glossen: literarische texte
Sakkorausch
Elisabeth Reichart

Sonnenuntergang.
Einer der ungezählten, die ich durch dieses Fenster sah, sehen werde.
Ich falle in den Untergang.
Gehe unter.
Über mir meine Sätze, meine Namen…

Meine Sätze beweisen meinen Irrsinn.
Meine Sätze treten als Zeugen gegen mich auf.
Antreten! Drauftreten!

[...]

Sie wollen mich heilen.
Von Meinen Gedanken.

Ich kenne sie, diese Heilsbringer.
Von ihnen will ich nicht erkannt werden. Ich habe meine Schrift verändert. Meine Geniale Schrift kann nur noch von ebenso genialen Menschen gelesen werden wie ich es bin. Nicht von diesen Nervensägen, Schlächtern, Pfaffen.

Elizabeth hat sich dieser Gefahr entzogen. Sie schweigt und füttert die Stare. Selbst vor Kriegsbeginn hat die Königin nichts anderes im Sinn, als die Stare Zu füttern. Ganz gewöhnliche Stare. Und ausgerechnet vor meinem Fenster, diesem so mühsam erkämpften Fenster!

Elizabeth hat nie um etwas gekämpft. Nicht einmal um ein Fenster. Nur Helene von Druskowitz gegenüber die Erinnerung an den eigenen Willen, die beharrlichen Versuche, ihren Kopf durchzusetzen. Ich mag keine Vogelammen. Von allen Rollen diese ausgewählt. Ein Irrtum der Natur. Warum verlangt sie von mir, dass ich ihr bei dieser Fütterung zusehe, diesem Rückfall in die Gebärdensprache und das Einheitsgezwitscher? Sobald ich mich von ihr abwende, zieht sie den Kopf ein und breitet die Arme aus. Vergebliche Fluchtbewegung. Die Flugbahn der Vögel bleibt unerreichbar. Selbst die Mauerasseln sind schneller als sie, die von den Wärtern ergriffen wird…unerträglicher Anblick…erstarrt in seiner täglichen Wiederholung…besitzwütige Hunde, unflätige Worte…die Monster haben ein leichtes Spiel mit Elizabeth, die nicht über ihre Grausamkeit verfügt, nur über eine Verstummte Dichterseele, die sich mit den Vögeln eins weiß, nicht mit den Menschen.

Hab keine Angst, sie werden nicht kommen. Weder heute noch morgen. Ich bleibe hier stehen und lasse uns aus der Zeit fallen. Fall du nur den Vögeln zu Füßen, solange sie nicht über dich herfallen. Ich warte auf dich wie dein Schatten, in den ich einziehen werde, wenn du die Stare verläßt und zu deinen Gedichten zurückfindest.

Hör auf mich, und hör weg von diesem Gezwitscher! Die Stare wissen von nichts. Manchmal sieht es so aus, als würdest du mit ihnen reden.

Erstarrter Mund unter den Menschen, beweglicher Mund unter den Vögeln?
Ich werde dir deine Gedichte vorlesen. Ich trage sie stets bei mir.
Spüre sie in der Innenfläche meiner rechten Hand, die ins Leere greift.
Dieses Gewohnheitsdenken.
Sogar der Körper fühlt die Tasche noch, und bei geschlossenen Augen kann ich sie anstarren bis zum Starrkrampf.
Meine unauffindbare Tasche.
Eine braune Ledertasche, alt, abgewetzt, ohne Henkel.
Mein Leben paßte in die Tasche.
Es hat keinen Sinn, sie zu suchen.
Das Bißchen Erinnerung und Zukunft.
Mauer-Oehling.

