rezensionen


Jakob Littner, Mein Weg durch die Nacht. (Mit Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Textadaption), hrsg. v. Roland Ulrich und Reinhard Zachau (Berlin: Metropol Verlag, 2002).

Die Herausgeber Roland Ulrich und Reinhard Zachau veröffentlichen in diesem Band den authentischen Bericht des Holocaust-Überlebenden Jakob Littner (Mein Weg durch die Nacht. Ein Dokument des Rassenhasses. Erlebnisbericht, 1945), der Wolfgang Koeppen als Grundlage seines literarisierten Werkes Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch (1992, 1994) gedient hatte. Koeppen hatte letzteres Werk unter seinem Namen veröffentlicht. Vorausgegangen waren diesem Buch zwei weitere, von ihm als Lektor bearbeitete Veröffentlichungen (1948, 1985), Aufzeichnungen aus einem Erdloch, die einem gewissen Jakob Littner zugeschrieben wurden, von dem man nicht genau wußte, ob er wirklich existierte oder ob sich hinter diesem "Pseudonym" ein anderer Autor verbarg, vermutlich wieder Koeppen.

Der Band der Herausgeber Ulrich und Zachau hat zwei Bedeutungsstränge bzw. zwei Verdienste. Die Veröffentlichung des Urtextes Mein Weg durch die Nacht dient einmal unserem Geschichtsverständnis, denn hier handelt es sich um einen historischen, um Wahrheit bemühten Text eines Augenzeugen, der über Nazi-Greueltaten berichtet; kurz, um ein frühes Dokument der Holocaust-Literatur und -Forschung. Zum anderen gibt der Band eine erhellende Übersicht zum "Fall Koeppen": zur fragwürdigen Verfasserschaft der Littner-Aufzeichnungen und zur Entstehungsgeschichte des endgültigen Werkes vom Urtext an. Die Herausgeber lassen keinen Zweifel, daß Littner wirklich gelebt hat und daß es sich hier folglich um zwei Werke handelt: Littners 1945 in München beendetes Manuskript Mein Weg durch die Nacht und die dann folgenden, von Koeppen als Lektor betreuten und neu bearbeiteten Aufzeichnungen aus einem Erdloch, die schließlich 1992 unter seinem eigenen Namen herauskamen. Die Metamorphose des Koeppenschen opus und die Atmosphäre berechtigter Plagiatsanschuldigungen sind zweifelsohne für den Germanisten von Interesse. Diese Rezensentin sieht den Schwerpunkt des Bandes jedoch vorrangig in der Erstveröffentlichung des Urtextes, der vorher nur im Washingtoner Holocaust-Archiv zugängig war. Dieser Text ist ein Geschichtsdokument von Bedeutung, ein durchaus glaubwürdiger Augenzeugenbericht über die "Aktionen", die das "alltägliche Leben der Juden im Vorfeld der Vernichtungslager aufzeigen." Beigegeben sind dem veröffentlichten Urtext Berichte über Recherchen, die Biographie des Jakob Littner betreffend; weiterhin erhellende Annotationen, Korrespondenzen und Gespräche mit Mitgliedern aus der noch lebenden Littner-Familie und Pressereaktionen zu Wolfgang Koeppen und Jakob Littner.

Was diesen Text über ein jüdisches Einzelschicksal so wertvoll macht, ist die um Gerechtigkeit und Wahrheit bemühte Darstellung historischer Details, die nichts ausspart und selbst dort akribisch dokumentiert, wo man es keineswegs erwarten würde. Es geht um die unvorstellbaren Grausamkeiten der Nazis und ihrer polnischen, ukrainischen und auch jüdischen Handlanger, denn auch einige Mitglieder des Judenrates gehörten dazu, die ihre Glaubensbrüder verrieten, um ihr eigenes Leben zu retten. Littner beschreibt das Treiben des Judenrates und der jüdischen Miliz gnadenlos: "Diese Tatsache muß im Interesse der Wahrheit festgestellt werden" (Littner-Text, 58). Aber er will auch berichten, daß, "wo der dunkelste Schatten des Bösen fällt, sich dicht daneben das hellste Licht des Guten ausbreitet" (Littner, 12). Er hält es für seine "heilige Pflicht", in diesem Erinnerungsbuch nicht nur den unzähligen Opfern des Holocaust einen Gedenkstein zu setzen, sondern auch dem "Werkzeug Gottes, den vielen Menschen, die ihm mit edler Gesinnung halfen", den Massenmord zu überleben. Die Liste der Helfer ist endlos. Eine Schlüsselrolle kommt jedoch Littners ehemaliger (christlicher) Geschäftspartnerin Christine zu, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, ihn zu retten.

Der 1883 geborene Littner, der durch seinen Vater die polnische Staatsbürgerschaft hatte, sollte am 28. Oktober nach Polen deportiert werden. Mit dieser geplanten Aktion beginnt der Roman. Littner flüchtet von Stadt zu Stadt, bis er schließlich in den kleinen Ort Zbaracz in der Nähe von Tarnopol kommt, wo er die "Säuberungsaktionen" in verschiedenen Verstecken, zuletzt in einem Lehmloch unter einem Keller überlebt. Unter dem Leitmotiv "Es gab immer etwas Neues in Zbaracz" berichtet er von Deportationen, Rollkommandos, Massenerschießungen, Judenaktionen und Großrazzien der SS unter Mithilfe der ukrainischen Miliz und des Judenrates. Littner erzählt aber auch vom "kleinen" alltäglichen Verrat durch den Nachbarn, von Habgier, Bestechung, Zynismus und Gleichgültigkeit der Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld. Im März 1944 befreit ihn die Rote Armee. Er geht zunächst zurück nach München, wo er seine Erlebnisse aufzeichnet. Littner stellte dann Kontakte zu Personen her, die sich um das Manuskript kümmern sollten. Er selbst wanderte 1947 in die USA aus. Der Rest ist Lektoren- und Verlagsgeschichte, denn Wolfgang Koeppen war der Lektor für den Münchener Verlag von Herbert Kluger, der den Bericht 1948 zum ersten Mal veröffentlichte. Er mußte das Manuskript bearbeiten und literarisieren.

Das Manuskript ist ein Erinnerungsbuch, das vom Gestus festen Gottesglaubens getragen ist. Es differenziert zwischen den "Guten, den Bösen, den Gleichgültigen". Es berichtet "ohne Haß", was sich zugetragen hat. Das erstaunt, erschüttert und rüttelt auf. Roland Ulrich und Reinhard Zachau präsentieren in ihrem Band auf Breitenbasis also zum ersten Mal Littners Urtext, d.h. einen historischen Bericht, der weit über germanistisches Interesse hinausgeht. Der Band wird sicherlich bald seinen festen Platz auf den Leselisten und in den Bibliographien der Holocaust-Forschung, in Vorlesungen an Colleges und Universitäten und in Schulklassen finden. Nicht zuletzt trägt Littners um Versöhnung bemühter Ton dazu bei. Den beiden Herausgebern des Bandes sei gedankt.

Christine Cosentino
Rutgers University