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Arbeit am Pulsschlag der Geschichte -- Zu Alexander Kluges Chronik der Gefühle
Christian Schulte

Eindrucksvoller hätte das Comeback des Schriftstellers Alexander Kluge kaum sein können. Denn die erste literarische Veröffentlichung nach dreiundzwanzig Jahren, in denen der Autor seine Arbeitskraft den Medien Film und Fernsehen sowie den theoretischen Gemeinschaftsarbeiten mit Oskar Negt widmete, ist zugleich die vorläufige Summe seines literarischen Lebenswerks. Darunter ist indessen keine bloße Kompilation der älteren – und längst vergriffenen – Bücher (von den Lebensläufen [1962] bis zu den Neuen Geschichten [1977]) zu verstehen; die Hälfte der 2000seitigen Chronik der Gefühle besteht aus neuem Material, aus Erzählungen, von denen die meisten in den neunziger Jahren entstanden sind. In jenem Zeitraum also, in dem Kluge bereits wöchentlich mehrere Beiträge, faszinierende Interviews und experimentelle Film-Miniaturen, für seine TV-Magazine 10 vor 11, News & Stories, Primetime/Spätausgabe produzierte. So sehr einen solche Produktivität in Erstaunen versetzt, so bemerkenswert erscheint die Beobachtung, wie zwanglos sich die alten und die neuen Texte ergänzen und zu einer neuen Einheit fügen. Einer Einheit allerdings im Sinne eines work in progress, einer Baustelle, an der permanent gearbeitet wurde und deren zweibändiges Resultat diesen Prozeß keineswegs vergessen macht. Denn Kluge bedient sich offener Montageformen, deren Schnitte und Kontraste den Leser herausfordern, weil sie ihn ernstnehmen: "Was Menschen brauchen in ihren Lebensläufen", heißt es im Vorwort, "ist ORIENTIERUNG. So wie Schiffe navigieren. Das ist die Funktion eines so umfangreichen Buches: daß einer vergleicht, sich abstößt oder sich anziehen läßt, weil ein Buch wie ein Spiegel funktioniert. Niemand wird so viele Seiten auf einen Schlag lesen. Es genügt, wenn er, wie bei einem Kalender oder eben einer CHRONIK, nachprüft, was ihn betrifft." Tatsächlich entspricht dem Buch solch eine selbständige Rezeptionsform; man soll auf diesen Seiten flanieren, bei einem der vielen Bilder verweilen oder sich, von einem kuriosen Titel angelockt, in eine Geschichte hineinziehen lassen. Flanieren kann man bereits in den üppigen Inhaltsverzeichnissen, die jedes der zwölf Kapitel einleiten und wie Stichwortgeber eine erste Orientierung innerhalb der Masse von rund 800 Geschichten ermöglichen. Daß die Plazierung der Texte dabei keinem rigiden Ordnungsprinzip folgt, zeigen Kapitelüberschriften wie "Der Eigentümer und seine Zeit", "Verfallserscheinungen der Macht", "Verwilderte Selbstbehauptung" und "Wie kann ich mich schützen? Was hält freiwillige Taten zusammen". Sie fokussieren vielmehr thematische Zusammenhänge, die nicht unter "Oberbegriffe" subsumiert werden, sondern untereinander anschlußfähig bleiben. Diese prinzipielle Offenheit läßt sich schon beim bloßen Durchblättern an der Faktur der Texte beobachten, die sich niemals als hermetische Bleiwüste präsentiert, sondern oft innerhalb einer einzigen Erzählung die verschiedensten Textsorten zu einer locker gewebten, ebenso fragmentarischen wie komplexen Struktur zusammenführt, zu einem Netz multipler Sprechweisen und Tonlagen, bestehend aus: Motti, Zitaten, auktorialen Passagen, Dialogsequenzen, Aphorismen, Anekdoten, Fußnoten, Literaturhinweisen, Exkursen, Bildlegenden ect. Man fühlt sich an den Titel von Kluges letztem Kinofilm Vermischte Nachrichten erinnert und ahnt, daß der Autor seinem Idol der fait divers bis in die Form hinein die Treue hält. Und spätestens, wenn Kluge seine Chronik als "Eröffnungsbilanz des 21. Jahrhunderts" charakterisiert, weiß man, was es mit dieser Vielfalt auf sich hat.

