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Fritz Rudolf Fries' Roman Der Roncalli-Effekt im Umfeld seiner Autobiographien Im Jahr des Hahns und Diogenes auf der Parkbank
Christine Cosentino

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde es für auffallend viele ostdeutsche Autoren zur literarischen Kür, mit Rückblicken auf ihren untergegangenen Staat aufzuwarten. Diese Retrospektiven gestalteten sich in Form von Autobiographien, Memoiren, Erinnerungen, Tagebüchern, Aufzeichnungen oder auch in verschlüsselter Form im fiktiven Gewand. Zu tun hatte damit sicherlich in einigen Fällen auch die umfangreiche Aktenhinterlassenschaft der Stasi, die Schatten auf so manchen warf. Verwirrungen, Verirrungen und Verfehlungen wurden bloßgelegt, und den von außen aufgestellten Maximen entsprechend, erwartete man eine Beurteilung oder Verurteilung des jeweils als "schuldig" befundenen Autors. Kurzum, ostdeutsche Autobiographen, mit oder ohne Stasi-Involvierung, warteten mit Selbstvergewisserungen auf, mit Selbstbefragungen, Rechtfertigungen, Selbstanklagen oder mit einem Neubeginn.[1] Erinnert seien u.a. Stefan Heyms Nachruf (1990), Erich Loests Der Zorn des Schafes (1990), Heiner Müllers Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen (1992), Hermann Kants Abspann (1991), Jürgen Fuchs' Magdalena (1995), Günter de Bruyns Zwischenbilanz (1992) und Vierzig Jahre (1996) oder Monika Marons Pawels Briefe (1999).

Das Thema der bilanzierenden Rückschau hat inzwischen längst an Brisanz verloren. Trotzdem sollen in dieser Analyse die Rückblicke des begabten, als IM "Pedro Hagen" enthüllten Schriftstellers Fritz Rudolf Fries noch einmal reflektiert werden, der sich um die Jahrtausendwende verschiedener Formen des Autobiographischen gleich dreimal bediente. Fries hatte etwa im Jahre 1976 eine Verpflichtungserklärung als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi unterschrieben, was ihm Reisefreiheit und Freiräume in seiner Arbeitssphäre garantierte. Er veröffentlichte im Jahre 1996 das Tagebuch Im Jahr des Hahns [2], 1999 den u.a. auch als autobiographische Verschlüsselung zu verstehenden Roman Der Roncalli-Effekt [3] und kurz danach, im Jahre 2002, die autobiographischen Erinnerungen Diogenes auf der Parkbank [4]. Fries, dessen umfangreiches literarisches Werk aus dem zeitlichen Umfeld von rund dreißig Jahren wegen des Stasi-Skandals keineswegs an Wert verliert - man denke etwa an seinen Debütroman Der Weg nach Oobliadooh (1966 BRD, 1989 DDR) oder den Schelmen- und Familienroman Das Luft-Schiff (1974) - hat sich in den letzteren drei Werken strikt geweigert, sich von der Öffentlichkeit, den Literaturkritikern, wohl auch von den ehemaligen DDR-Autorenkollegen richten bzw. verurteilen zu lassen. Der Mythos einer rechtfertigenden, mit subjektiven Wahrheiten befrachteten "Lesart" einer Autobiographie, der im Wesen der autobiographischen Gattung angelegt ist, kommt dem Bestreben des Autors Fries entgegen.

