glossen: article
Das Subjektive ist die Form, der Inhalt das Unterscheidungsvermögen.
Zu Alexander Kluges Chronik der Gefühle

Rainer Stollmann

Person und Werk

Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, Studium in Marburg, juristische Dissertation Die Universitäts-Selbstverwaltung (1958), Justiziar des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. 1959 sieht er Godards A bout de souffle und "wußte, daß ich Filme machen wollte". Das von Adorno vermittelte Volontariat bei Fritz Lang, der seinen letzten Film Das indische Grabmal abdreht, ist eine Enttäuschung, denn Lang ist nicht Herr des Films, sondern fest im Griff der Produktionsfirma. Kluge schreibt daraufhin in der Kantine der Filmstudios seinen ersten Erzählungsband Lebensläufe. Anwesenheitsliste für eine Beerdigung (1962). Damit wird er schlagartig bekannt. Besonders die vierseitige Geschichte Ein Liebesversuch [1], inzwischen in Schulbüchern enthalten, ist von starker Wirkung. 1943 planten die Nazis Experimente mit Röntgenbestrahlung, um Massensterilisationen durchzuführen. Um deren Nachhaltigkeit zu prüfen, wird ein deutsch-jüdisches Liebespaar im KZ zusammengebracht und soll zum Beischlaf veranlaßt werden. Alle Bemühungen scheitern, die Gefangenen weigern sich oder sind zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Bedingungen zur Liebe unfähig. Sie werden umgebracht, aber die Nazis haben ihr Ziel nicht erreicht. Das Motiv ließe sich bezeichnen als "Romeo und Julia im KZ". Die Erzählung ist deshalb so bemerkenswert, weil sie im Zentrum des Terrors spielt und sich trotzdem von der "eigenen Ohnmacht und der Macht der anderen" nicht "dumm machen" läßt (Adorno). Die schon in den 30er und 40er Jahren unter deutschen Emigranten begonnene Diskussion über die "Darstellbarkeit des Faschismus" (Ernst Bloch) hatte diesen Punkt hervorgehoben: Wie kann man die Schrecken und Greuel des Faschismus darstellen, ohne gleichzeitig seinen Bann, seine scheinbar totale Macht zu verlängern? Wie dies möglich ist, nämlich der Härte der Verhältnisse nicht auszuweichen und trotzdem Ohnmacht und Fatalismus zu vermeiden, davon zeugt Ein Liebesversuch wie kaum ein zweites Beispiel in der deutschen Literatur.

1962 organisiert Kluge mit zwei Dutzend anderen jungen Regisseuren das Oberhausener Manifest, in dem ein neues Kino proklamiert wird, das mit den Erfahrungen der Menschen zu tun hat. Hier datiert die Geburtsstunde des Neuen Deutschen Films, eine bis Mitte der 80er Jahre anhaltende Glanzzeit, die nur dem expressionistischen Film der zwanziger Jahre vergleichbar ist. Kluge spielt in dieser cineastischen Bewegung zwei Rollen, einerseits die des praktischen Organisators, der sich um Kooperation mit dem Fernsehen und um die Reform von Filmgesetzen und Filmförderung bemüht, die Einrichtung der Filmabteilung an der Ulmer Hochschule zustande bringt und die auseinanderstrebenden einzelnen Regisseure zusammenhält, die als Künstler oft gegen jede Art von Organisation allergisch sind. Kluge weiß von allen Autorenfilmern am besten, dass auf Dauer einzelne allein keine Ändereung der Filmöffentlichkeit bewirken können, sondern dass Produzenten, Autorenfilmer, Verleih, Kinos und Publikum eine Zusammenhang bilden, an dem insgesamt gearbeitet werden muss.

Andererseits, in seiner Rolle als Filmregisseur, geht Kluge keine Kompromisse ein.
(Venedig, Cannes, Berlin) und öffnet eine Tür für den deutschen Film in Europa. Man kann nun sehen, daß es in Deutschland wieder interessante Filme gibt. Bis 1985 entstehen 14 lange Filme, oft ausgezeichnet, die bekanntesten Titel heute sind vielleicht Die Patriotin (1979) und Die Macht der Gefühle (1983); in den siebziger Jahren waren es Gelegenheitsarbeit einer Sklavin (1973) oder In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (1974).

1985 ist es eine der ersten Handlungen der Regierung Kohl, die Gesetze zur Filmförderung zu ändern und dem Kommerz freien Lauf zu lassen. Das führt rasch zum Austrocknen der Filmkultur. Einzelnen Regisseure versuchen nun, ihre Arbeit anderswie weiterzuführen: Herzog und Schröter widmen sich der Oper, Wenders versucht es in Hollywood, Kluge aber gelingt es, zusammen mit dem Spiegel, Stern, der Süddeutschen Zeitung, dem Deutschen Bühnenverein u.a. eine TV-Produktionsgesellschaft zu gründen und Rechte für sogenannte kulturelle Fenster in den Privatkanälen zu erwerben. Seit 1988 sendet dctp (= development company for television programs) auf SAT 1, RTL, später Vox und auch im Schweizer Fernsehen. Ein Stück des Autorenprinzips ist damit ins Fernsehen gerettet, wenn es schon im Kino keinen Fortbestand haben konnte. Von Kluge selbst gibt es inzwischen schätzungsweise 4000 Stunden TV-Material, die Hauptmenge davon Interviews mit Personen aus Literatur, Kultur, Politik und Wissenschaft. Interviewpartner sind sowohl Prominente (darunter z.B. Heiner Müller, Gorbatschow, Laurie Anderson, James Baker III, Godard, Weizsäcker, Kenzaburo Oe, Gerge Tabori, Volker Schlöndorff, Werner Herzog oder die Chicagoer DJs Paul Johnson und Jeff Mills) als auch Unbekannte, die etwas Interessantes zu berichten haben. Die Sendungen dauern zwischen 15 und 45 Minuten und zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie sich Zeit nehmen für die dialogische Entfaltung eines Themas. Neben den Interviews gibt es auch andere Magazinformen wie Musikmagazine ohne Worte, Stadt- und Operettenmagazine u.a., die einen neuen Typus von TV-Kunstwerk darstellen und etwas tun, wozu öffentliches und privates Fernsehen der Quoten- und anderer Zwänge wegen nicht fähig sind: auszuprobieren, was Fernsehen überhaupt sein kann (statt der "unterhaltenden" oder "bildenden" aber als solchen doch immer gleichen Mischungen von Bild, Wort und Ton). Natürlich handelt es sich hierbei um Minderheitenfernsehen (Einschaltquote pro Woche im Schnitt etwa 1 Million Zuschauer, was aber für Kultursendungen ausgezeichnet ist). Bei 36 (bald über 100) Kanälen in Europa kann man jedoch darauf bestehen, daß nicht alle dasselbe senden. Schließlich lebt Demokratie vom Minderheitenschutz. Für seine Fernseharbeit ist Kluge mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Grimme-Preis und zuletzt 2001, zusammen mit Günter Gaus und Gerhard Ruge, mit dem Hans-Joachim-Friedrichs-Preis des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