Es geht um das Einsammeln der Erfahrungsmasse des 20. Jahrhunderts, um den Versuch, seine Chiffren zu lesen. Nichts Einfaches also, aber der Zeitpunkt für dieses Projekt ist denkbar gut gewählt. Und in diesem Zusammenhang ist es nur konsequent, auch die älteren Arbeiten dieser Versuchsanordnung zu integrieren. Denn Bilanzierungsversuche sind Kluges Texte von Anfang an.

Erinnern wir uns: Bereits die Geschichten aus dem ersten Prosaband Lebensläufe von 1962 kreisen um die "Frage nach der Tradition", um die Bruchstellen und noch offenen Wunden, die die jüngere deutsche Geschichte, der Faschismus, in die Lebensläufe einzelner Menschen hineingerissen hatte. Kluge (re-)konstruiert hier Schicksale, die sich – so oder ähnlich – tatsächlich zugetragen haben oder sich aber hätten ereignen können, und die gemeinsam, wie der Autor im Vorwort hinzufügt, "eine traurige Geschichte" ergeben. Die Geschichte der Anita G. etwa, die den Stoff für seinen ersten Langfilm "Abschied von gestern" lieferte, begegnete ihm im Rahmen seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt. Sie beginnt mit den Sätzen: "Das Mädchen Anita G. sah, unter dem Treppenaufbau hockend, die Stiefel, als ihre Großeltern abgeholt wurden. Nach der Kapitulation kamen die Eltern aus Theresienstadt zurück, was keiner geglaubt hätte, und gründeten Fabriken in der Nähe von Leipzig. Das Mädchen besuchte die Schule, glaubte an eine ruhige Weiterentwicklung. Plötzlich bekam sie Angst und floh in die Westzonen." Die Geschichte, die Kluge erzählt, ist die Geschichte dieser Flucht: Anita G. begeht Diebstähle, wird gefaßt, kommt ins Gefängnis, gerät in die Fänge einer übermotivierten Bewährungshelferin, flieht erneut, wird schwanger und geht schließlich, weil sie nicht weiß, wo sie ihr Kind zur Welt bringen soll, freiwillig ins Gefängnis. Über die genauen Motive, die ihrem unsteten Vagabundieren zugrundeliegen, erfahren wir nicht mehr, als uns die ersten Sätze mitteilen – und auch der Erzähler scheint nicht mehr zu wissen, denn auch die Fragen, die er in den Text einfließen läßt, bleiben unbeantwortet: "Weshalb ordnet dieser intelligente Mensch nicht seine Angelegenheiten befriedigend? (...) Warum stellt sie sich nicht auf den Boden der Tatsachen? Will sie nicht?" Auch im Film läßt Kluge Anita auf die Frage des Richters, warum sie gestohlen habe, nur lapidar antworten: "Es war ganz gefühlsmäßig." Die so entstehende Beunruhigung über das rätselhafte Verhalten der jungen Frau lenkt den Blick immer wieder auf den Ausgangspunkt der Geschichte zurück, auf die – wie in einem lakonischen Stenogramm festgehaltene – Beobachtung der Deportation der Großeltern, die sich erst im Fortgang der Geschichte (ihrer Geschichte) als Trauma und Schock erweist. Damit etabliert Kluge schon in den "Lebensläufen" ein strukturelles Muster seiner Erzählkunst: Individuelle menschliche Verhaltensweisen werden auf frühe geschichtliche Wurzeln zurückgeführt, auf Anfangsgründe, die, wie der Faschismus, wiederum selbst eine ebenso lange wie komplexe Vorgeschichte haben. Nicht um Kausalerklärungen geht es dieser Literatur, sondern um Konstellationen, um Zusammenhänge