War ein Stein darin?
Sicher war ein Stein darin,
Mein Afrikastein.
Statt Afrika ein Stein.
Schon damals, im Hafen, trug ich diese Tasche.
Bei meiner ersten gescheiterten Reise.
Ich will nach Afrika, flüsterte mir das Leder zu, wenn ich versuchte, darauf einzuschlafen.
Das Leder suchte nach seinem Körper, ich
Suchte Schlaf, Afrika haben wir trotzdem nie erreicht.
Ich weiß nicht, ob die Tasche ein Loch hatte, von dem nur sie wußte, oder ob wir an der Südspitze Europas Dieben begegneten. Sollten wir im Süden uns unbekannten Dieben begegnet sein, wäre unser ganzes Leben von Dieben bestimmt.
Wegen eines Taschendiebes konnte ich nie den Kontinent meiner Wahl sehen. Vielleicht wäre ich dort geblieben. Vielleicht hätte mich die afrikanische Hitze umarmt, und mein verwüsteter Körper trüge leichter an diesem Betrug, den sie Leben nennen.
Ohne Tasche bin ich nackt.
Als hätten sie mir die Haut abgezogen.
Hautlos. Taschenlos.
Das einzige Geschenk meiner Mutter. Hinter der Tasche verschwunden Mutterbrust. Der Schreck ließe mich lächeln. Lächelnd nahm ich die Tasche entgegen. In ihrem Dschungelleben ist mein Geist an keinen Ort und keine Zeit gebunden. Unfaßbare Zeitlosigkeit inmitten der reglementierten Tage, der zugeteilten Nächte. Elizabeth lächelt, wahrend sie die Stare futtert. Nur während sie die Stare füttert, lächelt sie. Aber sie lächelt nicht der Stare wegen. Die Erinnerung an ihre Gedichte treibt sie zu den Vögeln, vertreibt den Schmerz von ihrem Mund.
Sprechende Stare?
Meinetwegen sollen es sprechende Stare sein.
Dichten können sie trotzdem nicht.

My little doves have left a nest
Upon an Indian tree,
Whose leaves fantastic take their rest
Or motion from the sea;
For, ever there the sea-winds go
With sunlit paces to and fro.

Sorry, die anderen Verse sind mir entfallen. Wohin fallen die Worte…Ohne
Diesen Gedächtnisausfall würden Elizabeth statt der Stare wieder die Worte einfallen…..

Foreign würde gerne mit der Königin reden. Aber die Königin redet lieber mit den Vögeln.
Nein. Es ist gut, daß Elizabeth nicht mit mir redet. In ihrem Schweigen verstummt die letzte Versuchung, meine Geschichte zu erzählen. Die Auferstehung der Kinderseele. Ende gut, alles gut. Zu Satzklumpen erstarrtes Leben, mehr wäre nicht zu erwarten.
Alle meine Stücke sind in der Tasche. Zu viele Begabungen für ein Leben. Wehe der Frau, die Gestalt annimmt. Inmitten des Strohs brennt jeder Gedanke. Meine Seelenkinder? Sogar mein Stück über die verwunschene Elizabeth ist in der Tasche. Jetzt, da ich mich endlich dazu entschlossen habe, es Elizabeth zu zeigen, schließt sich die Tasche darum.

Rot, Fischlein, rot,
Wer stach dich gestern tot,
Tot bist du noch lange nicht,
Schwimmst in meinem Augenlicht.

Ihr fürchtet meine Tasche. In ihr lauert der Beweis daß Elizabeth nicht irrsinnig ist. In meiner alten, abgewetzten Ledertasche. Dort ist der einzige Bühnenraum, in dem meine Stücke aufgeführt werden können. Diese gefräßige Tasche wird alle Stücke ausspucken, sobald Elizabeth es will.
Humorlose Realität, in der meine Namen gegen mich verwendet werden und die Ironie nur beklatscht wird, solange sie mit den Motten verwechselt werden kann.
Verlassene Realität, die sich Für ihre Verlassenheit rächt, mit Wachhunden an den Grenzen und Mauern, die sie nie dem Verfall preisgeben wird, so verfallen ist sie ihnen.
[...]
Ich darf nicht aufgeben. Eines Tages wird sie verstehen, meine Sätze gelten auch für sie. Sie wird sich in ihnen zu Hause fühlen wie jetzt bei den Staren:
Lebt,
Außer in der Eroberung und Behauptung Eurer Rechte,
In der Sympathie Für eurer Geschlecht sowie in der feinsten Etikette zu demselben,
denn eurer Geschmack hat nur noch reiner, eurer Selbstgefühl gestählter
und die Vorliebe für das eigene Geschlecht, für dessen Ansprüche, Rechte und Fortschritte verdichtet zu werden,
damit das Rittertum der Frauen sich begründe
und sich würdig dem Priestertum derselben anschließe; [...].

