rezension


Christa Wolf Leibhaftig. Erzählung (München: Luchterhand, 2002).

Leser, die mit Werken vertraut sind, die Christa Wolf im Laufe der Jahrzehnte vorrangig in der DDR geschrieben hat, wissen, wieviele ihrer literarischen Figuren mit Krankheiten auf Fehlentwicklungen ihres Staates reagierten, an dessen utopisches Potential sie einst zutiefst geglaubt hatten. Krankheiten glichen verschlüsselten Botschaften des Leibes an den Kopf, der an humanistischen Entwürfen festhalten wollte, obwohl er diese doch als längst gescheitert erkannt hatte. "Leibhaftige" Seismographen eines unerträglich gewordenen gesellschaftlichen Zustandes waren u.a. Rita Seidel aus dem Geteilten Himmel, Christa T. aus dem Nachdenken, der am Gehirn operierte Bruder der Erzählerin aus "Störfall" oder die an psychischen Erschütterungen leidende Ich-Sprecherin aus "Was bleibt". Gestaltet hatte Christa Wolf dieses Verzagen vor der Gesellschaft in einer Sprache der Zwischentöne und Andeutungen, die sich letzter Deutung verschloß. Dieses Vaszillieren zwischen Zeigen und Verbergen diagnostiziert Wolf selbst in ihrer neuesten, autobiographisch grundierten Erzählung "Leibhaftig" als Betäubung: "Wovon betäubt. Von dem Schock, daß alles, was ich sage oder schreibe, verfälscht ist durch das, was ich nicht sage und nicht schreibe". (159)

Wiederum geht es in Wolfs neuestem Werk, der Titel suggeriert es, um den Leib einer Patientin, der für Nichtaufgearbeitetes "haftet". Man könnte es anders fassen: das Buch ist eine Absage an den "Leibhaftigen", denn die nachdenkende, auf Genesung orientierte Kranke fragt sich, "ob es denn auch einen Teufel gibt, der stets das Gute will und stets das Böse schafft. ... Der Teufel, den ich im Sinn habe, ist der allervernünftigsten Vernunft entstiegen oder (meine Kursivierung) ihr in einem unbeobachteten geschichtlichen Augenblick entwichen". (119) Der Begriff gelungener Teufelsaustreibung würde sich anbieten, sollte der der allervernünftigsten Vernunft entsprungene Leibhaftige nicht doch noch kleine verborgene Nischen und Eckchen im Denken der Kranken/Geheilten gefunden haben. Lassen sich Hinweise dazu im Stil der Erzählung aufspüren? Wiederum geht es um ein Schweben und Gleiten, Andeuten und Nichtbenennen, also Bewußtseinshaltungen, die sich diesmal jedoch aus der Natur der Krankheit erklären lassen, einer verschleppten Bauchhöhlenvereiterung und der sie begleitenden Fieberträume, eines Absackens und Aufsteigens, Halluzinierens und Träumens. Mit diesem Wahn vermischt sich der Sinn konkreter Lebenserfahrungen, die fragmentarisch ein- und ausgeblendet werden. Eine eindeutige geglückte Genesung? Kaum, denn letztlich muß jetzt der Leser entscheiden, ob es sich um eine gelungene Entgiftung handelt oder schlicht um die Akzeptanz der Unwiederbringlichkeit einer geschichtlichen Möglichkeit, des "unbeobachteten geschichtlichen Augenblicks" also, in dem die "allervernünftigste Vernunft" entwich.

Die Handlung ist knapp. Ende der achtziger Jahre wird eine namenlose Frau in ein Krankenhaus eingeliefert und muß sich ausgedehnten Untersuchungen und Operationen unterziehen. Sie beobachtet sich selbst, protokolliert ihre Krankengeschichte teils nüchtern-distanziert in der dritten Person, dann wieder mit starker Emotion in der Ich-Form. Die Reibung an der einstigen DDR orientiert sich primär an der Person des Studienfreundes und hohen Funktionärs Urban, der ihr einst nah war, der sich ihr dann aber mehr und mehr entfremdete und schließlich Selbstmord beging. Sie scheint sich nicht völlig von ihm lösen zu können, denn noch am Ende des Buches, als sie für die Ärzte bereits eine Genesene ist, heißt es über Urban: "Das Quentchen Hoffnung, das noch in ihm war, das war seine schwache Stelle, sein Lindenblatt. [...] Er hat versäumt, rechtzeitig jede Hoffnung abzutöten. Das hat ihn umgebracht." (180) In die Urban-Reflexionen dringen Erinnerungsfetzen an die DDR-Vergangenheit, u. a. an die Abhörmethoden der Stasi oder an den Ausschluß aufmüpfiger Schriftstellerkollegen aus dem Verband. Das alles nur angedeutet, für nichteingeweihte Leser kaum verständlich. Daneben wirkt die Schilderung des Mangels im Krankenhausalltag der maroden DDR völlig sachlich, registrierend.

Den Ärzten gelingt es zunächst nicht, die Killerzellen unter Kontrolle zu bekommen und auf lange Zeit schwebt die Patientin zwischen Leben und Tod. In ihren Fieberphantasien erlebt sie die Hölle, gerät in den Hades und verliert sich in den Tunneln und Schächten eines seelischen Labyrinths. Diese Todesnähe gestaltet sich als mythologisches Ereignis, in dem der Narkoseärztin Kora Bachmann eine nicht unwesentliche Rolle zukommt, denn diese "Kore" Persephone bringt die langsam Genesende aus dem Hades zurück in die obere Welt. Oder war es letztlich doch der dünne Pathologe mit den hohlen Wangen und den "leblosen", kalten Händen, der so überdeutlich den Tod - ein "Abgesandter aus der Unterwelt" (165) - verkörpert, der sie gerettet hat? Nur beiläufig und weniger deutlich in der Beschreibung wird sein "tiefschwarzes Haarfell, dessen Spitze weit in die Stirn hineinreicht" (166) erwähnt. Man denkt unwillkürlich an den Teufel traditioneller Bühneninszenierungen. Aber hier ist es wieder ein "guter", ein "rettender" Teufel, der "das Leben liebt", der trotz seines furchteinflößenden Aussehens Hoffnung gibt, ein Teufel, den es "mitnimmt, wenn ein letaler Ausgang nicht zu vermeiden war" (170-71). Ist es nun jener bereits erwähnte Teufel, den "ich [die Erzählerin] im Sinne habe", nämlich die "allervernünftigste Vernunft?" Die Erzählerin läßt in der Schwebe, wie weit der Prozeß der Desillusionierung mit ihrem vergangenen Staat oder damit, was dieser Staat als Hoffnung einmal verkörperte, nun wirklich abgeschlossen ist.

"Leibhaftig" ist ein Buch mit offenem Ende. Christa Wolfs Bewunderer - und sie hat viele - werden es als eine Neuorientierung lesen, vielleicht sogar ein Angekommensein; Zweifler dagegen spüren in den Zwischentönen die für Wolf typische, immer noch fortwirkende, aus der Sozialisierung erklärbare Bennungsscheu bzw. "Betäubung" auf: "daß alles, was ich sage oder schreibe, verfälscht ist durch das, was ich nicht sage oder schreibe".

Christine Cosentino
Rutgers University