Mit Oskar Negt zusammen hat Kluge seit 1972 etwa im Abstand von 10 Jahren drei große theoretisch-philosophische Bücher veröffentlicht, d.h. genauer gesagt: bis in einzelne Halbsätze hinein gemeinsam formuliert. Es sind Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), Geschichte und Eigensinn (1981) und Maßverhältnisse des Politischen (1993). Alle drei Bände, ergänzt um die Transkriptionen von gemeinsamen Gesprächen im Fernsehen (über 300 Seiten) sind jetzt gerade im Versand 2001 in zwei Bänden unter dem Titel Der unterschätzte Mensch (2002) erschienen. Man kann sagen, daß es sich hierbei um eine nichtakademische Fortsetzung der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno handelt. Dabei kann man zwei Kernmotive bezeichnen: Einmal: wenn es stimmt, daß im Grunde die gesamte Kritische Theorie (der ersten Generation) sich der Beantwortung einer Frage widmet, wie nämlich im 20. Jahrhundert mitten in Europa, in der Kulturnation Deutschland, so etwas wie das Dritte Reich sich etablieren und die Welt ins Unglück stürzen kann, dann muß diese Frage erweitert und um neuen Stoff angereichert werden für die Bundesrepublik. Sonst würde die Kritische Theorie ja im schlechten Sinne "historisch". Zum zweiten: Es gibt eine starke Tendenz in Adornos Denken, sich auf die Kunst als einzigen möglichen Garanten von authentischem Ausdruck und Statthalter eines richtigen Lebens festzulegen. Dieser Tendenz, die gegen Faschismus und Stalinismus verständlich ist, muß man nach 1945 nicht unbedingt folgen. Hier, sagt Negt, kann man die Kritische Theorie nur lebendig halten, wenn man ihr neuen Stoff zuführt (Was ist Öffentlichkeit mehr als nur "Kulturindustrie", was ist eine "Ökonomie der Arbeit", wenn man nicht an die totalitäre Herrschaft der Ökonomie des Kapitals oder der Bürokratie glaubt, und was kann Politik sein, wenn "Realpolitik" des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder ihre Irrealität beweist).

Literarische Bücher hat Kluge zwischen 1962 und 1979 vier an der Zahl veröffentlicht: Außer den schon genannten Lebensläufen (1962) die Schlachtbeschreibung (zuerst 1964, danach mehrere, teils veränderte Auflagen), ein dokumentarischer Montageroman über die Schlacht von Stalingrad 1942/43, den Wendepunkt des zweiten Weltkrieges, Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (1973) und Unheimlichkeit der Zeit (1977). Kluge hat für seine schriftstellerische Arbeit zahlreiche Preise erhalten, darunter zweimal den Bremer Literaturpreis, den Kleist-Preis, den Lessing-Preis der Stadt Hamburg, den Heinrich-Böll-Preis, den Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste.

Im Herbst 2000, gerade zur Frankfurter Buchmesse, erschien bei Suhrkamp Chronik der Gefühle, zwei Bände, jeder etwas mehr als 1000 Seiten. Damit ist Kluges bisheriges literarisches Gesamtwerk wieder greifbar. Der zweite Band der Chronik enthält (mit Ausnahme des Stalingrad-Buches, das in den ersten Band aufgenommen ist) vor allem die vier bekannten Erzählungsbände Kluges, neu ist das letzte Kapitel "Der lange Marsch des Urvertrauens" (921-1010). Der erste Band umfaßt aber noch einmal im gleichen Umfang neue, unveröffentlichte Geschichten in sechs Kapiteln, die eigentlich regelrechte Bücher sind. Die beiden Bände sind (mit gewissen Einschränkungen) gegen die Chronologie des zeitlichen Entstehens der Texte geordnet. "So funktioniert auch die Erinnerung: von der Gegenwart rückwärts. Man täuscht sich aber, wenn man meint, daß die Gegenwart an den frühesten Punkten aufhört."[2]

Um diese literarische Produktion Kluges soll es hier gehen. Ich möchte zwei allgemeinere Charakteristika seiner literarischen Arbeit hervorheben. Einmal wird jedem Leser seiner Bücher oder der Chronik der Gefühle auffallen, daß wir keine Begriffe haben, um die Form dieser Texte zu fassen. Schon für Kluges Filme hat sich der Ausdruck "Essayfilm" eingebürgert, um die Mischung aus Reflexion, Stimme aus dem Off, aus Dokumentarmaterial und aus verfilmten Geschichten oder Szenen und Szenenfolgen zu bezeichnen. Das ist sicher der passendste Ausdruck, er enthält aber auch eine gewisse Verlegenheit. Mit den Texten ist es ähnlich. Es sind noch nicht einmal immer "Geschichten", insofern in vielen kurzen nicht unbedingt etwas "geschieht", und alle anderen herkömmlichen Begriffe wie Erzählung, Novelle, Roman etc. passen auch nicht. Tatsächlich steckt bei Kluge das Subjektive wesentlich in der Form.

Eine zweite Bemerkung möchte ich machen über das immer wieder unter Lesern und Literaturwissenschaftlern angesprochene Thema des Realitätsverhältnisses, der Mischung von Fiktion und Fakten, der Unsicherheit, die wohl kaum einen Leser Kluges nicht ergreift, wenn er genug gelesen hat, was denn nun eigentlich "wirklich" oder "wahr" daran sei und ob denn ein Autor so willkürlich Reales, Dokumentarisches und Phantastisches vermengen dürfe.

In einem dritten Abschnitt möchte ich mich genauer einer vierseitigen Geschichte widmen, die in der Chronik der Gefühle zum ersten Mal veröffentlich worden ist und den reißerischen Titel trägt: "Geschlechtsteile in Großaufnahme".

Die Form ist das Subjektive

Es hat immer wieder einmal in Rezensionen oder Artikeln Behauptungen gegeben, Kluges Texte, die Atmosphäre, die sie verbreiten, seien kalt, er selber halte sich zugunsten von scheinbarer Objektivität völlig heraus (tatsächlich gibt es nur zwei oder drei Geschichten, in denen überhaupt ein "Ich" vorkommt) fingiere lieber Pseudodokumente, überhaupt vermisse man in seinem Werk die Subjektivität. Enzensberger sprach in einer Spiegel-Rezension über Unheimlichkeit der Zeit davon, daß Kluge, wie die Engländer sagen, "kühl wie eine Gurke" sei. Das kann man als Eindruck beim Lesen durchaus nachvollziehen, und doch ist es nur die halbe Wahrheit.