Eines Tages wird Elizabeth keine Angst mehr vor den Wärtern haben.
Eines Tages wird sie in die Poesie zurückfinden, und ich werde ihren ranzigen Geruch vermissen.
So einfach ist das.
Dann wird sie begreifen, daß der einzige Unterschied zwischen Mauer-Oehling und der Welt darin besteht, daß hier das Chaos herrschen darf, wahrend es sich draußen gewaltsam durchsetzt. Niemand hindert uns, die Spielregeln selbst zu bestimmen. Wozu fliehen, solange die Vogel wiederkommen und die Mauern bis auf Widerruf das Grauen abhalten, nichts sonst.
Sprachlose Elizabeth. Aber was nützt es, über die Sprache zu verfugen, im Land der Tauben, der Blinden. Ich könnte wie sie mein Leben damit verbringen, die Vogel zu füttern, statt zu den Tauben zu sprechen. Ihre Sprachlosigkeit ist umfassender als die der Stare. Starrköpfig wie sie sind, lassen sie sich von der Dummheit umarmen. Sie umfaßt sie unmerklich, schnürt ihnen die Kehle zu und den Verstand, läßt sie fassungslos zurück, nach Fassung ringend klammern sie sich an Elizabeth, schreien auf sie ein, endlich können sie jemanden ungehindert anschreien, Brüllaffen sind sie, diese Männer, weder Menschen noch Tiere, unter ihrem Gebrüll hat Elizabeth endgültig schweigen gelernt, verschwiegene Gedichte, die Vögel bringen sie außer Land.
Meine Diagnose habe ich selbst gestellt. Es fiel nicht einmal auf, daß ich meine Tasche gepackt hatte, als sie mich holten. Protokollierten lediglich mein kooperatives Verhalten. Anfangs diagnostizierten sie Verfolgungswahn. Das Wort Wahn haben sie angehängt, diese unwissenden Stümper, um von den Verfolgungen nichts hören zu müssen. Sitzen Sie bequem?, habe ich die Verhörspezialisten bei jedem Gespräch gefragt, aber sie haben die Frage nicht verstanden. Keine Gesprächspartner, diese Weißkittel. Alle paar Jahre wechseln sie wieder zu „halluzinatorischem Wahnsinn“. Ihretwegen werde ich meinen sechsten Sinn nicht aufgeben. Ihre Unfähigkeit, sich in meine Atmosphären vorzuwagen, macht sie bedürftig. Der Sinn des Wahns bleibt ihnen verborgen. Arme Vierbeiner, diese Ärzte. Sie glauben wirklich, sich mit Helene von Druskowitz auf eine Stufe stellen zu können, indem sie mich mit Hoheit oder Königin anreden.
Patientenabhängige Ärzte.
Vogelabhängige Elizabeth.
Taschenabhängige Helene. Lieber hatten sie mich fromm.
Und stumm. Wie Elizabeth. Um mich scheitern zu sehen. Nichts erregt diese retardierenden Köpfe mehr, als einen denkenden Kopf an ihnen scheitern zu sehen. Ihr kostet mich zwar das Leben, aber nicht den Geist. Mein Denken hält der bestia trionfante stand, und meine Worte werden euch überleben, ausharrend in ihrem einsamen Versteck, bis es so still geworden ist auf der Erde, daß selbst ihr Schweigen
gehört werden wird.
Inzwischen ist die gesamte Historie, mit geringen Ausnahmen, einfach „Männergeschichte“ und deshalb roh bis zum Äußersten und ein schlechtes Vorbild.
Ohne Vorbilder leben oder mit unwürdigen, welch eine ermutigende Wahlmöglichkeit.
Ich habe langst verzichtet.
Ein Verzicht nach dem anderen.
Foreign life.
Nur auf mein Fenster verzichte ich nicht. Auf dieses so mühsam erkämpfte Fenster.
Von hier aus sehe ich den Friedhof und Elizabeth. Und niemand kann mich mehr wegschieben. Alle Schiebungen sind ausgesperrt in meiner Einsperrung.

