glossen: rezension
Zoderer, Joseph. Der Schmerz der Gewöhnung. München/Wien: Carl Hanser Verlag, 2002. 290 S.

In dem Roman Der Schmerz der Gewöhnung (2002) bleibt der Südtiroler Autor Joseph Zoderer den Grundthemen seiner früheren Prosawerke verhaftet: einerseits das rastlose Fragen und Suchen nach Zugehörigkeit und Identität, nach Geborgenheit und Gewißheiten, nach Heimat schlechthin, andererseits aber auch Trennungsschmerz, Entfremdung, Ferne und Flucht. Da ist die Geschichte von Olga in Die Walsche (1982), die als deutschsprachige Südtirolerin einen Italiener, einen „Walschen“ heiratet, die plötzlich nirgendwo mehr „dazugehört“ und sich fremd fühlt zu Hause in Südtirol. Mit Olga konzipierte Zoderer eine literarische Figur, auf der der Autor das ambivalente Spannungsfeld des Zusammenlebens Angehöriger verschiedener ethnischer Gruppen ausbreitet. In dem Roman Lontano (1984) läßt Zoderer seinen Protagonisten in rast- und ziellosen Fluchtbewegungen schmerzhafte Trennungsprozesse durchleben, um in der physischen „Ferne“ (lontano) auch eine psychische Entfernung zu gescheiterten Beziehungen zu gewinnen.

In Der Schmerz der Gewöhnung bündelt Zoderer alle diese Themenbereiche in intensivierter Form und erzählt aus der personalen Perspektive der dritten Person in leisen, aber zwingenden Tönen von den (Selbst-)Erfahrungen und widersprüchlichen Gefühlen seines Protagonisten. Den Journalisten Jul treibt es in die sizilianische Stadt Agrigento, um in dieser „sonnigen Verlassenheit“, wo ihm jede Einengung unmöglich schien, „die Meter seines Lebens“ zu messen, eine Bestandsaufnahme seiner bisherigen Lebenserfahrungen zu machen. Aus dieser räumlichen Distanz zu seinem Geburts- und langjährigen Wohnort in Südtirol will Jul aber auch jene „Entfernung“ abschreiten, die ihn von seiner Frau Mara und ihrer Welt seit dem Unfalltod ihrer gemeinsamen Tochter Natalie trennt. In dieser Vergegenwärtigung der Vergangenheit irrt Jul ziellos umher, ringt mit existentiellen Fragen und schmerzhaften Erinnerungsprozessen, und bemüht sich vergeblich, sich an die Brüche und Widersprüchlichkeiten in seinem Leben zu gewöhnen oder sie zu verdrängen und zu vergessen. Die „Heimatkrallen“ des alpenländischen Nordens lassen ihn scheinbar nicht los. Immer wieder kehren seine Gedanken facettenhaft zurück zu seinem Leben mit Mara, der Tochter eines Mussolini-Offiziers und Parteifunktionärs aus Agrigento und einer deutschsprachigen Mutter aus Südtirol. Er wird zum „Mitwisser“ von Maras Verschiedenheiten durch ihre „zwiespältige Heimat“, von ihrer „Verwandlung von italienischer Italienerin in eine deutsche Italienerin“, „von deutscher Italienerin in eine italienisch-deutsche Südtirolerin“. Und doch ist es das Italienische, das Fremde, das Andere, das Jul anzog, ihn den Sohn von „Optanten“, also von jenen deutschsprachigen Südtirolern, die sich für Hitler-Deutschland entschieden hatten und nicht wie die „Dableiber“, die „Heimatverräter“, für Mussolini-Italien.

