anmerkungen


Anmerkungen zu W. G. Sebalds Luftkrieg und Literatur
Stefan Busch

Die Reaktionen auf W. G. Sebalds Essay über Luftkrieg und Literatur, hervorgegangen aus einer 1997 in Zürich gehaltenen Vorlesungsreihe, waren in der Mehrzahl polemisch und verwarfen die Arbeit aufgrund tatsächlicher oder unterstellter Schwächen. Dies ist bedauerlich, weil Sebald selbst sein Unternehmen als eine erste, ergänzungs- und überdenkensbedürftige Annäherung verstanden hatte.[1] Eine solche Diskussion wurde unterbunden, zumindest erschwert durch die häufig mustergültig stereotypen Rezensionen (Sebald habe die deutschen Täter zu Opfern machen wollen; seine Literaturkenntnis sei unvollständig und selektiv; er sei, weil er Arno Schmidt kritisierte, ein Antimodernist etc.). Außerdem gab es die zu erwartende Zustimmung von der falschen Seite, doch dazu später.

Dabei dürfte Sebalds Ausgangsthese unbestreitbar sein, daß nämlich „das wenige uns in der Literatur Überlieferte sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht in keinem Verhältnis zu den extremen kollektiven Erfahrungen jener Zeit" steht. Dieser Befund ist um so erstaunlicher, als es in der Nachkriegsgesellschaft das lange angenommene Beschweigen - kommunikativ oder nicht - der jüngsten Vergangenheit nicht gab. In seiner wenig beachteten Untersuchung der Fortsetzungsromane und „Tatsachenromane", die in den 50er Jahren in Massenzeitschriften wie Quick und Stern wöchentlich erschienen und von Millionen gelesen wurden, arbeitete Michael Schornstheimer heraus, daß die - ohnehin oft leichtfertig ausgeweitete - These vom Verdrängen und Beschweigen durch die historischen Tatsachen nicht gedeckt wird. Von einer Bewältigung der Vergangenheit könne keine Rede sein, denn der Diskurs verfuhr äußerst selektiv, aber „es gab doch eine permanente Beschäftigung mit der jüngst vergangenen Zeit, eine manische, leidenschaftliche, besessene Beschäftigung"[2]. Möglicherweise wird weitere Archivarbeit noch gegensätzliche Befunde zutage fördern, aber bisher scheint es, als sei das Überleben und Sterben im alliierten Bombenhagel aus diesem Prozeß gesellschaftlicher Selbstverständigung ausgeschlossen geblieben.

Genau hier setzte Sebald an. Er konstatierte ein umfassendes Schweigegebot - „vom Familiengespräch bis hin zur Geschichtsschreibung" (S. 82) -, sein eigentliches Thema aber war das Schweigen der Literaten. Sie hätten versagt, denn ihre Aufgabe sei es gewesen, die Erinnerungen wachzuhalten, zum einen aus Chronistenpflicht, zum anderen um den pathologischen Folgen entgegenzuarbeiten, die das Verdrängte, Unverarbeitete im kollektiven Seelenhaushalt auslöste. An verschiedenen Stellen seines Essays nennt Sebald eine Reihe von Gründen für dieses Schweigen der Schriftsteller, ohne daß das Verhältnis dieser Gründe und ihre Gewichtung diskutiert würde. In dieser Hinsicht besteht tatsächlich Klärungsbedarf. Wenn etwa Sebald als ersten Grund für die Absenz des Themas Luftkrieg im Werk der später kanonisierten Nachkriegsautoren die Notwendigkeit erwähnt, die eigenen Vergangenheiten begradigend nachzubessern (vgl. S. 8), so wird diese verallgemeinernde These vom weiteren Text nicht gedeckt (Sebald hatte A. Andersch im Blick); außerdem verträgt sich dieser Erklärungsansatz kaum mit den weiteren Argumenten, die Fixierung der Heimkehrer auf die Fronterfahrungen habe sie blind gemacht „für die allerorten sichtbaren Schrecken der Zeit", und diese selektive Wahrnehmung sei ein „wahrscheinlich von vorbewußten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf keinen Begriff mehr zu bringenden Welt" (S. 17-8) gewesen.

