Prophet und Aussteiger -- Habakuks erbarmungslose Selbstbefragung in Edwin Kratschmers Romandebüt Habakuk oder Schatten im Kopf und Gottfried Meinholds Grenzerfahrung

Habakuk passt nicht in diese Zeit. Er stört – die Schnelllebigkeit und den Vergessensdrang. Er passte ebenso wenig in frühere Zeiten. Das ist sein Problem. Dabei lässt sich die Spur dieses Rufers zurück verfolgen bis ins Alte Testament. Schon dort klagte der Prophet Habakuk 600 v. Chr. dem Herrn: „Warum lässt du mich die Macht des Bösen erleben / und siehst der Unterdrückung zu?“

Der Habakuk des missratenen zwanzigsten Jahrhunderts rechnet nicht mehr auf den Herrn, wenn er seinem Widerpart Diktatur die Stirn bietet. Als einzige Gegenwehr bleibt ihm die schonungslose Selbstbefragung. Habakuk schlüpft in seine abgespaltenen Mitmacher- und Täter-Ichs, etwa in Franz Poll, dessen Vergangenheit als Franta Pollatschek er in Aufzeichnungen mit sich schleppt, seit sie zusammen im Irrenhaus waren.

Es entsteht ein Geflecht irritierender Erzählkunst. Erinnerungen brechen auf, damit die Frage: Wie mit ihnen umgehen? Alle sind sie verknüpft mit „Pschan“, dem Synonym für Orte der Gewalt, wo die Vrchota vergewaltigt wurde, wo Habakuk vor der Grube des Fleckfieberlagers Wache schob und einen Flüchtling erschoss, wo „199 todwunde Männer und Knaben ... mit Benzin übergossen und abgefackelt“ wurden. „Pschan“ hat zu tun mit der Schule, in der Habakuk auch Kevel unterrichtet, der später als „Kanker Kevel“ Habakuks Verhalten registriert, sein Haus observiert [...] Fensterscheiben gehen zu Bruch, anonyme Drohbriefe treffen ein, bis der Lehrer nicht mehr in die Schule geht. Es heißt, er sei geistig verwirrt. Die seelische Zersetzung wirkt. In der Anstalt reißt Habakuk „mit dem Daumennagel zum wiederholten Mal eine Linie in den laichgrünen Sockel, und er schreit auf vor Schmerz: Nicht mit ihnen reden not to say anything! Sandsplitter schieben sich zwischen Haut und Nagel, Blut sickert. Und zugleich weiß er: Wer nicht redet verschweigt auch und lässt der Lüge freien Lauf.“

„Pschan“ hat zu tun mit der Vorladung aufs „Schloss“, wo ein „Oberpriester“ den „Kampf um seine Seele“ beginnt. Habakuk erzählt dem Vernehmer, was er jedermann erzählt und weiß, bereits im Kompromiss steckt der Verrat. Erst nachdem „H.“ den Schuldienst quittiert und mit seinen Skripten ein Autodafé im Ofen angerichtet hat: „Zweitausendvierhundert Blatt. Ein Stapel vollgeschrieben in tausend Nächten ... und die Esse hat geraucht, wie auf einem Krematorium“, akzeptiert die Macht seine Nichtbereitschaft zum Spitzeldienst. An Schlüsselstellen wie dieser oder in Monologen mit F., unverkennbar Jürgen Fuchs, dessen früher Mentor Edwin Kratschmer war, trägt der Roman autobiographische Züge.

Immer wieder geraten die verschiedenen Ichs des Habakuk in furiose Streitgespräche und Zustandsanalysen, etwa wie es um „Humanitas, dies zahnlose Weib“, in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen bestellt sei. Für Habakuk mit seinen Erfahrungen aus einer fast 3000-jährigen Menschheitsgeschichte ist Demokratie noch immer nur „die Ruhephase zwischen zwei Diktaturen, in der sich die Skrupellosen neu sammeln.“

Habakuk entzieht sich dem Lesetrend, wie sich auch Edwin Kratschmer, der Autor und Herausgeber von bereits mehr als dreißig Büchern mit seinem Romandebüt im siebzigsten Lebensjahr jedem Trend entzieht. Die expressionistisch anmutenden Dialoge, Diskurse, Erinnerungen und aufgerufenen inneren Filme provozieren und verstören in ihrer Rigorosität. Doch wer sich auf sie einlässt, wird gefesselt von furiosem Tempo, unerhörter Wortgewalt und der außerordentlichen Komposition dieses packenden Bekenntnisses zur Vernunft.