Hegel schreibt in seiner Ästhetik, die "künstlerische Begeisterung" sei nichts anderes

als von der Sache ganz erfüllt zu werden, ganz in der Sache gegenwärtig zu sein. [...] Wenn nun aber der Künstler in dieser Weise den Gegenstand ganz zu dem seinigen hat werden lassen, muß er umgekehrt seine subjektive Besonderheit und deren zufällige Partikularitäten zu vergessen wissen und sich seinerseits ganz in den Stoff versenken, so daß er als Subjekt nur gleichsam die Form ist für das Formieren des Inhaltes, der ihn ergriffen hat. Eine Begeisterung, in welcher sich das Subjekt als Subjekt aufspreizt und geltend macht, statt das Organ und die lebendige Tätigkeit der Sache selber zu sein, ist eine schlechte Begeisterung.[3]

Dieses natürlich gegen die Romantik gerichtete Urteil findet bei Kluge eine Entsprechung. Im Vorwort von Unheimlichkeit der Zeit heißt es:

Noch eine Bitte: Wenn ich etwas verstanden habe, setze ich mich in Bewegung, reise, handle, oder ich schreibe ein theoretisches Buch. Dies hier ist keines. Deshalb meine ich nicht weniger, was ich schreibe. Ich fange aber nicht an, die niedergeschriebenen Geschichten nachträglich "auszubessern". Ich könnte z. B. Irrtümer, historisch Unzutreffendes, Mißverständnisse ("was ich selber nicht begriffen habe, während ich schrieb") durch Zusätze aufklären. Das ist aber nicht die Form, in der die Geschichten erzählt sind. Diese Form ist ein Gefühl, das nur einmal mißt, und war es theoretisch (= betrachtenderweise) falsch, dann ist es falsch und mißt so auch.[4]

Die vollkommen subjektive, vom Gefühl bestimmte Form der Texte, die praktisch jede Texteinheit (kurze Geschichte, Sequenzen von Geschichten, ganze Kapitel) zu unverwechselbaren Individuen macht, ist es eben, wodurch eine an äußeren Formen klebende Gattungs- oder Formbestimmung unmöglich erscheint. So gesehen, nämlich auf die Form geschaut, wird man aber doch sofort zugeben müssen, daß es nichts Subjektiveres in der deutschen Gegenwartsliteratur gibt als Kluges Texte. Was kann subjektiver sein, als prinzipiell jede Anlehnung an "objektive", d.h. bekannte Formen oder Genres (es gilt ja für Kluges Filme genauso) zu vermeiden und in jedem Fall auf der eigenen Ausdrucksform zu bestehen? Godard und andere Essay-Filmer machen das ganz ähnlich, viele Autoren-Filmer formulieren es als Kritik bestimmter Genres (Dogma95 lehnt Action und Pistolen in Filmen ab, ebenso Kaurismäki, H. Hughes meinte, er würde nie eine Autojagd drehen usf.), d.h. der Zwang zur Anpassung des subjektiven Blicks auf die Welt durch Aufsetzen von bestimmten Sehmaschinen ist ja ein ständiger kritischer Punkt in filmischen oder literarischen Zusammenhängen. Man kann höchstens vermuten, daß die radikale, kompromißlose literarische Praktizierung des Subjektiven als literarische Form, wodurch dann das Objektive, d.h. die Vielfalt der Welt, ebenfalls ungewohnt deutlich und scharf abgebildet wird, für manche so ungewöhnlich ist, daß sie das Subjektive gar nicht mehr wahrnehmen, weil sie es an der falschen Stelle (als Inhalt) suchen oder gewohnt sind.

Noch eine Erweiterung, denn Marx wohnt nicht weit von Hegel. Die "Ware", die ja bei Marx den hegelschen "Weltgeist" ersetzt, ist eine "Formbestimmung". Inhalt der Ware kann alles werden und ist nach 300 Jahren Kapitalismus auch alles geworden. "Alles" ist aber Natur und Kultur, Natur und menschliche Arbeit. Menschliche Arbeit ist das Subjektive, das die objektive Gestalt der Ware (Ware Arbeitskraft) anzunehmen gezwungen ist. Die Bildung von Genres, objektiven Formen unterliegt daher immer schon dem Verdacht, etwas mit der Standardisierung von Warenproduktion zu tun zu haben, Kultur- und Bewußtseinindustrie zu sein. Standardisierte Formen für Pseudosubjektives überschwemmen ja den Markt (Schlager, Melodramen, Love-Stories, Komödien usw.). Das heißt, daß eigentlich nur auf der Formseite ein Ausweg in Richtung Authentizität, Erneuerung, Unabhängigkeit vermutet werden kann.

Wirkliches und Unwirkliches

Man könnte Kluges prinzipielle Haltung, seinen Realismus, dahingehend zusammenfassen, daß die Wirklichkeit wirklich und unwirklich zugleich ist. Hexenverfolgung z.B. ist insofern wirklich, als sie mehreren 10.000 Menschen, besonders Frauen, den Tod bringt, über Jahrhunderte die Völker in Angst versetzt, Wissen über Sexualität und Geburtenregelung verschüttet und sicher noch bis in die Gegenwart den Angsthaushalt moderner Menschen bestimmt. Unwirklich ist das Ganze insofern, als die Vorstellung der "Hexe", des Teufels, von bösen Zaubern, über die Menschen geheimnisvoll verfügen könnten, um andere zu schädigen, pure Fiktion ist.

Nun betrifft dieser Zusammenbau des Wirklichen aus Fakten und völlig Unwirklichem nicht nur das Mittelalter oder die Spanische Inquisition. Die Atombombe ist z.B. keine Waffe. Sie ist nicht genau, sie kann den Feind nicht treffen, ohne teilweise die ganze Welt, die Verbündeten, auch die eigenen Leute zu vergiften. Ein Land, das verseucht ist, kann nicht betreten, nicht besetzt und dem eigenen Machtbereich eingegliedert werden. Die Atombombe ist eine Waffe nur so lange, wie sie nicht eingesetzt wird. Die Angst vor ihr ist wirklich, als praktisches Kriegsgerät hat sie hohe Unwirklichkeit. Damit hängt zusammen, daß Mao Tse Tung sie einen "Papiertiger" nennt.