zwischen den subjektiven Gefühlslandschaften, die als individuelle Glückssuche in jedem Lebenslauf eine andere Gestalt annehmen, und der harten geschichtlichen Faktizität, an der sich die menschlichen Motive abarbeiten müssen, wenn sie nicht vor ihr kapitulieren wollen. Über die Beschaffenheit dieses Verhältnisses von Innen und Außen, von Wärme- und Kältestrom, macht sich Kluge, der einzige Erzähler der Kritischen Theorie, freilich keine Illusionen. Daß die Gefühle (die Wünsche, die Phantasie), die sich in langen Zeiträumen entwickeln, vom Tempo der geschichtlichen Zeit in aller Regel überholt und zugerichtet werden, diese Diagnose gehört zum festen Inventar seines Erzählens. Von Ausnahmen abgesehen gehen seine Geschichten denn auch eher ungünstig aus, beschreiben sie "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang". Wenn glückliche Momente in der Geschichte die Ausnahme bilden, dann, so Kluge im Anschluß an Adorno, wäre es unverantwortlich, Glück auf der Ebene der Kunst – so sehr diese sich auch als Protest zu definieren vermag – zu fingieren. Es wartet gewissermaßen als Anspruch jenseits bzw. in den Zwischenräumen der Texte, also dort, wo die eigentätige Glückssuche als Einspruch des Lesers einsetzen kann (und soll). Aus diesem Grunde erzählt Kluge seine Gegen-Geschichten in einer elliptisch-sprunghaften Form, die noch die disparatesten Materialien zueinander in Beziehung setzt. Immer wieder entstehen so unerwartete Perspektivenwechsel, die darauf zielen, Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft von Lesern zu sensibilisieren. Der Stalingrad-Roman Schlachtbeschreibung, den Kluge für die Chronik der Gefühle einmal mehr überarbeitet und um neue Erzählsegmente ergänzt hat, zerfällt vollends in eine polyphone Struktur verschiedenster Tonlagen, in der jede Spur einer kohärenten Erzählerposition getilgt ist. Aus realen und erfundenen Dokumenten, fragmentarischen Momentaufnahmen und Kommentaren wird Stalingrad als ein multiperspektivischer und ungleichzeitiger Geschehenszusammenhang rekonstruiert, dessen Ursachen, je nach Standpunkt, entweder "72 Tage oder 800 Jahre" zurückliegen. Wie in "Anita G." wird auch hier die Frage aufgeworfen, wie es zu der Katastrophe kommen konnte: "Was ist das für eine Vernunft (...), die die Leute davon abhält, in einer solchen Situation einfach auseinanderzulaufen?" Kluges Antwort unterläuft die kalte Logistik von Befehl und Gehorsam, indem er den subjektiven Faktor, den "Kern der Wünsche" ins Spiel bringt: Es ist weniger die Vernunft, sondern "vielmehr sind es Arbeitskraft, Hoffnungen, Vertrauen, der unabweisbare Wille, in der Nähe des Realitätssinns zu bleiben – einmal durch die Mangel von 800 Jahren Vorgeschichte gedreht –, vor allem: in Gesellschaft zu verharren, der die 300000 Mann auf die Märsche in die Steppen Südrußlands führt, in eine Weltgegend, an ein Flußufer, an dem keiner dieser Menschen irgend etwas zu suchen hatte. Dies ist organisatorischer Aufbau eines Unglücks. Es baut sich quasi fabrikmäßig, in den Formen der Staatsanstalt auf; die menschlichen Reaktionen darauf bleiben privat. Sie addieren sich nicht fabrikmäßig."