Ohne Tasche erinnere ich mich nicht an mein früheres Denken:

Die Religion, der Tod
Der Tod der Religion
Die Religion der Toten…
Kein Trostsatz formt sich.
Ohne meine Tasche bin ich in meiner Vergangenheit nicht zu Hause. Sie haben mich aus mir verjagt.
Jagende Bestien, an meinem Afrikastein werdet ihr euch die Zähne ausbeißen. Ausgeraubtes Afrika. Beraubte Sakkorausch. Doch in mir habt ihr kein lammiges Opfer.
Im Gegenteil.
Keine Tasche – keine Schrift. Der Krieg wird bald hier sein. Ich werde ohne Tasche sein. Meine Arbeit über die Männer bleibt mitten im Kriegsbeginn stecken. Ihr unbeschriebenen Männer! So wichtig, und doch keine Zeile wert. Niemand will sich in dieses unleidliche Thema vertiefen. Es ist außerordentlich unsympathisch und unästhetisch. Vor allem aber ist der Mann nur scheinbar ein lustiges Abenteuer der Natur, in Wirklichkeit ist er das giftigste und gefährlichste Experiment im gesamten Weltbereich

[...]

Es ist eine Gemeinheit sondergleichen, daß ich ihnen überhaupt noch begegnen muß. Diesen unfähigen Reparateuren, diesen Quacksalbern, die mir seit dreiundzwanzig Jahren die gleichen Beruhigungs- und Schlafmittel geben, jedes Jahr die Dosis erhöhen, anstatt mich Wein trinken zu lassen, den ich für meine Geistesarbeit dringend brauchte, während mich ihre Giftwässerchen dumpf machen, jeder Gedanke zur Anstrengung wird unter dieser Betreuung, die ich eine Todesbetreuung nennen muß, tot wollen sie mich, tot im Geiste.
Ohne meine Tasche konnte es ihnen gelingen. Nur mit Hilfe meiner Tasche konnte ich mich bisher gegen ihre Tötungswünsche wehren. Mit meiner schonen Tasche. Unsinn. Die Tasche was alt und häßlich. Ausgebleicht von der Sonne und mit dunklen Flecken übersät, die der Regen hinterlassen hat.
Wahrscheinlich habe ich sie ausnahmsweise liegengelassen.
Diese Beschwernis.
Trotzdem will ich meine Tasche zurück haben. Ich muß sie zurück haben. Sofort! Mein Parfum ist in der Tasche! Jetzt kann ich nicht einmal mehr Parfum in den Tee geben. Sie behindern mich, wo sie nur können. Sperren mir die Ausgange, weil ich sie zum Trinken benutze. Ja wozu denn sonst! Spazierengehen kann ich genausogut innerhalb der Mauern! Das Trinken beflügelt meinen Geist, erleichtert das Denken. Der Alkohol lost die Verbindung zur Materie.
Die Materie ist das andere, das Niedrige, mit sich selbst Veruneinigte, Unbefriedigte,
Zerklüftete und Zwieträchtige,
entäußert und unglücklich sich Empfindende,
das Formlose, Verlassene,
in steter Flucht vor sich selbst Begriffene,
das ewig unlustvoll Seiende, Wechselnde,
das immer wieder sich Entwickelnde
und schließlich qualvoll und mit unwillkürlicher Ironie
zu einer unseligen und zwieträchtigen
Bewußtseinsstufe Emporstrebende.
Mit ihr verhaftet, ist die Übersphäre nicht einmal für ein Genie gedanklich erreichbar. Dieser sublimen Sphäre darf nicht zugemutet werden, den Klumpen von Materie erschaffen zu haben. Wohl aber darf eine, Art unwillkürlicher Bezauberung, welche die Übersphäre auf die Materie ausübt, zugestanden werden. Mit den mickrigen Hühnerflügeln ihres Denkens haben sich die Geistlosen nur ein paar Meter über die Materie erhoben und Gott erschaffen, dessen erbärmliches Gesamtbild ihren anderen Machwerken entspricht. Es ist voll Schädlichkeit, insbesondere für die Frauenwelt, deren Entwicklung es stets ungemein gehemmt hat. Ohne Gott werden sich die Frauen an ihren Ursprungsort erinnern, werden sie wider im Meer zu Hause sein, und die Bezauberung spüren, die die Übersphäre auf sie ausübt. Diese Bezauberung ist um so größer, je geistiger die Materie. Alkohol ist ein reines Geistesgetränk. Alle Genies waren Genies nicht zuletzt auf Grund ihres Mutes, sich Rauschmitteln auszusetzen. Nur Helene von Druskowitz soll ihre Werke ohne jede Hilfe erschaffen.

[...]