Man könnte nun von dieser wohl immer noch größten Angstquelle der Menschheit (jedenfalls im Westen) herunterdeklinieren, wie unwirklich unsere Wirklichkeit in Wirklichkeit oder Wahrheit dann sein muß. Denn die Atombombe ist ja der Stolz unserer technischen Produktivität, nichts, in dem mehr an wissenschaftlichem Erfindungsgeist und technischer Raffinesse steckt (vielleicht demnächst abgelöst durch die Gentechnologie). Insofern hängt die gesamte westliche Zivilisation daran und ihr Beispiel kann deren Unwirklichkeitsgrad im allgemeinen demonstrieren.

Die Aufgabe, die sich aus einer solchen Konstellation für einen Autor ergibt, ist nicht die des "anything goes" (das gerinnt leicht zur Beliebigkeit oder heimlichen Kapitulation), sondern die Herstellung von Unterscheidungsvermögen. Gleichgültig, ob es sich um Literatur, Film, Fernsehen, Kunst, Wissenschaft, Kritik oder sogar um Musik handelt, die Produktion von Unterscheidungsvermögen (die auf Unterschiede von Wirklichem und Unwirklichem zielt) ist der kategorische Imperativ jedes Autors. Ein wissenschaftlicher Text macht das eher mit Begriffen und Gedanken, ein literarischer kann dasselbe in Bilder und Erzählungen fassen, Musik ist Unterscheidungsvermögen des Ohres, des Tonfalls, der Dissonanzen oder Harmonien, des Rhythmus.

Unter diesen beiden Gesichtspunkten der Form als das Subjektive und der Herstellung von Unterscheidungsvermögen ließen sich nun längere Kommentare zu Kluges Filmen und Texten (natürlich auch zu denen anderer Autoren) schreiben. Ich möchte das hier an einem Beispiel tun.

Geschlechtsteile in Großaufnahme [5]

Der berufserfahrene Engländer, ein Tierpfleger, hat sich für Sonntag früh mit dem Foto-Journalisten David Quecke zu Aufnahmen von neugeborenen Hochland-Rindern und Jungaffen verabredet. Jetzt liegt er, von Tigern angefallen, lebensgefährlich verletzt, im Kreiskrankenhaus Soltau. Sein Ruf als Tierpfleger ist ruiniert.

Nach Aussage von Quecke haben "die Freunde, die einander in einer Bar am Vorabend kennengelernt hatten", eine Zeitlang neugeborene Hochlandrinder fotografiert. Quecke interessierten die Rindernachkommen, den Tierpfleger, John Dempsey, interessierten die Fotoapparate. So redeten sie, obwohl sie keine Berufserfahrung haben konnten, wenn sie sich statt für ihre eigene Tätigkeit für die Tätigkeit des anderen interessierten. Nein, sagte der Journalist, er interessiere sich nicht mehr für Fototechnik, sondern für den Inhalt dessen, was er fotografiere.

Die jungen Hochlandrinder langweilten ihn nach kurzer Zeit. Die Gottesdienste der nahen Stadt waren noch nicht beendet, da hatte er die recht winzigen Kreaturen, gemessen am schlachtreifen Hochlandrind, bereits allseitig abfotografiert. Der junge Dempsey aber, berichtet Quecke, habe etwas tun wollen, um ihn zu erheitern, die Langeweile zu verdrängen, und habe ihn aufgefordert, in das Tigergehege zu kommen. Ja, er habe ein Tor geöffnet und ihn, den Quecke, aufgefordert, sein Kraftfahrzeug in den Tigerkäfig zu bugsieren und vom Wagen aus Nahaufnahmen von den Tieren zu machen. Unaufgefordert habe Dempsey seine Erfahrung im Umgang mit Tigern nachzuweisen versucht. Später habe sich jedoch herausgestellt, daß Dempsey nur mit Hochlandrindern ausführliche Erfahrung besaß, daß er Tiger-Erfahrung erst noch zu erwerben hoffte - so habe sich Dempsey, außerhalb des verschlossenen Kraftfahrzeugs, in dem tigereigenen Areal (im Freigehege) hin und her bewegt. In diesem Areal befanden sich Schilder: Bitte nicht aussteigen! Dempsey habe ihn, Quecke, durch beruhigende Hinweise auf seine Fachkenntnisse, aufgefordert auszusteigen, und zu zweit hätten sie versucht, einen der Tiger, der sich freundschaftlich dem Tierpfleger und dessen Gast näherte, dazu anzuhalten, sich aufrecht an das Schild "Bitte nicht aussteigen" anzulehnen. Von einem solchen Schild mit stehendem Tiger habe sich Quecke (unter Zustimmung von Dempsey) einen effet, eine populäre Wirkung versprochen. Bei dem Versuch, den Tiger an das Schild heranzudirigieren, habe indessen ein zweiter Tiger dem fünfundzwanzigjährigen Dempsey einen Prankenhieb versetzt.