Daß die menschlichen Wünsche und Gefühle in den geschichtlich gewordenen Tatsachen und den Organisationsprinzipien der Ratio nicht aufgehen (und wenn, dann nur zu einem Teil, verdreht, sich selbst entfremdet) von dieser grundsätzlichen Nicht-Identität erzählen alle Geschichten Kluges. Die Chronik der Gefühle ist daher alles andere als eine traditionelle Chronik der laufenden Ereignisse, dazu liegt ihr Akzent zu sehr im subjektiven Innenverhältnis. Wenn man allein die Anordnung von alten und neuen Texten betrachtet, hat man schnell den Eindruck, Kluges Chronik erzähle eher rückwärts, gegen den Strich der eigenen Werkgeschichte. Enthält der erste Band, mit Ausnahme der Schlachtbeschreibung", ausschließlich neue Arbeiten, so sind die älteren Textsammlungen – beginnend mit den Neuen Geschichten, jetzt unter dem Titel "Unheimlichkeit der Zeit" – im zweiten Band zusammengeführt. Ein Kommentar zur Zeitgeschichte also in umgekehrter Chronologie, weil so, betont Kluge, auch die Erinnerung funktioniere. In diesem Formbewußtsein reflektiert sich ein Geschichtsdenken, das sich in mancher Hinsicht auf Walter Benjamin berufen kann – und dies auch tut: In einer Fußnote zur "Erzählung von Gilgamesch" wird beschrieben, wie Heiner Müller den Geschichtsbegriff des jüdischen Philosophen weiterdenkt: "Historisches Bewußtsein, hatte er bei Walter Benjamin gelesen, konstruiert die Geschichte von den Enkeln nach rückwärts. Mit Vergangenheit, sagt Müller (...), hat Geschichtsbewußtsein eigentlich gar nichts zu tun. Es ist ganz gleich, was wirklich geschah. Einen Moment lang hielt er es sogar für möglich (...), daß man verunglückte Geschichtsperioden (wenigstens einzelne Tage oder entscheidende Stunden) nachträglich ändern könnte. Wenn man es sich nur stark genug wünscht." Es ist diese intensive Art des Wünschens, die den geschichtlichen Tatsachen in unterschiedlichen Dosen Phantasie injiziert; am nachhaltigsten gewiß in dem Kapitel "Heidegger auf der Krim", das einen Frontaufenthalt des Freiburger Philosophen im Jahre 1941 beschreibt, den der reale Heidegger nie erleben mußte, oder in der rein gesponnenen Meditation über "Adornos irdisches Ende", in der geschildert wird, wie der Kopf der Kritischen Theorie nach seinem Tod den Parnaß betritt und alles anders vorfindet als erwartet. Derart imaginativ aufgeladene Geschichten, die den Gang der wirklichen Ereignisse überraschend unterbrechen oder umlenken, stets aber um neue, oft grotesk-komische Perspektiven anreichern, ziehen sich durch das ganze Buch. Als würde sie spontanen Impulsen folgen, verläuft auch Kluges Reise durch die Verwerfungen der Geschichte diskontinuierlich: vom Ausbruch der Gewerbefreiheit in den neuen Bundesländern nach der Wende 1989 navigiert sie zwischen den Krisenjahren des 20. Jahrhunderts hin und her, zwischen den Weltkriegen und Tschernobyl, der Protestbewegung 1968 und dem Börsensturz am Schwarzen Freitag 1929, dem Kalten Krieg und – in größerer Brennweite – der Vorgeschichte des Jahrhunderts, die mal bei den Napoleonischen Kriegen , mal bei den Prätorianern des Kaisers Tiberius festgemacht wird. In immer wieder neuen Anläufen werden kollektive Katastrophen und individuelle Schicksalsschläge, die ganze Lebensläufe und Epochen besiegelten, in den Blick genommen und rekonstruiert – stets jedoch im Licht der Frage: Was hätte man tun müssen, um der Katastrophe zuvorzukommen? Und: Wann wäre der rechte Zeitpunkt dafür gewesen? So schildert Kluge z.B. die Situation unmittelbar vor der Ermordung Rosa Luxemburgs im Januar 1919 unter dem Gesichtspunkt einer unterlassenen Hilfeleistung: Reichskanzler a.D. Fürst Bülow bereitet sich im Berliner Hotel Eden auf einen Opernbesuch vor, während in einem anderen Stockwerk des Hotels Rosa Luxemburg – eine Stunde vor ihrer Ermordung – verhört wird. Über seine Zofe und seine Frau erfährt Bülow von dem Verhör, er hat eine Viertelstunde Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. "Es geht um die Wahl zwischen zwei Situationen: Greift er ein, indem er eine Nachricht zum Stab hinunterschickt, so wird eine solche Intervention, wie indirekt auch immer sie erfolgt, bekannt. Es ist Gesprächsstoff und exponiert ihn. Vergißt er dagegen den Hinweis der Zofe, so wird niemand von seinem Wissen erfahren. Er exponiert sich allenfalls gegenüber seiner Frau und der Zofe, mit deren Verschwiegenheit er rechnet." Aus Furcht vor politischer Kompromittierung und weil er pünktlich in der Oper erscheinen will, verzichtet Bülow auf die rettende Geste. Diese Geschichte mit dem Titel: "Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit" handelt vom Kairos, sie fokussiert jenen Augenblick, in dem ein guter Wille, eine entschiedene Haltung noch etwas hätten bewirken können, und sie endet mit einer Bilanzierung, die auch für unsere Gegenwart eine eher ungünstige Wahrscheinlichkeitsrechnung aufmacht. Eine Fußnote resümiert eine in der Welt am Sonntag vorgenommene "Betrachtung des Charakters aller deutschen Reichs- und Bundeskanzler": "Von zwanzig Kanzlern werden fünf als mutig und nur vier als charakterlich ausgeglichen bezeichnet."