….ich, die Königin der Weltweisheit, die fast alle Männer an Geist überragt. Doch diese ungebildeten Banausen bilden sich ein, über Geistesarbeiter urteilen zu können, geistlos, wie sie nun einmal sind, wollen sie auch mich: „Eure Hoheit hatten erst vorige Woche das Privileg, ein Gläschen Wein genießen zu dürfen.“ Ein Gläschen genießen, wer das könnte, die Lippen nur benetzen, wenn Geist und Herz nach einem ewgen Kusse lechzen…
Wo hatte ich das Parfum sonst verstecken sollen? Kaum verlasse ich das Zimmer, durchsuchen sie es. Nur in meiner Tasche war es sicher. Obskure Sicherheit, die nicht einmal bis zum Tod dauert.
Ich habe die Tasche von dem Moment an gehabt, in dem ich sie zum ersten Mal in die Hand nahm. Ich wußte sofort, daß mich diese Tasche ein Leben lang begleiten würde, Zuerst würde meine Mutter auf sie aufpassen, dann würden ihre wachsamen Augen zu meinen geworden sein.
Es geht sich viel leichter ohne sie, angenehmer.

[...]

Unmöglich! Nicht heute! Heute brauche ich mein Manifest. Ich muß es den Kriegerinnen vorlesen, die keine Priesterinnen werden wollten. Wie soll ich ohne meine Worte zu ihnen reden! Eine wortlose Philosophin ist nicht einmal die Karikatur einer Philosophin, und die Steine beschwerten vergebens den Mund.
Ich muß als Philosophin abdanken. Helene von Druskowitz, die letzte Philosophin, die sich noch um die grundlegenden Menschenfragen kümmert, die bald ihr offizielles Entlassungsschreiben von den Sakkoträgern bekommen werden, muß angesichts des Krieges abdanken? Sie wollen die Moral aus den Wissenschaften vertreiben, zuallererst aus der Philosophie. Eine sintflutartige Austreibung wird stattfinden. Ausgeschieden die Moral, die Historie, vergessen, daß bereits die antiken Philosophen die Bedeutung der Gesinnung betonten. Einer gesinnungslosen Wissenschaft wird kein Bedauern in das Grab folgen, denn die Gesinnung ohne Wissenschaft ist noch immer besser als die Wissenschaft ohne Gesinnung.
Man hat mir meine Tasche absichtlich gestohlen.
Man hat mir meine Tasche vor Kriegsausbruch gestohlen.
Man hat mir meine Tasche absichtlich wegen des baldigen Kriegsausbruchs gestohlen.
Ich protestiere gegen diese geistige Enteignung.

[...]

Andererseits ist dies eine logische Konsequenz des Krieges gegen mich. Er findet seinen berauschenden Abschluß im Krieg
Mann gegen Mann. Diese Verwechslung von Dummheit und Tapferkeit. Tapfer ist nur, wer liebt. Das Schlachtfeld der Liebe - welch eine Demaskierung. Die Verwahrlosung des Geistes zieht unweigerlich die der Seele nach sich, und der Mund übt lange vor der Hand Verrat.

[...]