Zoderer läßt Mara und Jul kurzfristig der konfliktgeladenen sozio-historischen Realität Südtirols, die sie beide als „Fremde“ erleben, entfliehen. In landschaftlicher Abgeschiedenheit erwerben sie ein Bauernhaus, erfreuen sich an ihrer gemeinsamen Tochter Natalie, leben im Jetzt, schweigen über die Vergangenheit, auch über die faschistische Vergangenheit ihrer Väter. Im Laufe der Jahre „zwischen Wiesenrändern und Waldbäumen“ wird diese Illusion einer „eindeutigen Zugehörigkeit“ des isolierten Familienlebens langsam durch einen schleichenden Entfremdungsprozess zwischen Jul und Mara unterhöhlt. Doch erst mit dem Unfalltod Natalies klafft die Wunde des Fremdseins auf und sie rückt Jul schmerzhaft ins Bewußtsein. Und plötzlich werden auch jene Risse, „die sich wie unsichtbare Gräben quer durch die Freundes- und Familienbande“ ziehen, wieder sichtbar. Jul, der sich bislang selbst als „einheimischer Fremder“ definiert hatte, registriert erschreckend seine provokativen Zugehörigkeitsbezeugungen zu jenen „lederhosigen Heimatverteidigern“ und „selbsternannten Heimatbesitzern“, die er in seiner journalistischen Tätigkeit früher selbst vehement bekämpft hatte. Jul weigert sich, Mara und ihre Familie als „echte Einheimische“ anzusehen. Sie bleiben Italiener, und aufgrund ihrer anderen Herkunftsgeschichte als die deutschsprachigen Südtiroler sind sie in dieser Region lediglich geduldete „Heimatfremde“, „Gäste“. Dennoch muß sich Jul in Agrigento eingestehen, „daß er diese unbefristete Fremdheit im Süden gesucht hat, um in Maras anderer Heimat zu verschwinden.“

Die Verbitterung um den Verlust des Kindes, die Entfremdung von Mara und von sich, die Abnabelungsprozesse, das Geflecht von Widersprüchlichkeiten, das keine Gewißheiten zuläßt, kommen Jul einer „langsamen Selbsttötung“ gleich. Nur noch einige wenige Augenblickserinnerungen erlauben Jul „ein Zurückfinden in Winkel abhanden gekommener Vertrautheiten“, in „unscheinbar kleine Momente seiner Kindheit“. Zoderer intensiviert Juls psychische Selbstzerstörung mit dessen körperlichen Verfall durch eine irreversible Krankheit (vermutlich ein Gehirntumor). In dem schäbigen Hotelzimmer in Agrigento überkommen den Protagonisten Angstzustände, rasende Kopfschmerzen, Übelkeit, Erschöpfung und Halluzinationen, die zur Metapher des Erinnerns gerinnen: „Dieser Zwang zum substanzlosen Ausspucken von Bitterem, als wäre es grünbraune Galle und kein Erinnern.“ An Textstellen wie dieser, die der Autor durch Metaphorik verdichtet, wirkt sein Erzählen am eindringlichsten. Besonders gelungen ist die Waldmetaphorik, die als „Erinnerungsboden“ mehr oder weniger den gesamten Roman durchzieht und Juls diverse Gefühlszustände bis hin zu seiner „Auflösung“ begleitet.

Andere erzähltechnische Elemente, mit denen Zoderer den Text anreichert, sind die zahlreich eingestreuten Rückblenden, durch die er Jul mikroskopisch vergrößerte Erinnerungssplitter erleben läßt. Ebenso schafft der Autor eine Reihe von Kontrasträumen und verknüpft damit den Text zu einem mehrdimensionalen Bezugsgeflecht, das sowohl Juls Geschichte als auch gleichzeitig eine Geschichtschronik seiner Heimat Südtirol umschließt. Dabei entstehen keine kohärenten Bilder, sondern Kaleidoskope retrospektiv wahrgenommener Lebenserfahrungen, in denen im Schmerz der Gewöhnung Risse und Brüche eines kulturellen Unbehagens im interethnischen Zusammen- bzw. Nebeneinanderlebens spürbar werden. Vielleicht sind es jene Risse, die Zoderer in seinen diskursiven Auseinandersetzungen mit dem fluiden Begriff „Heimat“ freilegen will, wie er vor einiger Zeit einmal in seinem Essay „À propos Heimat“ erklärte: “Weil Heimat für mich der absolute Ort des Selbstverständlichen ist, ist Heimat für mich der absolute Ort des Fragens, der Ort der Herausforderung, die Lebensprovokation: Eine glatte Wand, eine perfekte Mauer, die mich reizt, nach Rissen zu suchen.”

Siegrun Wildner
University of Northern Iowa