Derart ausbalancierte Charaktere begegnen in der Chronik der Gefühle freilich auch. Ihr Erkennungszeichen sind selbstlose, "freiwillige Taten". Beispiele solcher Selbstvergessenheit sind auf einigen Bildern festgehalten, deren Kommentare sich wie eine Antwort auf die Feigheit Bülows lesen. Auf einem sind ein Mann und ein Junge in einem Auto zu sehen, das Kind zeigt dem Älteren den Weg. Neben dem Bild steht folgender Text: "Ein halbes Jahr lang fuhr der blinde Mirko Wischke in der Zeit der Arbeitslosigkeit seinen Lastwagen mit Hilfe seines Sohnes. Das Vertrauen, das beide verbindet, kann man Liebe nennen." Liebe in diesem Verständnis entstünde erst durch vertrauensbildende Maßnahmen, durch freiwillige, vom Tauschzwang befreite Beziehungsarbeit ohne die Gewähr einer Erwiderung. Gewiß sind Handlungen, die ausschließlich um eines anderen willen geschehen, nur seltenen Glücksmomenten vorbehalten. Aber in jeder einzelnen erneuert sich ein Vermögen, das Kluge fest in der Evolution verankert sieht und dem das letzte Kapitel des Buches gewidmet ist: "Der lange Marsch des Urvertrauens". Es enthält "Skizzen zu Zeiträumen, die länger dauern als ein Lebenslauf: die Sterne, Äonen, Generationen." Und weiter heißt es: "Wir, die wir übrig sind aus den Vorzeiten, tragen etwas in uns, ohne das wir nicht überlebt hätten: DAS URVERTRAUEN. Jedes Lebewesen erhält davon seinen Anteil bei der Geburt." Die Geschichte der Gefühle wird hier in den denkbar weistesten Horizont gerückt, gewissermaßen in die Makroperspektive. Wie ein Zeitraffer blättert die "Äonen-Chronik des Mönchs Andrej Bitow" durch zwanzig Milliarden Jahre Erdgeschichte, von den Ur-Ozeanen, in deren Energie Materie und Antimaterie koexistieren, bis zur ersten Weltgeschichte in vierzehn Bänden im Jahre 3 nach Christus. Alle Zeiten, alle Metamorphosen des Gefühls, läßt Kluge seinen Chronisten sagen, sind bereits im Anfang als Potential enthalten: "Wo unser Universum diesen Ozean berührt, entsteht Materie. In jedem Moment neu." Der für Kluge zentrale Topos von der Wiederauferstehung der Toten, die nicht in der Zukunft liege, sondern "zu einem jeglichen Zeitpunkt" stattfinde, hat genau hier seinen Ort. Es handelt sich dabei um die in den Gefühlen wirkenden selbstregulativen Kräfte, die über Generationen und Jahrhunderte hinweg weitergegeben werden, um die Kraftreserve, den Wärmepol und die Grundorientierung unseres Erinnerungsvermögens. Als Schüler Adornos und anknüpfend an die skeptische Schule Montaignes ist Kluge allerdings nicht optimistisch genug, um aus dieser Grundannahme ein "Prinzip Hoffnung" abzuleiten, dazu waren die Erschütterungen durch die geschichtlichen Katastrophen allein des 20. Jahrhunderts, durch Verdun, Stalingrad und Auschwitz, zu nachhaltig. Kluge interessiert sich vielmehr für den subjektiven Unterstrom der Geschichte, dafür, daß es Menschen immer wieder vermocht haben, gegen alle Enttäuschungen und gewissermaßen aus einem