Für die amerikanische Literatur arbeitete der Theoretiker Timothy Dow Adams in seinen Betrachtungen über die Autobiographie mit dem Begriff des Lügenerzählens:

All autobiographers are unreliable narrators, all human beings are liars [...] What we choose to misrepresent is as telling as what really happened, because the shape of our lives often distorts who we really are. I believe autobiography is the story of an attempt to reconcile one's life with one's self and is not, therefore, meant to be taken as historically accurate but as metaphorically authentic.[5]

Konzilianter beurteilte Roy Pascal die problematische Selbstinterpretation eines autobiographischen Ichs: "Die eigentliche Autobiographie [...] ist die Gestaltung einer Persönlichkeit." [6] Im vereinigten Deutschland widmete der an Redlichkeit nicht zu überbietende Autor Günter de Bruyn dem tückische Genre der Autobiographie eine lange theoretisch-methodische Abhandlung mit dem Titel Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der deutschen Autobiographie (1995). Er wies auf den Charakter der "Lesart" eines Lebensweges, der Verführung zum Zusammenbasteln einer "Lebenslegende", betonte aber immer wieder den Grundsatz der "Schonungslosigkeit" [7] und des Mißtrauens dem eigenen Gedächtnis gegenüber: "Widersprüche, die sich nicht auflösen wollen", folgert er, "sollte man nicht vertuschen, sondern stehen lassen, mit einem Erklärungsversuch vielleicht." [8] In seinen eigenen zwei Autobiographien Zwischenbilanz und Vierzig Jahre klagt sich de Bruyn vor der lesenden Öffentlichkeit schonungslos selbst an, der perfiden Taktik der Stasi nicht immer effektiv widerstanden zu haben.

Ganz anders der Autor einer ganzen Reihe von Schelmenromanen Fritz Rudolf Fries. Was erhellende historische Memoirenliteratur hätte werden können, dient der Verhüllung. Lebensentscheidungen, die Konsequenzen hatten, gerinnen zum unverbindlichen Rollenspiel auf der Bühne bzw. in der Manege oder in einem symbolischen Zirkus, genannt DDR. In seinem Tagebuch Im Jahr des Hahns heißt es zwar selbstkritisch: "Jedes Erinnern ist ein Zurechtlegen, ein Interpretieren, ein Ergänzen und Weglügen" (H 27); dann jedoch wird relativiert: "Ich habe weder vor, die Rolle des Sünders noch des Opfers zu spielen" (H 170). Es ist von Interesse, daß hier bereits bewußt oder unbewußt mit der Metapher des Spiels gearbeitet wird, die sich dann im folgenden Werk, Der Roncalli-Effekt, zur Geschichte eines Clowns verdichtet, der im konkreten und philosophischen Sinne u.a. auch über den realsozialistischen Staatszirkus und den historischen Zirkus namens "DDR" sinniert: "Nur wer mit der Macht geht, kann sich von Fall zu Fall seine eigenen Späße leisten. Liegt die Macht am Boden, stolpert auch der Clown und schlägt lang hin" (R 234). Ausdrücklich heißt es aber; "Erwarten Sie, Signori, keine Geständnisse" (R 17).

Der Clown beurteilt zwar sich selbst, läßt sich aber von der Öffentlichkeit nicht richten. Obwohl er einen ihm angelasteten Mord letztlich zugibt, relativiert er sein Bekenntnis jedoch wieder augenzwinkernd: "Es steht alles in den Akten, sage ich, es war ein Komplott von langer Hand, das ich für mich zu nutzen verstand" (R 244). In den Erinnerungen, genannt Diogenes auf der Parkbank, die dem Roman folgen, spielt der Titel auf eine Haltung kontemplativen Müßiggangs (die Parkbank) an und auf den sich als Weltbürger bezeichnenden "zynischen" griechischen Philosophen "in der Tonne" [9], der sich über Hohn, Spott und Schläge der Menschen erhaben glaubte.[10] In diesem Band heißt es dann wieder verbohrt, nicht zuletzt aber auch "zynisch": "Vor der Tür rumort ein Kamerateam, das nur darauf wartet, mich ins Visier zu bekommen, um den Fernsehzuschauern entweder das Bild eines zerknirschten Sünders oder unbelehrbaren Verbrechers vorzuführen. Wie ich mich kenne, spiele ich lieber den unbelehrbaren Verbrecher" (D 230; meine Kursivierung). Was ist aber nun Spiel , was ist Wirklichkeit? Die Tatsache, daß Fries, der studierte Romanist und Komparatist, sich für das El Criticon des spanischen Moralphilosophen und Jesuiten Baltasar Gracian (1601-1658) begeisterte, könnte erhellend wirken. Gracians Rat für Menschen, die in hierarchischen Machtstrukturen leben, kann auf folgende Formel gebracht werden: Spiel mit, aber sei dir dessen stets bewußt. Der Kritiker Steffen Richter zieht dazu eine treffende Bilanz: "Fries, der seinen Lesern seit Jahrzehnten vorspricht, das Leben imitiere bisweilen die Kunst, scheint seinen vorsätzlichen Grenzverwischungen zwischen Fiktion und Realität zum Opfer gefallen zu sein." [11] Es ist von Interesse, daß sich Fries auch in seinen Erinnerungen Diogenes ... selbstgerecht eines aufschlußreichen Zitats von Gracian bedient, das dem Werk als Motto vorangestellt ist: "Wir reden in zwei Sprachen gleichzeitig, und wer sagt, er verstehe uns nicht, dem antworten wir, wir selbst verstünden uns gar wohl".