JOURNALIST: Aus Spaß?
QUECKE: Sah nicht nach Spaß aus.
JOURNALIST: Aus Eifersucht?
QUECKE: Sie meinen, weil der Tiger, der den Prankenhieb austeilte, selber
zum Schild geführt werden wollte von dem beliebten Tierpfleger?
JOURNALIST: Ja. Oder er wollte den Kameraden schützen?
QUECKE: Vor dem Tierpfleger, der sich doch nur bemühte?
JOURNALIST: Irgendeinen Grund muß die Großkatze gehabt haben . . .
QUECKE: Hatte sie.
JOURNALIST: Und welchen, nach Ihrer Beobachtung?
QUECKE: Ich kann Großkatzen aus günstigen Schußpositionen fotografieren,
ich kann ihren Blick dagegen nicht enträtseln . . .
JOURNALIST: Blickte die angreifende Katze denn auf, bevor sie mit der
Pranke zuschlug?
QUECKE: Ich sah nicht zu ihr hin. Warum sagen Sie jetzt »sie« und nicht er,
wie es sich doch für einen Tiger gehört?
JOURNALIST: Ist mir unterlaufen wegen Katze. Es heißt: die Katze.
QUECKE: Interessanterweise war es eine Tigerin!
JOURNALIST: Und daraus wäre zu schließen?
QUECKE: Gar nichts. Eine Feststellung.
JOURNALIST: Wie bemerkten Sie es?
QUECKE: Ich hatte ihr Geschlechtsteil in Großaufnahme fotografieren wollen,
sie hielt es jedoch so ungünstig, daß ich mit der langen Brennweite zu
keinem ruhigen Schuß kam.
JOURNALIST: Und der Tiger, der sich steil aufstellen sollte an dem Schild
»Bitte nicht aussteigen«, war ein männlicher Tiger?
QUECKE: Gewiß, denn hiervon habe ich Großaufnahmen gemacht. Die Ge-schlechtswerkzeuge von Großkatzen beiderlei Geschlechts sind bisher kein populäres Sujet. Sie können da keine Story herausziehen. Sieht übrigens nicht nach Tiger aus, übrigens auch nicht pornographisch, sondern »nie gesehen«. So etwas verkauft sich nicht.
JOURNALIST: Schade.
QUECKE: Wieso schade?
JOURNALIST: Weil Sie jetzt diese Fotos haben, den Unfall dagegen nicht. Es wäre übrigens nicht zum Unfall gekommen, wenn Sie bei den pornographischen Großaufnahmen geblieben wären. Dann hätte der Tiger sich nicht aufstellen müssen, an das Schild gelehnt.
QUECKE: Er wurde ja erst hingeleitet. Der erfahrene Dempsey bugsierte ihn umständlich in Richtung auf das Schild . . .
JOURNALIST: Das gelang nicht?
QUECKE: Nein.
JOURNALIST: Was dann?
QUECKE: Die Pranke der Tigerin. Der Tierpfleger, mein Freund, liegt wie leblos am Boden . . .
JOURNALIST: Und Sie?
QUECKE: Renne ins Fahrzeug . . .
JOURNALIST: Und jetzt?
QUECKE: Rennen die übrigen Wildkatzen hinzu, stürzen sich auf den leblos Daliegenden.
JOURNALIST: Fiel Ihnen nichts ein, ihn zu retten?
QUECKE: Ich habe mit Tigern keine Erfahrung.
JOURNALIST: Haben Sie fotografiert?
QUECKE: Der Apparat lag neben dem Schild "Bitte nicht aussteigen". Ich stieg jetzt nicht mehr aus, sondern verhielt mich nach der Anweisung des Schildes.
JOURNALIST: Das war Ihr einziger Anhaltspunkt für den Umgang mit Tigern
in einem Tiger-Freigehege . . .
QUECKE: Praktisch der einzige. Ein Tiger zerrte den Pfleger etwa 24 Meter in ein Gebüsch. Aus welchem Grund, weiß ich nicht.
JOURNALIST: Sie sitzen im warmen Auto?
QUECKE: Ob warm, weiß ich nicht, aber verschlossen. Ich starte und fahre, hupend, kreuz und quer durch die Tigerabteilung . . .
JOURNALIST: Was wollten Sie damit bewirken?
QUECKE: Ich versuchte Bewegung in die Sache zu bringen, ohne aussteigen zu müssen. Die Tigerabteilung, das sind gut zwei Quadratmeilen. Ein anderer Pfleger kam und brachte die Tiger durch Schreckschüsse zur Raison.
JOURNALIST: Den Halbtoten fuhr man ins Krankenhaus?
QUECKE: Wohin sonst?

Die Fotos, vor der Katastrophe geschossen, ergaben keine Story. Es fehlte den Redakteuren von Queckes Blatt an Erfahrung, was eine Story ist.

LEITER DER REDAKTIONSKONFERENZ: Wir könnten diese großteiligen Aufnahmen von der Tiger-Vulva, die ich aus dem tierpsychologischen Atlas entnehme, zweiseitig abbilden, dazu die Geschichte des Unfalls und auf der Rückseite Queckes Tiger-Pimmel, ganzseitig.
BEISITZENDER REDAKTEUR: Der Kitzler der Tigerin, hier die Schamlippe, sieht aus wie eine Landkarte, ein Teil des russischen Kontinents.
VORSITZENDER REDAKTEUR: Genau. Könnte man sagen, daß der Prankenhieb der Kollegin liebevoll gemeint war, ihr aber ausrutschte?
BEISITZENDER REDAKTEUR: Wie man will, weil wir es ja nicht wissen.

Sie verzichteten dann auf die Story, da die Bildfolge den aktuellen Anlaß nicht wiedergab. Die Redakteure des Blattes hätten sich entschließen müssen, entweder das zeitlose Dasein der Fortpflanzungswerkzeuge von Tigern oder aber den Unfall des
Tierpflegers zu dokumentieren. In einem Fall fehlte der aktuelle Bezug, im anderen Fall das Bild.


Abb: "In einem Fall fehlte der aktuelle Bezug, im anderen Fall das Bild."


Kommentar

Erster Abschnitt

Der berufserfahrene Engländer, ein Tierpfleger, hat sich für Sonntag früh mit dem Foto-Journalisten David Quecke zu Aufnahmen von neugeborenen Hochland-Rindern und Jungaffen verabredet. Jetzt liegt er, von Tigern angefallen, lebensgefährlich verletzt, im Kreiskrankenhaus Soltau. Sein Ruf als Tierpfleger ist ruiniert.

Bitte, lesen Sie die ersten Worte genau: "Der berufserfahrene Engländer, ein Tierpfleger". Sehr schlechtes, ziemlich unmögliches Deutsch, nicht wahr? Das zum "Tierpfleger" gehörende Attribut "erfahren" zum "Engländer" setzen, wo es gar nichts verloren hat, und diesen Fehler dann durch das Präfix "berufs-" wieder ausgleichen? "Der erfahrene Tierpfleger, ein Engländer", so müßte es doch wohl heißen. "Berufserfahren" ist ein bizarres Adjektiv. Man kann zwar von einem, dessen Beruf bekannt ist, sagen, er habe "Berufserfahrung", aber daß einer abstrakt "berufserfahren" sei? Im Unterschied zu "privaterfahren" vielleicht? Warum liest man überhaupt, daß er "Engländer" ist? Es ist nicht ersichtlich, daß die Nationalität in der Geschichte eine Rolle spielt. (Schaut man unter "Dempsey" im Lexikon nach, so findet man einen amerikanischen Boxweltmeister 1919-26, Vorname Jack (= John), der immerhin so viel mit unserem Tierpfleger gemeinsam hat, daß er 1927 in einem der berühmtesten Kämpfe der Boxgeschichte wegen einer Regelverletzung - er begab sich beim Auszählen seines Gegners nicht in die neutrale Ecke, so daß dieser sich erholen und schließlich Dempsey noch schlagen konnte - seinen Titel verlor. Für Jack Dempsey gilt also auch: "berufserfahren", aber doch durch eigene Schuld schwer geschädigt.

Halten wir fest, daß die Geschichte mit einem Stolperstein, einem Fehler (= das Subjektive) anfängt.


