermittelt ein Exzess. So sind viele der Stories psychologische Teststücke für eine perverse Eskalierung des Terrors.

Rathenow hat seine Erfahrungen zu Teilen im ostdeutschen Ex- und Jetztland gemacht. Von Politik ist zwar kaum die Rede. Doch liest man in seine Geschichten genauer hinein, kann man"Ehemaliges"ausmachen. Aber Rathenow auferlegt sich die Rolle des sachlichen Chronisten. Er erprobt einen kargen, zupackenden Hardstyle, gehetzte Sprache, jagende Sätze, ja, er berichtet derart knapp, nüchtern, dicht, dass das Lesen geradezu schmerzt, weil die Überfülle der Probleme und Konflikte doch Raum bräuchten! Derart ist Rathenow subversiver Berichterstatter, der im ganz Privaten und Trivialen den plötzlichen Wahnsinn ausmacht und perverse Gelüste entdeckt: Mann gegen Mann, Geschlechterkrieg bis aufs Messer, der Bürger als Würger. Seine Tatorte sind trautes Heim, Klassenzimmer oder Boulevard. Man wird in das allenthalben Böse, das sich zunächst ganz harmlos anlässt, unwiderruflich hineingezogen.

Wieviel Lakonie, Groteske, Resignation in solchem Satz: "Paul wuchs und wuchs und wurde erwachsen: Ein ansehnlicher, anständiger junger Mann…."Und dann wird eine Poesie des Schreckens entrollt, heilloses Erschrecken ausgelöst ob der fatalen Kausalität: "Er wurde verfolgt, musste verfolgen, man bedrohte ihn, er bedrohte."Ein paar knappe Details, Telegrammstil fast, bewusst emotionslos hingeschrieben, eröffnen eine gnadenlose Perspektive auf das alltäglich Monströse und auf den monströsen Alltag. Die vielen Möglichkeiten, die in einem Menschen stecken und die eines schönen Tages – "summertime" abrupt ausbrechen. Kurz: es sind mörderische Texte. Es geht um Leben und Tod, Mordfantasien gären, das perverse Fantasiegeblüh von Aussteigern, potentiellen Weltverbesserern und künftigen Terroristen, die sich das Töten entdecken und antrainieren. Das Killergemüt von nebenan oder in uns selber. Liebe schlägt um in abgrundtiefen Hass und Selbstzerstörung. Die vielen Versehrungen und Zerstörungen, die wir anrichten und die in uns angerichtet werden. Und alles ist tödlich, selbst die Langeweile. Und Rathenow hat weder Rat noch Trost parat.

Die 27 meist kurzen Erzählungen berühren menschliche und soziale Schmerzpunkte. Hat Rathenow nicht gestanden, er schreibe u.a., um Schmerzen abzuwehren? Vielleicht so: Schreiben als unerbittliches Wahrnehmungstraining?

Edwin Kratschmer
Universität Jena