Sein Verwickelt- und Verstricktsein mit der Stasi spiegelt sich in einem Gewebe von Intertexten, einem komplexen Ineinander verschiedener Genres. Wie ein Triptychon umrahmen die beiden Autobiographien das mittelstückartige fiktive "Verhüllungs- und Enthüllungsspiel" [12] des Romans Der Roncalli-Effekt. Die eigene trotzig rechtfertigende "Lesart" des Lebensweges in dem Diarium Im Jahr des Hahns verselbständigt sich - so eine mögliche Interpretation - in der fiktiven Geschichte des Clowns August Augustin und wird von hier aus wieder auf das Genre der erinnernden Autobiographie, also Diogenes auf der Parkbank, zurückgeleitet. Gemeinsam ist allen drei Werken eine in vorangestellten Mottos oder in eingestreuten Reflexionen betonte Vorliebe für den begabten französischen Autor Louis-Ferdinand Celine, einen Menschen "mit brüchiger, dabei erklärbarer Moral" (D 259). Mit erstaunlicher Rechtfertigungsakrobatik zitiert Fries Celine bereits in einem den Tagebüchern Im Jahr des Hahns vorangehenden Motto: "[...] aufs Trapez, alter Clown! und ruckzuck! [...] immer höher! Sie werden schon erwartet! Das Publikum verlangt nur eins: daß man sich die Schnauze zerschlägt!" Ebenfalls fällt eine Fülle von leitmotivartig vorwärts- und rückwärtsverweisenden Themen, Motiven und Koordinaten auf, wie eben der Clown selbst, das Rollenspiel, die Welt als Schmierentheater oder Zirkus, der Außenseiter, das Unbehaustsein, die Doppelexistenz bzw. Doppelgesichtigkeit, der Doppelname, die Bewußtseinsspaltung, dann Widersprüche der doppelten Herkunft und Lebensmaxime wie "kalkulierte Schizophrenie" und "spanische Gesinnung", d.h. eine von der Großmutter ererbte stoische Gelassenheit. Der Roman Der Roncalli-Effekt leistet in diesem autobiographischen Triptychon dann das, wozu das Genre der Autobiographie kaum berechtigt ist: er spricht frei. "Die Kunst, Signori, gibt preis, aber sie richtet nicht" (R 98), bilanziert der Clown.