Die drei Sätze, aus denen der erste Abschnitt besteht, erzählen dann in knappster Form (eine Art kürzester Kurznachricht) den gesamten Inhalt. Was hätte man da an Spannung herausholen können! Die Psychologie zwischen den beiden jungen Männern dramatisch entwickeln, wie sie sich gegenseitig zu Mutproben verführen, das Lockende des Tigergeheges, retardierende Momente, Zweifel, Angeberei, Nervenkitzel, schließlich der Angriff des Tigers. Jetzt hätte jede TV-Abenteuerserie Quecke noch die Möglichkeit gegeben, einen heldenhaften Einsatz für seinen Freund zu zeigen; wenigstens hätte er mit dem Wagen selbst die Tiger von dem Opfer verscheuchen müssen, wäre dabei angegriffen worden, man sieht, wie eine Tiger-Tatze durchs halboffene Autofenster sein Hemd zerfetzt, blutige Streifen usw. So etwa hätte die mainstram-Bilderästhetik, die unseren Globus von Kapstadt bis Hammerfest und von L.A. bis zu den Kurilen behütet, sich eines solchen Stoffes angenommen. Stattdessen fährt Kluges Held ziellos und panisch hin und her, bis jemand anders kommt und alles deprimierend undramatisch zu Ende geht. Zweifellos ist das realitätsnäher.

Störend der kurze letzte Satz des ersten Abschnittes: "Sein Ruf als Tierpfleger ist ruiniert." Wen interessiert sein zukünftiges Ansehen, wenn er jetzt stirbt? Das klingt fast komisch. Zwicken sich schon die Ausdrücke "von Tigern angefallen" und "Kreiskrankenhaus Soltau", so ist dieser letzte Satz erst recht antidramatisch, antiabenteuerlich. - Schneller als man es wissen wollte, ist alles vorbei: Überraschungs- oder Schockästhetik anstelle von suspense (= die Nerven auf die Folter spannen). Häufig fühlt man beim Lesen Kluges die Neigung, etwas zum zweiten Mal zu lesen, weil man es so schnell gar nicht glauben kann.

Zweiter Abschnitt

Nach Aussage von Quecke haben "die Freunde, die einander in einer Bar am Vorabend kennengelernt hatten", eine Zeitlang neugeborene Hochlandrinder fotografiert. Quecke interessierten die Rindernachkommen, den Tierpfleger, John Dempsey, interessierten die Fotoapparate. So redeten sie, obwohl sie keine Berufserfahrung haben konnten, wenn sie sich statt für ihre eigene Tätigkeit für die Tätigkeit des anderen interessierten. Nein, sagte der Journalist, er interessiere sich nicht mehr für Fototechnik, sondern für den Inhalt dessen, was er fotografiere.

"Nach Aussage von": eine Wendung aus einem Polizeibericht? Und dann erfahren wir Näheres über die menschlichen Beziehungen [6] der beiden Hauptfiguren: "die Freunde, die einander in einer Bar am Vorabend kennengelernt hatten". So drückt sich Quecke wörtlich aus. Aber was soll das heißen? Wie werden zwei junge Männer nach einem Abend in einer Bar zu "Freunden", selbst wenn wir den Begriff nicht zu sehr strapazieren und in Rechnung stellen, daß der Engländer Dempsey vielleicht leichter von "friends" spricht? Es hat wohl wenig Sinn, den Widerspruch hinwegzuinterpretieren. Wir müssen damit leben, daß dieser Text widersprüchlich ist. Zwei "Freunde", die sich fast gar nicht kennen - so steht es hier mit den menschlichen Beziehungen. Vielleicht verhält es sich ähnlich wie mit den "Tiger-Erfahrungen" Dempseys (vgl. 3. Abschnitt): die beiden wollten erst noch gern Freunde werden. Kann, was im Tigergehege passiert, verstanden werden als ein sehr ungelenker Versuch, Freundschaft zu schließen? Überstandene Gefahr, Regelverletzung, das verbindet, Kriegskameradschaften halten lebenslang. Bis jetzt kennt Dempsey sich mit gemütlichen niedersächsischen Kleinstädtern ("Rinder", "Jungaffen") aus, aber Zeitungs-Tiger aus Hamburg (Quecke) sind ihm unbekannt. Nehmen wir an, das Abenteuer wäre glücklich ausgegangen, Quecke hätte eine wunderbare story mit effektvollen Bildern veröffentlicht. Dempsey hätte vielleicht einen Pflicht-Rüffel von seinem Chef erhalten, aber sicher stark gemildert durch die Reklamewirkung für das Freigehege. Queckes Ansehen wäre gestiegen, Dempsey aber kann man sich in der Stadt Soltau ohne weiteres als Lokalheld vorstellen, wenn doch alle sein Gesicht neben dem Tiger in der Bunten erkennen. Daraus hätte sich schon so etwas wie eine Freundschaft entwickeln können. - Diese Vorstellung wirft nun ein neues Licht auf den Satz "Sein Ruf als Tierpfleger ist ruiniert." Dempsey wollte "berühmt" werden, es ging ihm sehr wohl um seinen "Ruf".

Nun ist im Gegensatz zur ersten Zeile jetzt vom Fehlen von "Berufserfahrung" die Rede, im dritten Abschnitt heißt es ganz klar, daß Dempsey sich nur um Hochlandrinder kümmerte und von Tigern gar nichts verstand, und in dem längeren Dialog zwischen den beiden Journalisten-Kollegen ist ebenfalls mal von "Freund", mal von dem "erfahrenen Dempsey" die Rede. Hat Dempsey nun Berufserfahrung oder nicht? Offenbar nicht, wenn wir der klaren Aussage in Abschnitt 3 glauben und hinzunehmen, daß Dempsey erst 25 Jahre alt ist - wie "berufserfahren" kann er da schon sein?7 Warum dann immer wieder davon die Rede ist? Quecke redet davon. Er hat jetzt, wo die Sache schiefgegangen ist, ein Interesse daran, sein Vertrauen in die "Berufserfahrung" des "Freundes" zu betonen, d.h. seine eigene Rolle bei dem gefährlichen und mißglückten Abenteuer als völlig passiv, in gutem Glauben handelnd, ja, fast getäuscht von einem "Freund", darzustellen.

