glossen: rezension
Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1998.

Wirtschaftswunder, Restauration, Spießbürgertum mit faschistoiden Wurzeln und Neigungen, familiäre Repression und Ich-Bezogenheit bei gleichzeitiger Fähigkeit zur Wehleidigkeit, das sind die fünfziger Jahre in der Bundesrepublik in Hans-Ulrich Treichels Erzählung Der Verlorene. Eine Sicht die Vieles scharf beobachtet und doch auch Einiges ausblendet.

Der 1952 in Westfalen geborene Hans-Ulrich Treichel, Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, der ehemaligen DDR-Autorenschmiede, veröffentlicht seit 1986 Gedicht- und Prosabände wie z. B. Liebe Not (1986), Seit Tagen kein Wunder (1990) und Der einzige Gast (1994), Von Leib und Seele. Berichte (1992) sowie Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel. Besichtigungen (1996). Zu seinen Veröffentlichungen zählen weiterhin verschiedene Opernlibretti und wissenschaftliche Abhandlungen zur modernen Literatur, speziell zu Wolfgang Koeppen. Treichel ist Inhaber des Leonce-und-Lena-Preises der Stadt Darmstadt 1985, und des Förderpreises des Bremer Literaturpreises 1993.

Der Verlorene läßt sich als moderne Variante der biblischen Geschichte vom verlorenen Sohn und, mit etwas mehr Mühe, als Allegorie der deutschen Teilung lesen, doch die überzeugendste Lesart ist die des Portraits zweier deutscher Generationen: die der Gründer Nachkriegsdeutschlands und die ihrer Kinder, den sogenannten „68igern". Seit seinem Erscheinen erfreut sich die Erzählung von den Leiden und Verfehlungen dieser Generationen des Wohlwollens der Kritik. "Ein wunderbarer historischer Roman, von einer großen Komik, hinter der die Trauer einer Kindheit steckt", nennt es Hellmuth Karasek.[1] "Ein wunderbares Buch" assestiert auch der Literaturwissenschaftler Lutz Hagestedt.[2] Und Ulrich Ulrich Karger, Autor und Rezensent verschiedener deutscher Zeitschriften, bescheinigt Treichel, "die Lakonie zur Meisterschaft" gebracht zu haben und lobt ihn, sicher mit recht, ob seiner literarischen Fertigkeiten: „Wie sprachfertig und mit welch hintersinnigen Assoziationsketten er die Protagonisten jener Zeit mit- und aneinander vorbeileben läßt, sucht ihresgleichen."[3]

Die längere Geschichte der Suche einer Mutter nach dem verlorenen Sohn, Arnold, der als Einjähriger auf einem Flüchtlingstreck aus dem Osten bei einer Konfrontation mit "dem Russen" verlorenging, wird von seinem halbwüchsigen, namenlosen Bruder erzählt, der allerdings alles sehnlicher wünscht, als diesen Bruder zu finden. Sie umfaßt die Aufbau- und Wirtschaftswunderphase der jungen Bundesrepublik, in der es der Familie wirtschaftlich immer besser geht, während die Mutter sich in der Suche nach Arnold und in dem Erbringen von Beweisen, daß es sich bei einem bestimmten Waisenknaben um ihren Arnold handelt, verzehrt. Der vorhandene Bruder wird jedoch über der Sorge um den verloren gegangenen vergessen. Die Wegsteine des materiellen Aufstiegs seiner Eltern vom einfachen Antiquariat über den Lebensmittelladen bis zum Großhändler, und die damit verbundenen Zeichen des zunehmenden Wohlstandes wie z. B. die verschiedenen immer teurer werdenden Autos, vom Opel Kadett über den Kapitän bis zum Opel Admiral, kommentiert Arnold mit Unwohlsein bzw. Erbrechen, wenn er sich mit den Eltern auf Fahrt begibt und bringt sich damit in Erinnerung.

Während die Familie gen Wohlstand schlittert, bleibt ihre Umgebung dem dritten Reich verhaftet. Gespenstig muten die Szenen bei dem Erbespezialisten, einem Professor Freiherr von Liebstedt, an, der wie des Erzählers Eltern aus Rakowiec I kommt, einer, zum Unterschied von Rakowiec II ausschließlich von Deutschen bewohnten Siedlung in einer Sumpflandschaft des ehemals deutschen Ostens. Der Professor, angestellt, die Identität des im Waisenhaus residierenden Findelkindes 2307 mit Arnold festzustellen, bedient sich der gleichen Methoden, derer sich auch die nazistischen Erbgutspezialisten bedient hatten: Fußabdrücke werden genommen, Jochknochen vermessen, die Schädeldecke auf Ihre Ebenheit untersucht, der Fettanteil in der Bauchregion der Familienmitglieder bestimmt, nur um zu dem Ergebnis zu kommen, daß ein Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Findelkind nicht sehr wahrscheinlich ist. Die alten Methoden führen nicht zum gewünschten Resultat; die Mutter erhält ihren ersten Sohn nicht zurück, der Vater muß mit einer weiterhin unglücklichen Frau vorliebnehmen.

Wie es die erzählerische Ironie will, bleibt am Ende auch die Möglichkeit der Adoption verstellt, weil der in Frage stehende Junge inzwischen 18 geworden ist und im übrigen schon von einer anderen Familie adoptiert worden war, denen die Blutsverwandtschaft offenbar nicht so wichtig gewesen ist. Ironisch auch, daß die Mutter des Erzählers diesen Jungen beim Vorbeifahren an einer Fleischerei zwar am Ende wenigstens noch zu Gesicht bekommt, wo er in dem gleichen Beruf arbeitet, wie sein eventueller Vater, aber sich dann doch wie gleichgültig abwendet. Nur der Erzähler, der seinen Bruder nie wiederhaben wollte, scheint die Ähnlichkeit zwischen sich und dem Verkäufer Heinrich bemerkt zu haben und ist betroffen. Der Verlorene scheint gefunden und ist doch sofort wieder verloren.

