glossen: rezension
Sterben will gelernt sein — Zu Lutz Rathenows Sterben will gelernt sein. Lyrische Prosa – Prosaische Lyrik Mit Bildern von Frank van der Leeuw. Verlag Landpresse Weilerswist 2000. 54 Seiten.

Rathenow, vor genau zwanzig Jahren von DDR-Gerichten wegen West-Veröffentlichungen noch angeklagt des Devisenvergehens großen Stils (man muss sich zuweilen daran erinnern), lebt mit solcher Erinnerung. Doch ist er – spottlustiger Gratwanderer und Grenzgänger zwischen Lyrik und Prosa – offenbar dabei, seine Persiflagen und seine Aggressionslust zu zügeln. Seine Farben changieren aber weiter zwischen "heiter und düster" und "heiter und böse". Wer sich der Fünfzig nähert, dem gerät jedoch vieles existenzieller: "Hoffnung // So hieß eines meiner ersten Gedichte. /…/ Klar und deutlich…/ wünschte ich die Sprache.

Einfach…" Heute findet er solche Vereinfachung "entsetzlich". Hoffnung ist ihm vor allem etwas für Kleingeister, "die die Nachricht nur noch nicht empfangen haben". Oft ist auch noch von einer Flaschenpost die Rede, deren Botschaft jetzt freilich: "etwas Luft". Da formuliert sich nahezu fatalistisch Erkenntnisgewinn; wie Rathenow seinen neuen Gemischtwarenband ja auch "Sterben will gelernt sein" nennt, mit dem er uns verheißt, für die gewisseste aller Gewissheiten gerüstet zu sein und unsere Endlichkeit endlich zu akzeptieren. Da vergeht selbst dem Spötter Rathenow das Spotten, denn er weiß inzwischen: Spötters Haus brennt auch.

Dennoch: Rathenow ist immer noch ein Erzschalk, der mit seiner Narrenklappe auf Ungereimtheiten unserer Welt einschlägt, und er macht auch vor Säulenheiligen nicht Halt (diesmal sind es Brecht, Goethe und Grass), denn er ist scharf auf das Absurde, das allenthalben lauert. So macht er mit Verve Jagd auf Quer- und Unsinn, surft er www durch unser groteskes Dasein und verkabelt er unsere Schwachstellen, bis sich die Parodien zu Karikatur und Comic verzerren. Er führt uns unseren quichottehaften Kampf mit den Tücken der Objekte vor, vernetzt beispielsweise unsere Technikerrungenschaften (Telefon und Computer) mit unseren Kommunikations- und Identitätsdefiziten – eben unsere missratene Beziehungskiste. Derart erweist sich Rahtenow als gewitzter Posamenter, der an den Posen des Bösen herumposamentiert, und sie dabei auf den Punkt bringt: "Selbst blöde Sprüche verwandeln sich durch veränderte Umstände in Weisheiten" oder: "Vor lauter Botschaften die Flasche nicht sehen". Da entnebelt einer mittels Sprachspiels und paradoxen Wortwitzes alltagverstellte Redewendungen und verballhornt zugleich uns bedrängende Heilslehren. In "Wir sind das Volk" weiß der Michel am Ende nimmer, ob er nun "Wir" ist oder "das Volk".

Aber vielleicht ist Rathenow doch so etwas wie ein perplexer Hoffnungsträger, der uns die Chance einräumen will, uns im Chaos selber zu finden, wie er es in seiner Parodie auf die Telefonomanie drastisch vorgibt. Der Literatur gesteht er indes nur geringe Chancen zu. Sein "Lektor" setzt voll auf die Spaßgesellschaft, indes sich die Gesellschaft auf ein kollektives Warten auf Godot einstellt ("Die Busfahrt").

Rathenow scheint mit diesem Buch seinen Komikerrang abschwächen zu wollen, denn die Kuriositäten, auf die er sich einlässt, schrecken ihn dann doch. Er scheint eher in die Rolle eines Dokumentaristen zu schlüpfen, den vor unserer Realitas gruselt und der sie daher zur Horror Picture Show zurechtliterarisiert. Rathenow also ein Horribiliscribifax an der Millenniumswende. Er reizt unser Kick-Verlangen, um uns nebenbei eine Lektion in Sachen Absurdität zu klistieren. Und das scheint ihm todernsten Spaß zu machen.

Rathenows Hausverlag Landpresse Weilerswist liefert uns das in inzwischen wohlbekannter bibliophiler Buchausstattung, wie man es nur noch selten findet, und Frank van der Leeuw illustriert bereits zum dritten Mal Rathenows Texte mit Großgrafiken, die diesmal die Mensch-Technik-Synthese vanitashaft als Nature morte in groteske Zeichnungen umsetzen.

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Edwin Kratschmer
Universität Jena