Kalkül also, oder Beherrschung durch traumatische Erfahrungen und/oder unbewußte Abschottung gegen eine chaotische Welt? Könnte es sein, daß die argumentative Schwäche in den Generalisierungen liegt? Sie ermöglichten es den Rezensenten, die Steckenpferde zu besteigen und „ihren" Autor als zu Unrecht attackiert und falsch kategorisiert zu verteidigen. Die Unklarheit in Sebalds Arbeit ist jedenfalls offensichtlich, es kann aber nicht um das Ausspielen des einen gegen das andere Argument (mit dem Ergebnis der gewollten oder ungewollten Eskamotierung des Themas insgesamt) gehen, weil bei der Komplexität des Phänomens eine Vielzahl in gleicher Richtung wirkender Faktoren anzunehmen ist. Hier sei nur noch auf einen solchen Faktor hingewiesen, der von Sebald en passant in der Nachschrift, die sich mit den ersten Reaktionen auf seine Thesen beschäftigt, genannt wird. Der Autor berichtet von Leserbriefen (vgl. S. 92), in denen der Wunsch erkennbar wurde, die Deutschen als Opfer und nicht (länger?) als Täter dargestellt zu sehen. Diese Art verlogener Geschichtskonstruktionen war nach 1945 bei Altnazis und jüngeren Rechtsradikalen weit verbreitet. So verkündete Hans Grimm weiterhin unbeirrt sein vor 1933 paranoides, später obszönes Glaubensbekenntnis: „Das deutsche Volk hat dennoch der Welt gar nichts angetan, sondern ihm ist angetan worden bis zur schließlichen Verzweiflung."[3] Ein weiteres Beispiel: 1951 veröffentlichte Paul Coelestin Ettighoffer, ein schnellschreibender Opportunist höchsten Grades,[4] seinen „Tatsachenroman" Das Mädchen ohne Stern. Darin erzählte Ettighoffer, unter dessen mehr als dreißig in der NS-Zeit publizierten Büchern einige eindeutig antisemitisch waren, von der Flucht einer jüdischen Deutschen jugendlichen Alters vor der Gestapo. Die Story geriet Ettighoffer aber zur Demonstration der Anständigkeit der von einer kleinen verbrecherischen Clique verführten deutschen Bevölkerung. Ihr scheinbar aus dem historischen Nichts hereinbrechendes Leiden im Bombenkrieg wird in einem Kapitel über den Untergang von „Destadt" geschildert, bzw. im routinierten PK-Kriegsberichterstil dramatisch präsentiert: „Immer rascher, immer höher, immer zorniger die Töne, und dann schlug es wie mit Riesenfäusten auf die Erde, mitten in dichtbewohnte Stadtviertel, auf Plätze und Anlagen, auf Straßen, in Kirchen und Krankenhäuser."[5] Die Literatur über den Luftkrieg gab es, aber sie entstand in mindestens dubiosen Winkeln und aus verdächtigen Motivationen.

Wohl ohne die ideologisch-publizistischen Verbindungen vollständig zu erkennen, war Sebald auf ein weiteres solches Beispiel gestoßen. Er verweist darauf, daß häufig Untersuchungen und Romane, die die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg zum Thema hatten, „an mehr oder weniger abgelegenen Stellen" erschienen (S. 20) und nennt in diesem Zusammenhang Hans Brunswigs Feuersturm über Hamburg, ein 1978 im Stuttgarter Motorbuch Verlag erschienenes Buch. Dieser Verlag ist einschlägig bekannt. Wie eine Reihe anderer Verlagsunternehmen wendet sich Motorbuch „mit Publikationen, die den Zweiten Weltkrieg zum positiven Erlebnis stilisieren, vor allem an die Mitglieder der soldatischen Traditionsverbände und an die (oft jugendlichen) Leser der sogenannten &Mac226;Landser'-Hefte."[6] Das Verfahren ist notorisch. Bei Schornstheimer z.B. ist dokumentiert, wie der Krieg als sauberes Unternehmen deutscher Mannen dargestellt wurde, solange die Deutschen im Vorwärtsgang operierten; wenn allerdings Deutsche die Opfer waren, dann wurden und werden die grausamen Details geschildert. Dies geschieht allerdings, wie Sebald zu Recht betont, in einer Sprache, die das individuelle Leiden ausblendet, aus Unvermögen und weil die Autoren immer schon die Ebene „deutschen Leidens" im allgemeinen anvisiert haben.

Im Kontext von Sebalds Archäologie des Schweigens machen solche Beispiele jedenfalls deutlich, daß die Beschreibung des Leidens und Sterbens der Deutschen im Bombenkrieg Gefahr lief, in der jungen, als gefährdet empfundenen Demokratie Westdeutschlands Wasser auf die Mühlen der Unbelehrbaren zu leiten. Das ist, dies sei explizit gesagt, keine ausreichende Erklärung für das Nichtthematisieren der Zerstörung deutscher Städte in der Nachkriegsliteratur, zumindest solcher von Rang. Dennoch ist dies ein weiterer Faktor. Zieht man ihn in Betracht, so erscheint z.B. Arno Schmidts Erzählverfahren in Aus dem Leben eines Fauns (1953) - von Sebald, wie auch ich finde, unnötig polemisch als „linguistische Laubsägearbeit" (S. 70) abqualifiziert - als ein probates Mittel, um falschen Vereinnahmungen einen Riegel vorzuschieben. Dieser Gefahr auszuweichen und gleichzeitig eine breite Leserschaft anzusprechen, um der Wortlosigkeit entgegenzuwirken, dürfte eine unlösbare Aufgabe gewesen sein.

Endnoten

1. Vgl. W. G. Sebald, Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch (München, Wien: Hanser Verlag, 1999), 81 u. 91. Belege im folgenden im laufenden Text.

2. M. Schornstheimer, „Harmlose Idealisten und draufgängerische Soldaten. Militär und Krieg in den Illustriertenromanen der fünfziger Jahre", H. Heer / K. Naumann (eds.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944 (Hamburg: Hamburger Edition, 1995) 634-50 (hier 634).

3. H. Grimm, Warum – Woher – Aber Wohin? (Lippoldsberg: Klosterhaus, 1954) 199. Hervorhebung im Orig.

4. P. C. Ettighoffer, Das Mädchen ohne Stern. Tatsachen-Roman (Essen: Wilhelm Spael, 1951) 137. Zu diesem heute aus guten Gründen vergessenen Auflagenmillionär vgl. J. Hillesheim / E. Michael, Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1993) 161-70.

5.T. Assheuer / H. Sarkowicz, Rechtsradikale in Deutschland. Die alte und die neue Rechte (München: Beck, 19922) 74.

6.Schornstheimer [wie Anm. 2], 644-45. Detaillierter in M. Schornstheimer, Die leuchtenden Augen der Frontsoldaten. Nationalsozialismus und Krieg in den Illustriertenromanen der fünfziger Jahre (Berlin: Metropol, 1995) 156-59.