Der gewitzte Humorist Fries und seine literarischen Schelmen-Protagonisten, die sich in der DDR-Kulturszene durchaus durchzuschlängeln verstanden, ist sich des enormen Aussagepotentials der Clowns-Metapher bewußt. In Anlehnung an Gertrude Steins berühmte Maxime "A rose is a rose is a rose" [13] heißt es in seinem Roman dann auch spielerisch: "Ein Clown ist ein Clown ist ein Clown" (R 12). In diese Branche gehört sowohl der mit der Macht kollaborierende "weiße Clown" als auch der aufmüpfige "rote" (R 12-13). Aus einer Fülle von Interpretationen aus der traditionellen literarischen Motivgeschichte läßt sich für Fries' Clownsfigur Augustin in ihrem Gefangensein zwischen Macht und Ohnmacht, d.h. des Schwingens zwischen den Rollen von weißem und rotem Clown, folgende Definition als akzentsetzend herausstellen:

Der Clown vermittelt aus seiner Perspektive immer eine gegensätzliche Einsicht in das Handlungsgeschehen. Die Figur ist daher nicht auf Situationskomik oder die Vorstellung
des Komischen begrenzt, denn ihr Auftreten kündet die Unsicherheit in der Verwirklichung jeder absoluten Zielsetzung der Pläne der anderen Figuren an
.[14]

Auf der Folie eines Staatszirkusses geht es in dem Roman um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten großer Ideen und Illusionen, um einen neuen Typ von sozialistischem Clown, kurz "um die Begierde der Staatspartei, auch hier [im Zirkus] den Sozialismus aufzubauen." [15] Schon in Fries' Diarium Im Jahr des Hahns, das sich im wesentlichen auf die Jahre 1979, 1984, 1993 und 1995, also die Zeit der Akteneinsicht in der Gauck-Behörde beschränkt, kündigt sich der Gedanke des tragisch-komischen Clowns als Hauptfigur an: "Die Biografie eines Clowns schreiben, dessen Leben und Spiele im Circus des Jahrhunderts enthalten" ( H 152). 1999 wird diese Figur dann zur fiktiven Romanfigur, die seinem Schöpfer in biographischen Überschneidungen und Affinitäten sehr nahe steht. Wahrscheinlich glaubte der "Schelmen-Autor" Fries, er könne die Stasi überlisten und die Kontrolle über gegebene Informationen behalten. Dazu eine treffende Beobachtung Manfred Jägers: "Gern sähe sich der Liebhaber von Schelmenromanen und Hochstaplerfiguren als melancholischer Clown im Zirkus der Welt. Aber auch in der Nacht der Diktatur sind nicht alle Katzen grau, und in der Manege laufen neben listigen Seiltänzern und grell geschminkten Spaßmachern auch Dompteure herum." [16] Worum geht es im Roman?

Der Clown August Augustin, Sohn einer italienischen Mutter, kommt von West- nach Ostberlin, wo er am 13. August 1961 die achtzehnjährige Kindfrau Anne heiratet, die er Zanetta nennt. Auch sie ist der Zirkusatmosphäre fanatisch ergeben. Er findet Anstellung im östlichen Zirkus, hauptsächlich, weil er mit der Unterstützung von Don Pepponi rechnen kann, denn dieser hatte in der DDR "die Zeichen der Zeit" erkannt und sich, "von wem auch immer begünstigt, zum Verwaltungsdirektor des künftigen Staatscircus" (R 30) aufgeschwungen. In dieser Eigenschaft bittet er seine Artisten um ihre Unterschrift auf eine Ergebenheitserklärung, die er den Vätern der Mauer zuschicken will. Alle unterschreiben. Don Pepponis Zirkuskarriere ging über Partei und Studium; August Augustin, der nie Mitglied einer Partei war, glaubte zunächst, er könne sich auf sein natürliches Talent verlassen, um Clown zu werden, ein roter, also aufmüpfiger, kritischer Clown . Doch immer wieder verfängt er sich im Konzept und in den Fallstricken eines "weißen Clowns"-Seins, denn mehr und mehr bastelt er mit anderen Artisten am erneuernden "Roncalli-Effekt" einer sozialistischen Zirkusstrategie. Der lustige "Clown"-Papst Johannes XXIII, mit bürgerlichem Namen Roncalli, der für frischen Wind im Vatikan sorgen wollte, dient als ironisches Modell. Nach dem Fall der Mauer sitzt Augustin in einem Gefängnis in Venedig, wo er angeklagt ist, seine Geliebte, die Dompteuse Clarissa mit einer Schreckschußpistole erschossen zu haben. Die Haft dient der Reflexion über sich selbst und dem vergangenen Staatszirkus, kurz über die "DDR als Zirkusnummer", über sein eigenes Sein als "sozialistischer Clown".