Wenn es sich so verhält, wie würde wohl Dempsey die Geschichte erzählen? Geläutert durch seine Todesnähe, wäre er wohl um Wahrheit bemüht. Andererseits könnte es um Schadenersatz (Krankenkasse, vielleicht müssen Tiger zur Beobachtung in Quarantäne, Verlust des Arbeitsplatzes) gehen. Vermutlich passierte in Wahrheit folgendes: Ein grüner Junge in der Provinz läßt sich von einem Journalisten eines Massenblattes am Samstagabend in einer Kneipe beeindrucken. Die Aussicht, in Bild abgebildet zu werden, reizt ihn sehr. Noch im Bett nimmt er sich vor, diese Gelegenheit nicht zu versäumen und den neuen Freund nicht zu enttäuschen. Der nun langweilt sich bei den Rindern. Tiger sind natürlich spannender. Quecke sendet Signale aus, daß er wieder gehen will und mit seiner Bildausbeute keineswegs zufrieden ist. Er lockt Dempsey mit der Vorstellung, ihn als Tiger-Dompteur abzubilden, usw. Das heißt, entgegen dem äußerst widersprüchlichen Bericht, den Quecke von der Sache gibt, ist es doch viel wahrscheinlicher, daß hier ein skrupelloser Sensationsreporter einen, der ihm nicht gewachsen ist, in diese gefährliche Situation gebracht hat und daher auch zu einem Teil für das Unheil verantwortlich ist. Ein Gerichtsprozeß würde versuchen, die Anteile an Schuld zu klären. Denn selbstverständlich hätte doch Dempsey etwa einem Kind am Freitagnachmittag nicht das Tigergehege geöffnet, d.h. er trägt doch keinesfalls, wie der Text suggeriert, die Verantwortung allein.

Man sieht, daß es keinen auktorialen Erzähler gibt, d.h. keine Objektivität, keinen verlässlichen Berichterstatter. Verläßlich in diesem Text sind nur die Widersprüche, an sie kann man die eigene Phantasie (= Unterscheidungsvermögen) knüpfen. Das hat bei allem Reißerischen der Geschichte doch eine gewisse Lebensnähe.

Grotesker Dialog

[...] und zu zweit hätten sie versucht, einen der Tiger, der sich freundschaftlich dem Tierpfleger und dessen Gast näherte, dazu anzuhalten, sich aufrecht an das Schild "Bitte nicht aussteigen" anzulehnen. Von einem solchen Schild mit stehendem Tiger habe sich Quecke (unter Zustimmung von Dempsey) einen effet, eine populäre Wirkung versprochen. Bei dem Versuch, den Tiger an das Schild heranzudirigieren, habe indessen ein zweiter Tiger dem fünfundzwanzigjährigen Dempsey einen Prankenhieb versetzt.

JOURNALIST: Aus Spaß?
QUECKE: Sah nicht nach Spaß aus.
JOURNALIST: Aus Eifersucht?
QUECKE: Sie meinen, weil der Tiger, der den Prankenhieb austeilte, selber
zum Schild geführt werden wollte von dem beliebten Tierpfleger?
JOURNALIST: Ja. Oder er wollte den Kameraden schützen?
QUECKE: Vor dem Tierpfleger, der sich doch nur bemühte?
JOURNALIST: Irgendeinen Grund muß die Großkatze gehabt haben . . .
QUECKE: Hatte sie.
JOURNALIST: Und welchen, nach Ihrer Beobachtung?
QUECKE: Ich kann Großkatzen aus günstigen Schußpositionen fotografieren,
ich kann ihren Blick dagegen nicht enträtseln [. . .]

Hier sind also zwei journalistische Fachkollegen, die sich, nachdem Quecke den Vorgang ausführlich geschildert hat, darüber unterhalten. Liest man genau, kommt man aus dem Staunen nicht heraus, verwundertes Lachen ist leicht möglich. Oder würden Sie sich darüber den Kopf zerbrechen, warum, aus welchen Gründen ein Tiger mit der Tatze zuschlägt? Das gehört nun mal zu seiner Raubtiernatur, und man muß damit rechnen, wenn man sich, besonders als Nicht-Dompteur in Tigerkäfigen aufhält. "Aus Spaß?" "Aus Eifersucht?" - Was geht hier vor? Offenbar ist dieser Text einmal durch Dada hindurchgegangen. Das setzt sich, wenn wir den Blick auf's Ende richten, fort: die Redaktionskonferenz des Blattes versucht, aus dem Material Queckes und Ergänzungen (tierpsychologischer Atlas) eine story zu konstruieren und zerbricht sich ebenfalls über das Motiv der Tigerin für den Prankenhieb den Kopf ("liebevoll gemeint", "ausgerutscht"). Der "vorsitzende Redakteur" nennt die Tigerin "Kollegin". Nochmals: was geht hier vor? Wissen die nicht mehr, was ein Tiger ist? Oder - , umgekehrt?: Handelt es sich bei diesen Journalisten selbst um Tiger? Insofern hätte "Kollegin" (vielleicht im Scherz gesagt) den "Beigeschmack von Wahrheit" (K. Kraus). Das scheint mir des Rätsels Lösung zu sein: menschliche Tiger, oder: um ein guter Journalist dieser Art zu werden, muß ich meine Raubtiernatur lebendig halten und anstacheln. Kehren wir noch einmal zum Schluß des zweiten Absatzes zurück, der uns wissen läßt, daß Quecke sich nicht für seine Kameras, sondern für den "Inhalt" seiner Arbeit interessiere. Das heißt: Die Form, egal mit welcher Brennweite und Optik, unter der Quecke Bilder macht, ist sowieso immer dieselbe: die Form der Beute. Wie ein Raubtier interessiert er sich nicht für seine Tatzen, solange sie nur genug schlagen. Es sind natürlich zweibeinige, also Tiger mit Großhirn, d.h. mit Vernunft. Das journalistische Beutemachen hat ja "Gründe": die story, die Auflage, die Karriere, das Ansehen, das Geld. So kommt der Inhalt der beiden Dialoge zustande. Kein Unterschied zwischen diesen Journalisten Ausgang des 20. Jahrhunderts und Raubtieren. Nur reden sie so von Tigern, als ob es Menschen, Vernunfttiere mit Bewußtsein wären, das ist die ideologische Form (verkehrtes Bewußtsein) davon, daß sie nicht von sich reden können als das, was sie sind: "Meute", Paparazzi, Wilderer nach Bild- und Textbeute. Könnten die wirklichen Tiger reden, so würden sie genauso verständnislos fragen: Warum fotografiert der bestimmte Teile unseres Körpers, warum soll ich mich an diesem Schild aufrichten?

Wenn man die Yellow Press daraufhin prüft, kann man Beispiele für diese Art von Geschichtenkonstruktion oder Porträts finden, Mischungen von Raubtier und human touch. Der "liebevoll gemeinte Prankenhieb" der "Kollegin", der leider zum Tod führte: Sensation, Sex und Sentimentalität. Diese Form der Öffentlichkeit besteht aus Realitätsgräbern.

Bild, aktueller Bezug

Sie verzichteten dann auf die Story, da die Bildfolge den aktuellen Anlaß nicht wiedergab. Die Redakteure des Blattes hätten sich entschließen müssen, entweder das zeitlose Dasein der Fortpflanzungswerkzeuge von Tigern oder aber den Unfall des Tierpflegers zu dokumentieren. In einem Fall fehlte der aktuelle Bezug, im anderen Fall das Bild.