Notwehrimpuls heraus, Auswege zu finden und auf kalte gesellschaftliche Verhältnisse mit neuen Hoffnungshorizonten zu antworten. Das Urvertrauen begegnet daher in diesem Kapitel in verschiedenen Gestalten: als Beharrlichkeit etwa in der großartigen Erzählung "Abbau eines Verbrechens durch Kooperation", in der ein erschlagener Jugoslawe durch ausdauernde Zuwendung von einer Prostituierten und deren Zuhälter, die sich weigern, an den Mord zu glauben, schrittweise wieder ins Leben zurückgeholt wird: "Ingrid 'bespricht' ihn täglich 4 - 5 Stunden, ohne Rücksicht auf den Sinn der Worte"; aber auch als Arglosigkeit in der beklemmenden Geschichte über einen Elefanten, der 1904 durch Stromschlag – "auf dem elektrischen Stuhl in Coney Island" – hingerichtet wurde, weil er drei Wärter umgebracht hatte. Der Erzähler, ein Kabelträger von Edwin S. Porter, der die Exekution gefilmt hat, wundert sich weniger darüber, daß die Tötung des Tieres als öffentliche Attraktion inszeniert wurde (die Zuschauer mußten Tickets lösen), was ihn beunruhigt, ist vielmehr: "wie der Elefant sich von den Wärtern ruhig auf den Vorplatz führen läßt, er, der sich losreißen und jedes Hindernis hätte niedertrampeln können." Dieser Text praktiziert jenes "Eingedenken der Natur im Subjekt", von dem in der "Dialektik der Aufklärung" die Rede ist, er leistet Tauerarbeit, weil sich das Vertrauen des Elefanten als tödlicher Irrtum erweist. "In solche Not kann nicht die Natur bringen", heißt es in der Schlachtbeschreibung. Menschen, so wäre zu ergänzen, aber können solche Not hervorbringen, weil sie alles, wozu sie imstande sind, auch tatsächlich tun. In diesem Hang zu Steigerung und Abstraktion, der im 20. Jahrhundert im Gaskrieg, in Auschwitz, in den Luftangriffen und in Tschernobyl kulminiert, erkennt Kluge ein fatales Prinzip der Geschichte: die von Menschen geschaffenen Dinge organisieren sich gewissermaßen selbsttätig und schlagen in "überholender Kausalität" gegen ihre Urheber zurück. Kluge begreift daher die Realität als einen vielfach übereinandergeschriebenen Geschichts-Text, der die ursprünglichen Motive, die subjektive Zuarbeit konkreter Menschen mehr und mehr überlagert hat, so daß er dem Einzelnen in babylonischer Fremdheit, als "Hochbau der Abstraktion" wie ein Schicksal gegenübertritt. Die sich selbst fremd gewordenen Motive, die Gefühle navigieren in diesem Meer arbiträrer Zeichen, in den modischen Konjunkturen der "Oberbegriffe" und Wertabstraktionen blind umher. Kluges Erzählkunst zielt daher zuallererst darauf, den Text des Realen auf seine menschlichen Wurzeln zurückzuübersetzen und so die in ihm verborgenen subkutanen Gefühlslandschaften wieder freizulegen. Erzählen ist bei Kluge zunächst eine Form der Lektüre, allerdings einer operativen Lektüre à rebours, die das aufgehäufte Geschichtsmaterial so lange kombiniert und in neue experimentelle Beziehungen rückt, bis es als Erfahrungsrohstoff erneut angeeignet werden kann.