Fries' Romantitel, der zunächst an den in der BRD wirklich existierenden Zirkus Roncalli erinnert, verweist - wie bereits oben erwähnt - auf die historische Figur des Papstes Johannes XXIII (1881-1963), dessen bürgerlicher Name Roncalli war. Der für seinen Witz und Humor bekannte "lachende" [17] Papst Roncalli ist dem 20. Jahrhundert als der große Reformator und Erneuerer in der katholischen Kirche bekannt. Man denkt wohl hauptsächlich an seine Berufung und Eröffnung des 2. Vatikanischen Konzils im Jahre 1962 und an seine ungewöhnliche Außenpolitik. Dazu die Meinung des Clowns Augustin, der das "Zauberwort Roncalli" (R 94) folgendermaßen interpretiert:"Einer der heitersten und zugleich aufsässigsten Päpste der neueren Zeit. Scheut sich nicht, als Stellvertreter Christi, Briefe mit Chruschtschow über die Verbesserung der Welt zu tauschen". (R 94) Auch bei ihm findet sich der Gedanke des doppelten Namens, des Agierens in zwei Sphären, der öffentlichen und der seiner Herkunft. Fries blendet den Erneuerungsgedanken durchgehend als "Roncalli-Effekt" in die Handlung ein, beleuchtet damit Ideen, die im konkreten Staatszirkus und in der "Arena DDR" wenig machbar waren: versprochenes Futur, das nicht Präsens wurde. Im Spielraum der Macht, die "Großes" verspricht, agiert der Clown Augustin, der seine Ohnmacht traurig-schlitzohrig zu verhüllen oder zu neutralisieren bzw. für sich auszunutzen versucht. Erinnern wir uns: "Nur wer mit der Macht geht, kann sich von Fall zu Fall seine eigenen Späße leisten." (R 234) Hier ist von Interesse, daß Fries seinem Roman ein Zitat von Wolfgang Koeppen als Motto voranstellt, das suggeriert, man könne auch Gegenteiliges tun, nämlich sich der Macht verweigern und den selbstkritischen Rückblick wagen: "Sitzen Dämonen am Rande der Welt wie Zuschauer um die Manege im Zirkus. Du bist der Clown. Befrei dich von Größenwahn. Keine Dämonen, kein Zirkus, kein Clown." Daß er, der "rebellische, clevere rote Clown", - die Nähe zu Fries' eigener Biographie ist offensichtlich - nun doch dem Größenwahn der "Weißclown-Macht-Kontrolle" erlag bzw. dem Plan der Stasi-Überlistung nicht gewachsen war, davon zeugt die folgende Reflexion: "Der Weißclown ist der Mann der großen Pose [...] ein Protz ist er, ein Mussolini unter den Clowns [...] Ich gebe zu, seine Unheimlichkeit kommt daher, daß er über den Dingen steht und zwischen Diesseits und Jenseits gebietet. Und ich gebe zu, in späteren Jahren hat mich dies gereizt - der Abstand, die schweigende Distanz und der Anschein von Macht". (R 12-13) Es gelang weder der fiktiven Figur des Clowns noch Fries selbst, Abstand zu wahren und die Macht bzw. die Stasi hinters Licht zu führen.