Marie von Ebner-Eschenbach hat die Tasche gestohlen. Ihr Geist reichte nie über ihren Gutsbesitz hinaus. Jetzt, da ihre Vetternwirtschaft männerleer ist, hat sie Angst bekommen. Die stille Welt ist totenstill. In diese Totenstille will sie nicht einkehren. Hat kehrt gemacht und sich meine Tasche geholt. Ein paar Lebensinfusionen.Ungestraft kann sie mich berauben. Sie hat mich noch nie geachtet, mich stets wie
Ein einfaltiges Kind behandelt. Unverletzbar dünkt sie sich mir gegenüber. Wahr ist, daß sie mich schon wiederholt in grausamster Weise gedemütigt hat. Alle Botschaften, die mein Geist von dieser Freifrau empfängt, sind von der unwürdigsten Art. Der Rest, nichts als Almosen. Es wäre so einfach für sie gewesen, mich hier heraus zu holen. Doch die Aristokratie erinnerte sich lieber daran, daß sie mich von Anfang an für verrückt gehalten hat: „Mein Kind, wovon wollen Sie leben? Eine Frau in Ihrer gesellschaftlichen Position, ohne ausreichendes Vermögen, und, auch wenn Sie es nicht gern hören, in Ihrem Alter! Sie sind verrückt, wenn Sie diesen Heiratsantrag wieder ablehnen. Eine Ehe ist der einzige sichere Ort für eine Frau.“
Nicht für begabte Frauen. Der begabte Mann mag in ihr einen Friedensort sehen, in dem er seine Kräfte erst recht sammelt und entfaltet; die begabte Frau zersplittert sich, und ich will meinem Talente leben. Außerdem ist die Ehelosigkeit das vornehmste Zeichen für die geniale weibliche Verfassung, ja, sie bedeutet das Genie der Frau selbst. Und ich liebe es, genial zu sein. Denn alle anderen Schandtaten der Spezies Mann waren vorübergehender Art und historisch betrachtet von kurzer Dauer. Nur die Knechtschaft, Vergewaltigung, massenweise Ermordung der Frau begleitet ihre Herrschaft von Anfang an und nimmt kein Ende durch sie, durch sie Nicht!
Lieber verrückt, als Tag für Tag eines dieser vollkommen mißglückten Exemplare um mich ertragen zu müssen.
Ein untragbarer Zustand.
Zum Glück bin ich durch das Meer gezeugt.
Meine kluge Mutter hat mich vor allen männlichen Einmischungen bewahrt.
Der Mann ist der Diabolus, welcher den Frieden in der Natur immer wieder stört und aus dem Leben, das auf Freudigkeit, Leichtigkeit und Kürze angelegt ist, eine Satansholle ohne Ende, aus dem menschlichen Geschlecht, das als das edelste von allen auf einige Taler sich beschränken sollte, durch Geschlechtsgier einen wimmelnden und zuchtlosen Haufen, der in der innersten Seele krank ist, gemacht hat. Eher würden Ziege und Äffin als seine natürlichen Genossinnen genannt zu werden verdienen als Frauen. Denn er ist grausig beschaffen und trägt sein schlumpumpenartiges Geschlechtszeichen wie ein Verbrecher voran.
Zu dieser Mißgestalt sollte ich mich legen? Das wollte sie von Sakrosankt? Nur weil sie es tat. Weil sie es nicht ertrug, sollte auch ich es nicht ertragen. Der einzige Ertrag aus diesem Verliegen ist die Zwangsvorstellung in den Köpfen der Frauen, keine dürfe diesem Lager entkommen.Und alles, was ich sage, kann gegen mich verwendet werden, ich weiß. Die Ohnmacht wird als Sonnenschirm getragen, formt ein undurchlässiges Schild gegen andere Gedanken als die vorgekauten.
Die Teilung der Städte nach den Geschlechtern wäre der einzige Schutz vor der zur Gewohnheit gewordenen Unterwerfung.
Elizabeth wäre nichts passiert, hatte sie unter Frauen gelebt. Sie hätte den Vögeln ihre Gedichte vorgelesen, statt sie an den Krieg zu verlieren.
Dies muß anders werden. Nicht nur einige Felder, sondern alle Gebiete sollen von Frauenkraft durchbrochen werden. Da ihr allein sein sollt, so fordert die Teilung der Städte nach den Geschlechtern und die Konzentrierung der gesamten weiblichen Tätigkeit auf die eigene Stadthälfte, die selbstredend auch besondere Todesstätten für das Geschlecht enthalten soll! Nur, wenn ihr gesondert lebt und wohnt, werdet ihr alle Rechte besitzen und alle schicklichen Berufszweige mit Leichtigkeit ausüben.
Doch vorher muß noch Krieg sein. Ich spüre ihn näher kommen. Der Krieg wird EIN Gutes haben: Er wird die Frauen zwangsweise von den eingefleischten Ungeheuern, die sie freiwillig nicht verlassen wollten, trennen. In ihrem Alleinsein werden sich die Frauen ihres Wertes besinnen, da die Grundlagen eben ausgezeichnet gut sind und nur die weiblichen Instinkte entsetzlich unterdrückt wurden. So muß die Frauenwelt eben nur gereinigt werden von den Narren, wofür der Krieg sorgen wird, dieser oder der nächste.