Dies läßt sich vielleicht am besten an Kluges obsessiver Beschäftigung mit der Oper beobachten, die eine Art gravitatives Zentrum innerhalb des Buches, aber auch seines gesamten Werkes bildet. Hier sind es die hochgezüchteten Leidenschaften, die Exaltationen der bürgerlichen Gesellschaft, deren tragische Opferlogik Kluge mit kritischen Gegenentwürfen beantwortet. Es sind Vorschläge zur "Abrüstung des tragischen Geschehens", die Kluge sein alter ego, Xaver Holtzmann, Verfasser eines "Imaginären Opernführers", vortragen läßt. Holtzmann interessiert sich weniger für den Bestand der vorhandenen Musiktheater-Werke, sondern vor allem für die opernfähigen Stoffe, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, die aber nicht vertont wurden. Es geht um Möglichkeits-Opern, die "zur Wiedergabe des Erfahrungsgehalts unserer Zeit" geeignet sind. Hierfür fehlen nach Ansicht Holtzmanns "etwa siebenhundert" Opern, also beinahe ebensoviele, wie die "Chronik der Gefühle" an Geschichten enthält. Die Holtzmann-Geschichte ist insofern eine Art Schlüsseltext, denn indirekt fordert sie den Leser auf, die Erzählungen des Buches einmal probehalber als Entwürfe zu einer anderen, entdramatisierten Oper zu lesen. Eine solche wunschorientierte "Abrüstung" nimmt Kluge z.B. in "Kommentar zu Anna Karenina" vor, indem er Tolstois Roman auf eine Seite zusammenkürzt und das tragische Ende der Anna Karenina unerwartet korrigiert. Aber auch zahlreiche Opern werden in dieser Weise bearbeitet. So fordert Xaver Holtzmann siebenundachtzig Opern an, um allein den Stoff der Tosca in eine zeitgemäße Form zu bringen; diese habe sich daran zu orientieren, wie viele Polizeichefs es gebe in der Welt. Daß Kluge diesen Gedanken ernst meint, wird wenige Seiten später deutlich, wenn unter dem Titel "Scarpia als Männerkörper" der Tosca-Stoff in acht Variationen zerlegt und hintereinander durchgespielt wird. Die Oper, das "Kraftwerk der Gefühle", zu fragmentieren und an die zeitgeschichtliche Erfahrungswelt zurückzubinden, das heißt für Kluge, die Leidenschaft vom Kopf auf die Füße stellen. Kluges Projekt richtet sich gegen den Tempel der Hochkultur, das Opernhaus, das sich hermetisch nach außen hin abschottet, während es innen die kultische Aura des Gesamtkunstwerks zelebriert. Seine Versuche über die Oper gehen durchweg der Frage nach, wie im 20. Jahrhundert sich Authentizität in der Kunst herstellen lasse. In "Zwischenmusik für Große Gesangsmaschinen" wird ein geplantes Projekt, ein Tableau von Heiner Müller und Luigi Nono für "König Lear" beschrieben, in dem nicht die Musik im Vordergrund steht, sondern vielmehr "die Parade der technischen Laute und Geräusche, die das gewalttätige Singen begleitet, wenn es sich zu äußerster Anstrengung konzentriert." Authentisch wäre diese Auführung, weil sie, mit speziell angebrachten Mikrophonen und einer Kamera, neben der künstlerischen Leistung auch die körperlichen Begleitumstände ihres Gelingens in Bild und Ton festhalten würde: das schmatzende Geräusch, wenn der hohe Sopran in die Windel macht oder den Kampf der Sängerin der Isolde mit einem Hustenreiz. Was eine traditionelle, nach Perfektion strebende Inszenierung unterdrücken würde, käme in der "Zwischenmusik" voll zum Ausdruck, daß die "Gesangsmaschinen" nämlich Menschen sind, deren Kunst nicht ohne einen physischen Preis zu haben ist. Sind es hier die extrem geforderten menschlichen Körper, die sich in die Musik einschreiben, so trifft in den folgenden Erzählungen die Musik auf den Ernstfall der Geschichte, der – wie ein Autor – in die Gestalt der Werke eingreift. "Lohengrin in Leningrad" rekapituliert die Premiere der Wagner-Oper am 22. Juni 1941, also ausgerechnet an dem Tag, an dem die deutschen Truppen in die Sowjetunion