Vergleichen wir die reißerische Überschrift "Geschlechtsteile in Großaufnahme" mit dem abschließenden Foto, so ergibt sich ein Kontrast. Die Suche der Journalisten nach Gründen für den Prankenhieb der Tigerin, d.h. die Rationalisierung von Raubtierverhalten, müssen wir übersetzen in die Frage, warum es eigentlich eine doch starke und zunehmende Tendenz der Boulevard-Presse, auch des Kommerz-TVs gibt, die mit "Geschlechtsteile in Großaufnahme" zugespitzt, aber treffend bezeichnet ist. So absurd die Rationalisierungen in den Dialogen sind, so absurd sind die Ausreden, die mit der Sexualisierung der öffentlichen Bilderwelt einhergehen (Verkleidung als Nachricht, als Aufklärung, als Warnung, als Spiel). Die Fotos von Quecke ("Tiger-Pimmel, ganzseitig") haben ja eben kein wissenschaftliches Interesse, sondern es werden Tiger-Genitalien veröffentlicht als Substitute von menschlichen. Pornographie, die abstreitet, welche zu sein.

Am Schluß aber liefert uns der Autor die angekündigte "Großaufnahme" auch wirklich, wenn auch kleinformatig. Es handelt sich um zwei Gesichtsflächen, ein Auge ist zu sehen, man kann vermuten, daß es Mann (links) und Frau (rechts) sind, aber ganz sicher ist das nicht. Die Ausschnitte, die Körnung sind so gewählt, daß man beide Personen nicht identifizieren könnte, wenn man sie auf der Straße wiederträfe. Wollen sie sich küssen, haben sie sich geküßt, flüstern sie nur miteinander, beatmen sie sich, was machen ihre Körper? Das alles bleibt unbestimmt. Aber festhalten kann man, daß dieses Foto (es könnte u.U. auch eine Zeichnung sein) Intimität oder Privatheit ausdrückt. Abstrakte Intimität, Vertrautheit (statt "Geschlechtsteile") "in Großaufnahme". Damit gelingt diesem Bild (oder ist es eher ein "Zeichen" wie ein Wort?) ein menschliches Grundbedürfnis, das nach menschlicher Nähe, öffentlich darzustellen, ohne es voyeuristisch zu verletzen. Das abschließende Bild deutet an, worum es wirklich geht, etwas, das aber in der Empirie der Yellow Press zwischen gnadenlosem Voyeurismus und atemlosen Aktualitätsfetischismus (dingliche und zeitliche Pseudonähe) zerrieben wird.

Wenn die zwischenmenschlichen Beziehungen "Basis" aller Gefühle sind, und wenn das Bedürfnis nach Nähe dabei ein Grundbedürfnis ist, dann erzählt diese Geschichte, wie daraus die falsche, dingliche Nähe von "Geschlechtsteile in Großaufnahme" hergestellt wird, eine Tendenz, die einen bemerkenswerten Teil der Öffentlichkeit dominiert.


Resümee

Kluges Geschichten sind auf einen Kernsatz hingeschrieben. Meiner Vermutung nach ist es hier der letzte Satz: "In einem Fall fehlte der aktuelle Bezug, im anderen Fall das Bild." Er trifft das leitende Prinzip der bestehenden Öffentlichkeit: den Aktualitätsfetischismus (= Mißachtung von Vergangenem und Geschichte) und die Dominanz des (sensationellen) Bildmaterials. Der Voyeurismus, in dem sich die beiden von Redaktionen und Reportern verfolgten Regeln oder Werte vereinigen, kann aber gar nicht befriedigt werden. Bilder können selten "aktuell" sein. Man kann das an den Bildern des 11. September prüfen. Der Aufprall des ersten Flugzeugs in den ersten Tower ist nur aus unmöglicher Touristenperspektive verfügbar und selbst die Bilder vom zweiten Flugzeug, dessen Eintreffen man ja nicht erwartet hatte, genügen den Voyeur-Maßstäben etwa Hollywoods in keiner Weise. Ganz zu schweigen von den Bildern aus Washington und Philadelphia. So daß zwar hier die Bilder nicht ganz fehlen, aber gemessen am ausgebildeten Bilderhunger von Illustrierten und Fernsehen doch recht nüchtern, bescheiden und unprofessionell ausfallen. (So daß in der Unterbrechung der üblichen Bilderwelt eigentlich ein Stück Authentizität, Wirklichkeit im Fernsehen sichtbar wurde.) Kein Hollywood-Film hätte sich doch Sequenzen aus dem Innern der Twin-Towers und Flüchtender auf den Straßen entgehen lassen. Das heißt aber, daß der inhärente Voyeurismus der unsere Gesellschaft dominierenden Bildöffentlichkeit nur fiktional, mit gestellten Bildern zu befriedigen ist, wie es ja in dieser Geschichte auch passiert.

Versucht man, das Gefühl zu benennen, das dieser Geschichte die "Form" gegeben hat, dann ist es der Ärger über die Verzerrung des menschlichen "Hungers nach Sinn", den das Foto ausdrückt und der sich nicht nur auf Aktualität beschränken läßt, in den bestialischen Voyeurismus, den der massenhafte Teil der Öffentlichkeit unserer Gesellschaften betreibt. Wie das, sozusagen an der Basis der Reportertätigkeit, zustande kommt, das hält die Geschichte in Form literarischer Phantasie fest. Ihr Verlauf ist identisch mit Anlässen (Widersprüchen, Fehlern, Absurditäten, Dada, Ungereimtem) zur Herstellung von Unterscheidungsvermögen in bezug auf die Sache (Öffentlichkeit, Sensation, Voyeurismus, Aktualität, Bild, Text, Wirklichkeit, Unwirklichkeit). Mein Kommentar ein Versuch, das zu üben.









Endnoten

1 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. 2 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000) 770-772.

2 "Vorwort", Chronik der Gefühle (Bd. 1) 7.

3 G.W.F. Hegel, "Vorlesungen über die Ästhetik", Werke, Bd. 13 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986) 372f.

4 Chronik der Gefühle (Bd. 2) 11.

5 Chronik der Gefühle (Bd. 1) 382 - 385.

6 "Geschlechtsteile in Großaufnahme" ist in Kapitel 3 "Basisgeschichten" aufgenommen. "Basis sind die menschlichen Beziehungen" heißt es dazu im Inhaltsverzeichnis (5), und zur Einleitung des Kapitels (309): "Die Basisgeschichten handeln von Menschen, die nach ihrem Platz in der Welt suchen."

7 Ich vermute, hinter dem penetranten Auftauchen des Begriffs "Erfahrung" und dem "Engländer" stecken noch weitere Bezüge, etwa zum englischen Empirismus, auch zum Kolonialismus.