Wie einfach alles sein könnte. Doch mein Denken reicht an die Wahrheit heran, die niemanden unter ihre Fittiche nimmt, dessen Halbherzigkeit die Grenzlinie zwischen Seele und Geist bildet. So wird der Krieg zu Ende sein – und dann?
Dem Räuber und Totschläger „Mann“ kann, sobald es um die Verteidigung seiner Machtpositionen geht, eine begrenzte Lernfähigkeit nicht abgesprochen werden. An Orten, wo der Kampf noch unmittelbar tobt und der gesamte Knäuel in eins verstrickt ist, wird sein Neid und seine Herausfordernde und hypnotisch wirkende Art der Frauenwelt den Lorbeer stets zu entwinden streben. Er wird der Frau ein paar Köder auslegen und ihr einreden, diese Brosamen seien die Hälfte der Macht. Sie wird ihr Mißtrauen mit immer eifrigeren Beweisen ihrer Fähigkeiten betäuben, bis sie sich zu den Tauben zählen kann, aufgerauht und wieder nur ein blinder Spiegel ihrer selbst.
Die nach mir kommen, werden milder urteilen. Meine Konsequenz wird die Frauen abschrecken. Dem Schrecken, den ich ihrem Geist versetzte, werden sie nicht nachdenken. Sie werden den Mann mit den banalsten Ausreden in Schutz nehmen vor mir. Kinder, werden sie sagen, alle Männer sind Kinder, und den Pesthauch dieser Verniedlichung selbst atmen. Das bißchen Mitnaschen an der Macht wird sie genauso korrumpieren wie ihn, und von einem Feminismus, der mit Feuer und Glanz ausgestattet werden muß, werden sie so wenig wissen wollen wie von ihrer natürlichen Aufgabe, das Endesende dieser Welt vorzubereiten.
Nichts zu hoffen.

Manchmal glaube ich, ich brauche meine Tasche nicht mehr. Der Krieg ist schneller als ich, die ich nur über die Worte verfüge, nicht über den Wunsch zu töten.
Kein Grund zu weinen, Elizabeth. Dieser Krieg ist einer von vielen. Deine Stare werden sich an ihn gewöhnen und wiederkommen. Wie der Krieg wiederkommt.
[...]
Da marschieren sie. Im Siegestaumel!
Bevor sie noch das Schlachtfeld betreten haben, feiern sie schon ihren Sieg. Als hätte es jemals einen Sieger in einem Krieg gegeben. Diese Verblendeten. Der Mann ist mörderisch veranlagt. Er ist ein geborener Dämon und Nennteufel, das gefährlichste aller Lebewesen. Er will den Krieg, diese brutalste Äußerung männlicher Wut und seines Machthungers.
Erstaunlich, daß sie überhaupt bis zwei Zahlen können. Wo es doch nur ein Reich für sie gibt, einen Herrscher, dem sie ihr Denken überlassen, bevor sie an ihm vorbeidelirieren. Unbekannte Menschheit, Völker, planetare Zusammenhänge. Wie häßlich sie sind, diese Ekzeme voll Borniertheit und äußerster Verrohung.
Es ist eine wahrhaft göttliche Ironie des Schicksals, daß sich dieses Wesen, auf dem Höhepunkt der Bildung befindlich, selbst für einen Affensprößling hält. Nun ist das gesamte Leben zur Affentragödie des Mannes geworden! Die Anmaßung, mit welcher sich der Nachkomme des Affen an die Spitze der Welt gestellt und der Mehrzahl der Dinge den Stempel seiner Natur aufgedruckt hat, muß mit Entrüstung erfüllen. Der Umstand konnte zu den enormsten Rachevorstellungen Anlaß geben....
Geliebter Konjunktiv, ad absurdum geführt von den Frauen! Jubilierende Frauen! Noch nie haben Jubelrufe meine Fensterscheiben zum Klirren gebracht. Sie reiben sich die Haut blutig an dem steifen Stoff der Uniformen, um ihre triumphierenden Gesichter zu verbergen. Ihr frenetischer Beifall – welch eine Manifestation ihres Hasses. Nur wer die Männer abgrundtief haßt, kann sie mit Freudenrufen in den Tod begleiten.
Doch nicht alle werden in den Baptisterien der Schlachten ertrinken. Die zurückkommen, werden sich dieser Jauchzer erinnern, dieser Ekstase. Sie werden wieder einmal ihre Affenstärke unter Beweis stellen müssen, und ihre Rache wird fürchterlicher sein, als es sich Frauen jemals ausdenken könnten. Mit ihren Stummeln werden sie die Frauen zu Krüppeln schlagen. Mit dem Eiter ihrer nicht verheilenden Wunden werden sie ihre Kinder und Kindeskinder füttern und so für den nächsten Krieg sorgen, mit aller Sorge, der sie fähig sind.