einmarschieren. Auch hier interessiert sich Kluge weniger dafür, daß die Oper schließlich gespielt wird, als für den Prozeß, der zu dieser Entscheidung führt, und für die Art und Weise, in der sich die sowjetische Seite zu diesem prekären Zeitpunkt Wagner aneignen kann: "Im Parterre waren sieben Sprecher verteilt. Sie trugen Megaphone. An je einem Pult mit Glühbirnen stehend, lasen sie Wagners Texte und Regieanweisungen in russischer Sprache synchron zum Musikgeschehen vor. (...) Die Sprecher hatten Anweisung, laut zu flüstern." Der durch diese Dekonstruktion Wagners entstehende "Raum zwischen Aggression und Kunst" findet sich auch in der – Heiner Müller gewidmeten – Komplementärgeschichte "Die Götterdämmerung in Wien". Im März 1945 befiehlt Baldur von Schirach in aussichtsloser Lage (die Stadt ist von sowjetischen Truppen umstellt) eine letzte Aufführung der Götterdämmerung. Sie soll "eine letzte Botschaft des kämpfenden Reichs darstellen." Da die Oper ausgebrannt ist, verteilt sich das Orchester, nur durch Feldtelefone verbunden, auf verschiedene Luftschutzkeller. Mit zahlreichen Notbehelfen gelingt es, inmitten des Kampfgeschehens einzelne Teile des Werks durchzuspielen und filmisch zu dokumentieren. Die Filmfragmente fallen einem georgischen Oberst in die Hände, der sie nach Sotschi bringen läßt, wo sie bis 1991 in einem Museumskeller liegen bleiben. Dann werden sie von einem Beauftragten Luigi Nonos entdeckt, entwickelt und in Paris vorgeführt. Was hier, nach einem halben Jahrhundert, zu sehen und zu hören ist, wird in der nachfolgenden "Bildbeschreibung" auf den Begriff gebracht: "die Wiedererstehung der Musik aus dem Geiste der Zeitgeschichte. Die Räume sind die Nachricht." Räume zu schaffen, in denen die Musik – und Kunst überhaupt – zu einem authentischen Zeugnis der Geschichte wird, ist eines der ältesten Anliegen Kluges. Seine Überzeugung, daß z.B. Wagner für das 20. Jahrhundert nur gerettet werden kann, wenn man sein Werk durch den Ernstfall hindurchgehen läßt, führt Kluge fast zwangsläufig an die Nahtstelle von Fiktion und Dokument, von Wünschen und Fakten. Jeder dieser antagonistischen Pole für sich bliebe aber abstrakt, erst ihre Konstellation schafft Raum für soziologische Phantasie, für "Mischformen" aus subjektiver Gefühls- und objektiver Tatsachenwelt. Die durch Artillerieeinschläge fragmentierte Musik ist gewissermaßen das emotionale Nadelöhr, durch das hindurch eine als bedrohlich und kalt erfahrene Realität überhaupt im menschlichen Inneren ankommt. Insofern handelt es sich bei Kluge immer auch umgekehrt um die Aneignung der Zeitgeschichte aus dem Geist der Musik. Wie dies zu verstehen sei, hat er einmal so formuliert: "Ohne daß ich einen neuen Namen dafür wüßte, liegt mir daran, die Instanz, die im 20. Jahrhundert die Fiktionen erstellt, das heißt die Zeitgeschichte, heranzuziehen, sie zu dokumentieren und diese Dokumente durch Musik wieder subjektiv zu beleben und zu magnetisieren. Nachrichten und Zeitgeschichte sind nicht bloß sachlich." Kluges Wiederbelebungsversuche am toten Geschichtsprodukt zeichnen sich vor allem durch eines aus: die Beharrlichkeit im Unglauben ans Wahrscheinliche und die Lust an der Annahme des Gegenteils. Mit Robert Musil, einem der zahlreichen authentischen Helden der Chronik der Gefühle, teilt Kluge die Überzeugung, daß das geschichtliche Reale angefüllt ist mit "Möglichkeitssinn", der gewissermaßen unter der Haut der gewordenen Dinge darauf wartet, entdeckt zu werden. Kunst im Sinne von Kluge wäre es, nach diesen versteckten Optionen, nach Auswegen, mit der Aufmerksamkeit eines Seismographen zu fahnden. Sie zu finden freilich wäre Glück. "Eigentum ist das Glück, im Menschenleben einmal einen solchen Schatz zu finden."