glossen: rezension


Robert Schopflocher, Wie Reb Froike die Welt rettete. Erzählungen. Göttingen: Wallstein, 1998.

Robert Schopflochers Erzählband fiktionalisiert Ereignisse und Erinnerungen aus der weit über einhundertjährigen jüdischen Immigrations- und Assimilationsgeschichte Argentiniens. Der Autor selbst ist 1923 im fränkischen Fürth geboren und hat dort seine Kindheit und Jugend verbracht, ehe er zusammen mit seiner Familie 1937 vom wachsenden Terror des Hitler-Regimes zur Emigration gezwungen wurde und nach Argentinien auswanderte. Dem Willen seines Vaters folgend absolvierte er als junger Mann ein landwirtschaftliches Studium in Cordoba und ließ sich dann zunächst als Agronom auf einer der Landsiedlungen der “Jewish Colonization Association” im Hinterland Argentiniens nieder. Diese Siedlungen waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dem Philantropen Baron Maurice de Hirsch gegründet worden, um den von Pogromen zunehmend drangsalierten Juden Osteuropas eine neue Heimstätte zu schaffen. Sämtliche Erzählungen Schopflochers spielen in diesem Kolonistenmilieu um die Mitte des 20. Jahrhunderts und spiegeln eine Umbruchszeit, in der die nach Südamerika verpflanzte Lebenswelt des osteuropäischen Shtetl mit den zeitgenössischen katastrophalen Ereignissen im Zentrum Europas vielfach ineinandergreift. Die meisten dieser Erzählungen sind Nacherzählungen und zum Teil Umdichtungen von ursprünglich in Spanisch geschriebenen und veröffentlichten Texten. Der Autor entdeckte beim Überarbeiten, dass unter dem spanischen Text ein “palimpsestartig in der Muttersprache abgelagerte[r] Urtext” (180) verborgen war. In der Tat haben denn auch diese Urtextversionen gewisse Anklänge an deutsche Erzähltraditionen von der mystischen Romantik der Novalis’schen Romankunst bis zum poetischen Realismus von Berthold Auerbachs Dorfgeschichten. Der größere Teil dieser Geschichten ist aus der Erzählperspektive naiv-nostalgischer Kindheitserinnerungen geschrieben, die allerdings immer wieder von politisch zeitgeschichtlichen Beobachtungen reflektiert und komplementiert werden. Im Verlauf des Erzählgeschehens tauchen noch einmal schemenhaft Figuren und Traditionen des osteuropäischen Judentums auf, die verbunden sind mit den letzten Erinnerungen der Ahnen an Hunger und Pogrome und die Schreckensherrschaft der Zaren. Mehrfach konkretisieren sich diese russischen Reminiszenzen in der Gestalt des Großvaters, der zusammen mit Großmutter Malke in zwei Erzählungen figuriert. Diese geschichtenübergreifenden Familienbeziehungen werden durch ein Geflecht mehrerer Leitmotive weiter vertieft und verdichtet.

Zum ersten sind es die Erscheinungen einer vage magischen Welt, die dem Realismus des Erzählgeschehens immer wieder eine leicht zauberhafte Dimension hinzufügen. So wird das Leben und Denken des Großvaters in der Erzählung “Vom Baum der Erkenntnis” mehrfach mit der mystischen Vorstellungswelt der Kabbala in Beziehung gebracht. Auf ähnliche Weise begründet der Erzähler Reb Froikes erfolgreiche Intervention bei der argentinischen Immigrationsbehörde zu Gunsten einer aus Nazi-Deutschland geflohenen jungen Jüdin durch dessen rabbinisches Charisma und seine geheime Überzeugungskraft. Auf der anderen Seite wird jedoch auch Don Marcos’ heillose Spielleidenschaft in der Erzählung “Termingeschäfte” mit seiner hoffnungslosen Verfallenheit an kabbalistische Zahlenspekulationen erklärt und in der enigmatischen Schlussgeschichte “Die Erinnyen” spukt auch schon mal in bester schauerromantischer Tradition ein “Reiter ohne Kopf” durch die “abendlichen Nebelschwaden” (169).