Die ästhetische Entscheidung des Autors, einen etwa sechzehnjährigen Jungen zum Erzähler dieses Portraits zweier Generation zu machen, hat seine Vorteile, weil sie eine naive, unverstellte, scheinbar unideologische Sicht auf die Details des Familienlebens und seines gesellschaftlichen Umfelds dieser Zeit ermöglicht. Außerdem ergeben sich Verfremdungen bei der Darstellung, die auf natürliche Weise ein ganzes Spektrum von Komik, von versteckten Ironie bis zum beißendem Sarkasmus ermöglichen. Und doch liegen gerade hier auch die Schwächen des Buches. Die Sicht auf diese Zeit bleibt eben auch beschränkt auf den Erlebnishorizont dieses Jugendlichen. Vieles, was der Erzähler nicht wissen kann, bleibt ausgeklammert, und die Sicht auf die frühe Bundesrepublik bleibt daher beschränkt, ohne daß sie als eine ideologische Sicht erkennbar wird. Man fragt sich auch, woher der junge Erzähler vom Dorfe seine Klischees und Ressentiments her hat. Und selbst wenn man geneigt ist, diese Sicht des Lebens auf dem Dorfe der fünfziger und sechziger Jahre für wahr zu halten, fragt man sich, ob sie für die gesamte Zeit verallgemeinerbar ist, wie es Treichels Erzählung nahelegt.

Hingegen ist es Treichels Verdienst, seinen Erzähler nicht nur als Mitleid erregendes Opfer der Verhältnisse dargestellt zu haben. Ähnlich wie Oskar aus Grass' Blechtrommel ist dieser Erzähler auch ein Täter, der sich kaum von seinen halbgeliebten Eltern unterscheidet: Als dicklich, weinerlich und ich-bezogen beschrieben, wirkt er in weiten Teilen wenig sympathisch. So wie das Leben der Eltern auf ihren verlorenen Sohn bezogen bleibt, ist er auf sich und gleichzeitig auf die Eltern fixiert, von denen er abhängt und auf deren jeweilige Lebensäußerungen er psychosomatisch reagiert, ein Sachverhalt, der einen glauben macht, daß nicht etwa Arnold, sondern der erzählende Bruder selbst der Verlorene ist. Wenn er wirklich für die neue Generation, d. h. die zukünftige 68iger Generation steht, gab es wirklich nicht viel zu hoffen für die junge Demokratie in Deutschland, scheint Treichel nahezulegen.

Doch war es so? War die erste Nachkriegsgeneration wirklich nur so, wie man sie in Faßbinderfilmen, in Darstellungen der Gruppe 47 und nun auch in der Erzählung Treichels wiederfindet? Was ist mit den Trümmerfrauen, den Lebenskünstlern auf den schwarzen Märkten und den frühen abenteuernden Existenzgründern? Was mit der Aktion Sühnezeichen, der Aussöhnung mit Frankreich, den jungen Literaten und Künstlern, die gerade aus dem Krieg zurückgekehrt waren und einen neuen Anfang suchten? Waren nicht auch sie Deutschland? Ach diese deutsche linke Untugend, nicht dazugehören zu wollen! Und was war mit der jungen Demokratie? Gab es trotz des alten Personals nicht doch auch Ansätze für sie? Und waren die wirklich Vertriebenen wirklich alle so engherzig und hinterwäldlerich, wenn nicht gar latent faschistisch, wie es bei den Figuren Treichels anklingt? Und die neue Generation, also die 68iger, waren sie wirklich nur ungeliebt und darum wehleidig? Haben sie die heutige Bundesrepublik mit ihren Protesten, ihren Versuchen einen neuen Lebensstil zu leben, nicht mitgestaltet? All das mag auf dem Lande, der Landschaft, in der Treichels Erzählung angesiedelt ist, zumindest in den fünfziger und sechziger Jahren nicht so ins Gewicht gefallen sein, aber zum Bild der frühen Bundesrepublik gehört es doch. Leider macht die Erzählperspektive eine diffenzierte der Sicht bundesrepublikanischen Aufbaujahre kam möglich.

Alles in allem widerspiegelt sich in Treichels Text eine gut geschriebene aber traditionell links-deutsche Sicht auf deutsche Verhältnisse. Unbefriedigend zwar wegen seiner ideologischen Beschränktheit, doch sympathisch auch, weil er sich noch an zentralen Problemen des Landes abarbeitet, statt sie leichtfüßig zu ignorieren, wie die literarischen Texte, die heutzutage unter der Rubrik der „Neuen Lesbarkeit" und „Fräuleinwunder" firmieren und dabei zur Sparte Life-Style-Industrie, wie das Richard Herzinger einmal genannt hat, übergelaufen zu sein scheinen.


Wolfgang Müller
Dickinson College

Endnoten
1 Literarisches Quartett vom 5. 6. 1998, ZDF.
2 In einer On-Line-Rezension (http://www.hagestedt.de/rezensionen/b40Treichel.html)
3 http://home.arcor.de/karger/buechernachlese-archiv/uk_treichel_hans-ulrich_verlorene.html. Weitere Rezensionen zu Treichel von desem Autor sind unter http://home.arcor.de/karger/uk-rez-hans-ulrich-treichel.htm einzusehen.