Ich sehe sie Steine aufstellen.
Grabsteine.
Doch nur die Name werden eingemeißelt.
Die Erde bleibt knochenleer.
Sie erfinden sogar einen Namen dafür:
Kriegerdenkmal,
die Mörder heißen Gefallene,
gefallen für Volk und Vaterland,
kein Land in Sicht,
nur verbrannte Erde,
und die Luft von Giftgas geschwängert.

Angesichts dieser johlenden Mördermasse ekelt es mich vor meinen eigenen Gedanken, vor meinem Ehrgeiz, sie gedruckt sehen zu wollen – jetzt bezeugen sie meine naiven Wunschgebilde. Deshalb hat man mir die Tasche gestohlen! Um sie als Zeugin gegen mich verwenden zu können! Der Hohn wird mich überleben, wenn ich meine Werke nicht vernichten kann.

[...]

Die selbstverschuldeten Schmerzen im Geiste sind die schlimmsten. Ich werde dem vulgären Elend erliegen. Eine praktische Stellung wäre angemessen. Die Übertragung eines Kanditengeschäftes, einer Tabakregie, ich bin auch nicht ohne Kenntnis der tschechischen und ungarischen Sprache, nebst den klassischen, die ich perfekt beherrsche wie auch Französisch Italienisch, Englisch, Spanisch, ein bißchen Chinesisch.

[...]

Es muß zu Ende sein.
Das Unerträgliche ertragen, bis der Tod mich davon trennt.
Mehr ist nicht zu tun.

Zumindest können sie mich nie wieder bestrafen. Diese Möglichkeit haben sie sich selbst genommen, wahllos, in ihrer dumpfen Gier. Sollen sie meinen Hut verbeulen, seine Beulen sind vorübergehender Art. Meine Tasche kann mir kein zweites Mal gestohlen werden. Und meine geniale Schrift wird ihnen ihre Blindheit vor Augen führen. Ausflüge in ein Kriegsgebiet interessieren mich nicht. Ich kenne die verlorengegangenen Soldaten. Erst als Tote werde ich diesen schauerlichen Ort verlassen. Ich weiß es seit langem. Trotzdem, bis es soweit ist, konfrontiere ich sie weiterhin mit meiner Entlassungsforderung, die selbstverständlich mit dem Eingeständnis verbunden sein muß, daß meine Einlieferung in diese Irrenanstalt und mein Aufenthalt hier auf einem Irrtum beruhen – einem jährlich länger werdenden Irrtum. Seitdem die Männer über die Sprache herrschen, ist jedes Wort ein Irrtum. Und irren ist nicht menschlich, sondern tödlich.

Sollten sie mir mein Fenster nehmen, nehmen sie mir das Leben.
Als sie mich holten, hoffte ich, diese aufeinandergeschichteten Steine würden zumindest den Krieg aussperren. Nicht einmal das vermögen sie. Im Gegenteil. Sie werden die Mörder anlocken
der Tod ist so banal wie das Böse
massenhaft kommt er
geht wie ein Mensch ein und aus
kennt keinen Stolz
läßt es zu, das Verhungern
läßt es zu, das zu Tode spritzen
läßt es zu, das Vergasen
der Tod der anderen
wenn ich längst nicht mehr hier bin, wird das andere Sterben beginnen,
von dem keiner glauben wird, daß es mit meinem begonnen hat
in diesen Tagen, die ich nicht mehr zähle,
ausgezählt, wie ich bin
in diesen Nächten, mit denen ich spiele
spielerisch hole ich mir die Schönheit der Meere in dieses vier mal zwei Meter große Zimmer
und das von anderer Hand ausgeschaltete Licht verstärkt die Hellsichtigkeit meiner Augen...

Ich muß die Königinnen der Weltweisheit warnen!
Es wird ein Raubkrieg sein, der sogar den Frauen ihr letztes bißchen Verstand raubt!
Die Königinnen schweigen.
Alle Königinnen sind tot.



Aus: Elisabeth Reichart, Sakkorausch, Salzburg: Otto Müller Verlag, 1994