Ein weiteres wesentliches Leitmotiv dieser Erzählungen ist immer wieder der Einbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in diese gläubig-abergläubisch versponnene Shtetlwelt. Mehrfach ist von Gespensterschiffen die Rede, die von Hafen zu Hafen irren, weil ihre Passagiere, Flüchtlinge aus Deutschland, in Südamerika keine Einreiseerlaubnis bekommen. In der Geschichte “Der Uhrmacher” fristet ein ehemaliger deutsch-jüdischer Chirurg aus Frankfurt in einem verfallenen Schloss als Uhrmacher sein Emigrantendasein, ehe er sich aus Verzweiflung über das Schicksal seiner im Konzentrationslager umgekommenen Familie erhängt. In der Erzählung “Wie Reb Froike die Welt rettete” erfährt das Siedlerdorf durch die Einwanderungen deutscher Juden eine regelrechte Kulturverwandlung, wobei noch einmal die alten europäischen Widersprüche zwischen Ostjuden und Westjuden zum Tragen kommen. So erscheinen etwa den argentinischen Landjuden die deutschen Stadtjuden, die großenteils dem gehobenen Bürgertum entstammen, bisweilen zu modern und arrogant, wenn nicht gar zu deutsch-national. Gleichzeitig erfahren die Alteingesessenen eine vielfältige kulturelle Bereicherung durch die musisch begabten und akademisch gebildeten Neuankömmlinge. Die Schlussgeschichte “Die Erinnyen” schildert schließlich das Auftauchen eines rätselhaften Deutschen in der argentinischen Provinz Entre Ríos unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Bekleidet mit schwarzen Breeches und Schaftstiefeln, besessen von “Ordnung”(164), “Rassenreinheit”(164) und “Pünktlichkeit”(173) und rast- und ziellos auf Reisen, ist dieser Deutsche eine ausgemachte Nazi-Karikatur auf der Flucht vor sich selbst. “Ich reise weiter. Immer weiter. Wie der Ewige Jude”(166). In einem der Dörfer begegnet dieser Desperado aus Deutschland einer jungen Jüdin namens Chaike, die ihm aus unerklärten Gründen wie eine “antike Rachegöttin[]”(174) erscheint, sodass er schließlich vor ihr panisch die Flucht ergreift und auf Nimmerwiedersehen in der argentinischen Wildnis verschwindet. Die Wahnfigur einer literarischen Allegorie, welche in Werner Herzogs dämonischen Leinwand-Abenteuern und seinen exzentrischen Kinsky-Eskapaden im lateinamerikanischen Dschungel zweifellos ihresgleichen findet.

Ein drittes, wesentliches Leitmotiv ist das Themengeflecht der extensiven Familien- und Religionsgemeinschaft. In der Geschichte “Vom Baum der Erkenntnis” findet es sicherlich seine umfassendste Ausgestaltung. Norman Silverman ist der sprichwörtlich reiche Vetter aus Amerika, der “zu jeder Familienfeier ein Glückwunschtelegramm”(27) schickt, ansonsten aber lange der unbekannte Verwandte bleibt – bis er eines Tages schließlich leibhaftig im Dorf auftaucht. Ausgerüstet mit Kamera und Tonbandgerät ist er auf Ahnenforschung unterwegs, um die weltweit verstreuten Nachkommen seiner Familiensippe der Silberman(n)s und der Krasnobrodas aufzuspüren und zu dokumentieren. Seine Nachforschungen führen ihn von Kanada bis nach Brasilien, wo sich ihm schließlich gar eine “fidele Schwarze, dick wie ein Fass”(41) als ferne Silberman’sche Blutsverwandte zu erkennen gibt. Durch die Recherchen Silbermans in den jüdischen Kolonien Argentiniens erfährt schließlich auch der Ich-Erzähler, dass sein Großvater einst in ihm, dem Enkel, die Reinkarnation seines ersten Sohnes wiedererkannt zu haben glaubte, der als Einjähriger zusammen mit seiner ersten, innig geliebten Frau in einem russischen Progrom umgekommen war. Kabbalistische Kombination der Namensbuchstaben und weitere Geburtsdatenspekulationen bestätigten den Großvater in seinem lebenslangen Wunsch nach geheimnisvoller Heilung der so früh und furchtbar zerrissenen Familienbande.