Von Bedeutung ist, wie sich Augustin in die "Dialektik von Macht und Ohnmacht" (R 12) selbst einbindet. Sieht man den "Roncalli-Effekt" im Zusammenspiel der Meinungen verschiedener Romancharaktere als eine ironisch gebrochene Betrachtung der "Verbesserung der Welt" (R 94), als "in diesem Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus die angestrebte Aussöhnung der Gegensätze. Die Verrenkung der Artisten in Schönheit" (R 95), so spielt (!) Augustin die Rolle des Hamlet: "Ich mache dir [also spiele] in der nächsten Spielzeit den Hamlet. Hamlet, das ist der durch Roncalli geläuterte Clown. Aber ich sage dir: die Welt geht daran vorbei, an beiden" (R 96; meine Kursivierung). Doch diese Art von geläutertem Clown gab es nicht, denn der Roncalli-Fortschritt blieb in der DDR ein Hirngespinst, eine utopische Seifenblase, in der Zirkussphäre bestenfalls eine Luftnummer ohne Performer. Doch im größeren politisch-historischen Rahmen bedeutet das auch, daß dem Weiterwirken großer Ideen und Programme oft Hemmkräfte entgegenwirken: Auf den tatkräftigen (Roncalli)-Papst Johannes XXIII. folgte der unentschlossene Zauderer Papst Paul VI. Was im Sinne der Dialektik von Macht und Ohnmacht in der Romanhandlung deutlich erkennbar wird, ist Augustins durchgehende Obskurierung der Grenze von Rollenpiel und fiktiver Wirklichkeit, eine kalkulierte Schizophrenie, die letztlich doch nicht zu kontrollieren war. "Die Geschichte" - so bilanziert Michael Opitz treffend - "kann einem das eigene Leben kräftig durcheinander wirbeln. Manchmal so, dass einen Zweifel befallen, ob es wirklich das ist, was man gelebt hat. Wenn kaum noch auszumachen ist, ob sie noch die eigene Signatur tragen, spätestens dann scheint es angebracht, danach zu fragen, woher der Wind weht." [18] Augustin ist vorsätzlicher Grenzgänger, verrenkt sich zwischen den beiden Ebenen und durchaus nicht immer "in Schönheit" (R 95).

Der Roman Der Roncalli-Effekt hat kreisförmige Struktur und beginnt mit dem einsamen "Clown Augustino im Ruhestand" (R12), der, im venezianischen Gefängnis sitzend, auf sein Leben zurückblickt. Er wird freigesprochen, obwohl doch vieles, was "in den Akten" steht, als "Komplott von langer Hand, das ich für mich zu nutzen verstand" (R 244) zugestanden wird. Er sinniert: "Ich bin auf der Flucht. Die Zelle ist meine Rettung. Ich richte mich ein" (R 29) und fragt sich letztlich:

Für wen, wenn nicht für Leser, schriebe ich diese Memoiren auf? Ein Irrtum, Signori. Schreiben ist die Flucht nach einem Verrat im Leben, ist die Befreiung von den anderen, die bekanntlich die Hölle sind. Was dabei herauskommt, ist vielleicht eine Begegnung mit mir selber. Und die Wette gilt, ob am Ende ich mich in diesen Papieren erkenne oder Sie mich (R 31, meine Hervorhebung).

Verrat an der Kunst? Reflexion der Freiräume und des bewußt eingesetzten permanenten Unbehaustseins, der taktischen Anpassung und daraus resultierender Doppelgesichtigkeit, des kalkulierten Ineinanders von Opfer und Täter? Ganz gleich, was Clown Augustin behauptet, Memoiren sollen und wollen gelesen werden. Auch der Autor Fries, der sich von der Öffentlichkeit isoliert und ignoriert fühlt, schreibt Memoiren, nun schon, fast zwanghaft, zum dritten Mal. Dem Kritiker Steffen Richter, der ihn auf seinem Wohnsitz in Petershagen besuchte, sagte er resigniert: "Meine Bücher werden ja nicht als Beiträge zur Zeitgeschichte gewertet, sondern als Alibis - wenn man sie überhaupt beachtet". [19] Auch Irrtümer, Verstricktsein und Fehlverhalten könnten durchaus Wesentliches über die Zeitgeschichte aussagen, könnten erhellen, statt verhüllen. Dazu aber gehört Mut und Einsicht. Aber Fries sieht sich auch weiterhin - das erhärtet seine dem Roman folgende, in der Ich-Form gestaltete Autobiographie Diogenes auf der Parkbank - als eine Art "gebranntes Kind", denn seine fiktive Figur, der Clown, sagt:

Der dumme August, der nur so heißt, der Mann mit der roten Perrücke und der Knollennase, er ist mißtrauisch bis zuletzt. Er ist ein gebranntes Kind. Er bleibt der exzentrische Kobold des Lächerlichen, wie ein kluger Mann, auf dessen Namen ich jetzt nicht komme, einmal gesagt hat. Habe ich mich deutlich ausgedrückt? Haben Sie die nötige Information für einen [...] Artikel? (R 13).

In der Tat, ja! Die Brandwunde heilen kann allerdings nur Fries selbst, sollte er denn "nach der Begegnung mit mir/[sich] selbst" (R 31) überhaupt wollen, daß Selbstgerechtigkeit im öffentlichen Bereich zu Gerechtigkeit wird.

Endnoten

1 Siehe dazu meinen Artikel Christine Cosentino, "Überlegungen zu Formen autobiographischen Schreibens in der östlichen Literatur der neunziger Jahre," glossen 12 (2001) www.dickinson.edu/glossen

2 Fritz Rudolf Fries, Im Jahr des Hahns. Tagebücher (Leipzig: Kiepenheuer, 1996). Abgekürzt im Text der Arbeit mit der Sigle "H".

3 Fries, Der Roncalli-Effekt (Leipzig: Kipenheuer, 1999). Abgekürzt im Text der Arbeit mit der Sigle "R".

4 Fries, Diogenes auf der Parkbank. Erinnerungen (Berlin: Das Neue Berlin, 2002) Abgekürzt im Text der Arbeit mit der Sigle "D".

5 Timothy Dow Adams, Telling Lies in Modern American Autobiography (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1990) ix.

6 Roy Pascal, "Die Autobiographie als Kunstform," Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hg. Günter Niggel (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989) 148-157; hier 148.

7 Günter de Bruyn, Das erzählte Ich: Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie (Frankfurt/M.: Fischer, 1995). 58

8 Ibid, 42.

9 Simone Barck, "Wollte man durchs Leben kommen. 'Spanische Gesinnung..' In seiner Autobiographie legt sich Fritz Rudolf Fries in die Erinnerungstonne," Freitag 22.3.2002

10 Paul Kroh, Wörterbuch der Antike, 7. Auflage (Stuttgart: Kröner, 1966) 122. Stichwort "Diogenes aus Sinope."

11 Steffen Richter, "Die DDR als Schelmenroman betrachtet. Traum vom Recht auf Verstellung: Fritz Rudolf Fries ist versucht, die Verstrickungen von Literatur und Spitzeldienst zu ästhetisieren. Ein Ortstermin," Frankfurter Rundschau 13. Juni 2002.

12 Michael Opitz, "Alles ist Vorstellung. In den höchsten Niederungen," Freitag 11./10. März 2000.

13 Gertrude Stein, "Sacred Emily," in Selected Writings of Gertrude Stein (Vintage Book 1990).

14 Horst S. und Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur (Tübingen: Francke, 1987) 80-81; Stichwort "Clown".

15 Karin Urich, "Manegenzauber im Sozialismus," Deutschland Archiv 5 (2002): 914.

16 Manfred Jäger, "Fritz Rudolf Fries - IM 'Pedro Hagen'," Deutschland Archiv 3 (1996): 347.

17 Kurt Klinger, (hg.), Ein Papst lacht. Die gesammelten Anekdoten um Johannes XXIII (Frankfurt/M.: Societäts-Verlag, 1982).

18 Michael Opitz, "Alles ist Vorstellung ..."

19 Richter, "Die DDR als Schelmenroman betrachtet ..."