Als thematische Ergänzung lässt sich Gottfried Meinholds Erzählung Die Grenze nur empfehlen. Der Jenaer Sprachwissenschaftler, der mit gesellschaftskritischen Science-Fiction-Romanen in der DDR zum Geheimtipp avancierte, der in innerer Gegenwehr „gegen das Prinzip der Begrenzung“ bis zur physischen und psychischen Erschöpfung vielfach an mehreren Manuskripten gleichzeitig arbeitete, schrieb und diktierte diese Parabel 1970 als indirekte Antwort auf die Niederschlagung des „Prager Frühlings“. Sie schildert den Versuch eines Fotografen, aus der ummauerten Welt auszubrechen, „um nicht Anklage erheben zu müssen, somit der schwer lastenden Pflicht zur Rebellion zu entgehen.“

Eine Tagesreise auf Nebenstrecken mit Bahn und Bus in ein Städtchen am Rande des Sperrgebiets lässt ihm das Land unermesslich erscheinen. Die Bewohner zeigen in scheinbar zufälligen Gesprächen verdecktes, auch lauerndes Interesse. Der Busnachbar, die Pfarrersfrau, der Landvermesser, der Lehrer, der Arzt, jeder weiß, der Zugereiste sucht wie alle vor ihm nach einem Weg, nach hilfreichen Hinweisen. „- Wo Sie doch wissen, dass man hier anständigerweise nicht von der Grenze spricht... Ich möchte nicht unbedingt derjenige sein, der Sie belehrt. Aber Sie laufen natürlich Gefahr, dass das ganz andere Leute tun – dazu berufene, möchte ich sagen, wenn Sie nicht Vorsicht üben.“ Es ist eine Stadt der Verstellung, der subtilen gegenseitigen Überwachung, des Katz-mit-der-Maus-Spiels, solange seine Fluchtvorbereitungen nur im Kopf stattfinden.

Aus dieser bis in die Sprache hinein kafkaesken Welt scheint es kein Entrinnen zu geben und zugleich führt die orwellsche Atmosphäre den Mann in eine seelische Grenzsituation. Je mehr er sich der Grenze nähert, um so unüberwindlicher wird sie für ihn. Er offenbart sich der Gehilfin des Landvermessers, die auf Bewährung im Sperrgebiet arbeitet. Sie vermutet in ihm zunächst einen „Mentor“, der sie prüfen solle, gesteht dann selbst ihre geheime Mitarbeiterschaft – als Bedingung für ihre vorzeitige Haftentlassung. Nach Mitternacht steht sie in der Zimmertür seines Quartiers, bietet an, gemeinsam zu gehen, andernfalls müsste sie Bericht erstatten, oder ihre Bewährung wäre verspielt [...]

Eine kundige Begleiterin, ein Schneesturm, bessere Karten, den Todesstreifen zu überwinden, bekommt er nicht wieder. Doch unvermittelt verweigert sich sein Körper der Grenzüberschreitung. So entgeht er der Tragödie, die sie trifft. Doch der Preis wird ein hoher.

Das Verdienst, diese in ihrer subtilen Dramatik knisternde und in der DDR einst unveröffentlichbare Erzählung in die Reihe „Gerettete Texte“ aufgenommen zu haben, gebührt dem Herausgeber Edwin Kratschmer. Sie ist ein außerordentlich eindrucksvolles literarisches Zeitzeugnis jenes „Alptraum von einer verwalteten Gesellschaft, von einem überwachten Leben in Ohnmacht“.

Udo Scheer


Gottfried Meinhold, Die Grenze, Erzählung, Verlag VDG Weimar 2001.
Edwin Kratschmer, Habakuk oder Schatten im Kopf, Roman, Verlag VDG Weimar 2001, 224 S.