Auf diese Weise scheinen immer wieder Schopflochers Dorfgeschichten gezeichnet von der großen Leidensgeschichte des jüdischen Volkes. Wie nie zuvor hatte es in den Jahrzehnten zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Mitte des 20. Jahrhunderts Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung erlitten und war zerstreut worden über alle Kontinente der Erde. Ähnlich den geheimnisvollen Reise- und Familienromanen der deutschen Romantik, in denen sich schließlich auf schauder- oder wunderbare Weise verloren geglaubte Sinn- und Beziehungsverhältnisse zu erkennen geben, offenbart sich auch in der Erzählung “Vom Baum der Erkenntnis” diese Sippen- und Schicksalsgeschichte in vielfach verschlungenen Konfigurationen. Über die weltweiten Verwandtschaftsbeziehungen hinaus personifizieren die diversen Erzählfiguren auch noch einmal das konfliktreiche Potential eines zunehmend von der zeitgenössischen Assimilation und Desintegration begünstigten wie bedrohten Judentums. Während der talmudtreue Großvater noch mit seinem alttestamentarischen Gott rätselt und hadert – eine ehrwürdige Tradition von Hiob bis Heine – , baut bereits die nächste Generation auf die vielfältigen Verheißungen der modernen Säkularisation und Emanzipation. Die Gespräche in Familienkreis und Männerrunde drehen sich immer wieder um die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen ihrer sozialpolitischen Weltverbesserung, sei es nach den rousseauistischen Idealen der Landkolonisation, sei es nach den revolutionären Konzeptionen der marxistischen und zionistischen Staats- und Wirtschaftsutopien, oder sei es schließlich durch die unmittelbare individualistische Selbstverwirklichung in einer modernen Gesellschaft. So ziehen dem Lebensweg des Autors folgend auch einige seiner jungen Dorfhelden schließlich nach Buenos Aires, um in der argentinischen Hauptstadt ihr persönliches Glück und ihren beruflichen Erfolg zu suchen. Es sind Lebensentscheidungen, denen es nicht an tragischer Geschichtsironie fehlen sollte. Jahrzehnte später fanden sich die Nachkommen dieser in die Metropole abgewanderten Landjuden erneut unter den Verfolgten ihres Staates. Hilda Stein, deren junge deutsch-jüdische Mutter Kathi einst durch Reb Froikes Vermittlung Zuflucht in Argentinien gefunden hatte, wird schließlich in den 80'er Jahren Opfer einer argentinischen Militärdiktatur und ihres blutigen Terrors. Mit ihrem Tod schließt sich symbolisch der Schicksalskreis der Erzählfiguren, die kaleidoskopartig noch einmal die ganze Kultur- und Katastrophengeschichte des jüdischen Volkes reflektieren. Nach alter Tradition glaubte Reb Froike, daß er durch die “Erlösung Kathis die ganze Welt gerettet”(84) habe. Und der Autor schlussfolgert im Sinne “unseres alten Reb Froike: ‘Wer ein einziges Menschenleben vernichtet, der zerstört die ganze Welt’”(88).

Es ist dem Göttinger Wallstein Verlag hoch anzurechnen, dass er Robert Schopflochers Geschichtensammlung herausgebracht hat. Wie Reb Froike die Welt rettete ist ein facettenreiches Kleinod romantisch-realistischer Erzählkunst, voll von russisch-argentinischen Shtetl-Erinnerungen, deutsch-jüdischer Lebenserfahrung und tragischer Weltgeschichte. Aus ihren Fabeln und Parabeln spricht eine der letzten, fernen Stimmen der bald restlos zerbrochenen deutsch-jüdischen Symbiose.

Frederick A. Lubich
Old Dominion University