rezension


Edwin Kratschmer, Das ästhetische Monster Mensch: Fragmente zu einer Ästhetik der Gewalt. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2002. 317 Seiten.

“Ohne Ethik überlebt die Menschheit nicht”
(Edwin Kratschmer 119)

Das ästhetische Monster Mensch ist das Buch eines Moralisten. In sokratischer Manier beschreibt Edwin Kratschmer kritisch unser seelisches, soziales und künstlerisches Verhalten – so kritisch, dass es verstört. Schon wie bei der Lektüre von Habakuk, Edwin Kratschmers 2001 erschienenem Roman, bekommst du manchmal Gänsehaut beim Lesen. Gleichzeitig ist die Formulierungskunst des Autors hinreißend. Nicht nur mit der rhetorischen Figur des Polyptotons sowie mit Binnen- und Endreimen spielt Edwin Kratschmer virtuos, er erweist sich auch als ein Meister der Anafora und des Stabreims: “Und bei Signal da setzt sich in Gang das System, da sickern die Sekrete, da staut sich der Speichel, da steilt der Schwanz, da klirren die Ketten, da kläffen die Köter, da werden schlaffe Schoßhunde zu schnappenden Schießhunden”. Dazu Wortneuschöpfungen. “Schlagtottexte” oder “Gutmensch”; die letztere ist meist sarkastisch gemeint.

Wen der Autor auf kunstvolle Weise so entsetzlich beschreibt, ist nicht das Tier Mensch, sondern das Monster, noch schlimmer: das ästhetische Monster. Der Mensch mit seiner Lust, Gewalt nicht nur auszuüben, sondern auch ästhetisch zu verbrämen. Tiere haben keine Sprache, vermögen nicht ein Wort wie “Jude” zu benutzen, deshalb können sie keine ästhetischen Monster sein. Und Edwin Kratschmer zeigt nicht mit dem Finger auf uns, den Leser; er sagt “wir”. Das macht das Buch sympathisch. Die meisten Beispiele, die in zwölf Kapiteln aufgeboten und analysiert werden, fallen in die Zeiten des Nationalsozialismus und Stalinismus, die der Autor zu Recht “Erziehungsdiktaturen staatsterroristischen Ausmaßes” nennt. Im letzteren Fall sehen wir nicht nur die DDR, so unschön wie sie war, wiederauferstehen, sondern auch den Balkan. Serbien. Milan Dor, der Austroserbe – einer der ganz wenigen, die den absoluten Staat in Frage zu stellen wagten.

Herausragt eine Analyse des hanebüchensten Nationalismus und Antisemitismus in der Geschichte der deutschen Literatur und Philosophie. Namen, die überraschen, allerberühmteste. Der Stil verrät, der Autor ekelt sich vor ihnen. Herausragen auch Gedanken über den Begriff des “Schönen”, vor allem des Ideal-Schönen mit seiner Tendenz, “in einer Ikonologie des Terrors über alles Andersartige” zu triumphieren. Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe, Schiller als Rassisten, zumindest punktuell. Aber auch die entgegengesetzte Haltung (schön ist, was Lust auslöst) ist gefährlich. Schon allein Edwin Kratschmers Keulenschwingen gegen die moderne “Fäkalästhetik” ist eine Lektüre des Buches wert. Wen er hasst, und daraus macht er keinen Hehl, sind die Zyniker unter den Schriftstellern, die per Kunstwerk “ihren Vernichtungswillen ejakulieren”. Nicht nur De Sade und seine französischen Nachfolger. Auch Urs Allemann, der 1988 für seine Erzählung “Der Babyficker” den begehrten Ingeborg Bachmann-Preis erhielt. Die Geschichte, auch die der Literatur, für den Autor ist sie ein “wüster Horrortrip”.

Edwin Katschmers Urteile sind pauschal. Das macht, bei seiner großen Formulierungskunst, die Lektüre zeitweise amüsant. Wieviel Anlass zu Schadenfreude, falls man den einen oder anderen der so behandelten Autoren nicht mag. Zum Beispiel den, der “Erst kommt das Fressen, dann die Moral” gedichtet hatte. Verwirrt war ich im Falle meines Lieblingsautors Friedrich Nietzsche, der auf das, was den Soldaten im ersten Weltkrieg in den Tornister gesteckt wurde, reduziert wird. Und verwirrt war ich in meinem Fall: “alias IM Hölderlin”. Gewiss, als ich jung war, ein Backfisch, den ich heute verabscheue, da war ich das. Aber entwickelte ich mich danach nicht zu OPK “Ecke” und OV “Kontra” und hatte mein Päckchen zu tragen?

Noch eine Anmerkung zu Nietzsche, dem Kratschmers aller-, allergrößte Aversion gilt. Zarathustra, “der Schlächter Gottes”. Gewiss. Wer aber, so fragte ich mich bei der Lektüre von Nietzsches Text, war nicht schon alles im Namen Gottes geschlachtet worden? Außerdem, Nietzsche war in der DDR verboten, sein Name so ein “Schlagtotwort” wie “Klassenfeind”. Wer wirklich gegen “Erziehungsdiktaturen staatsterroristischen Ausmaßes” ist, glaube ich, der muss für Nietzsche sein. 1988, an der Universität von Minnesota -- ich las zum erstenmal Nietzsche -- schrieb ich mir das folgende Zitat heraus: “Allzugut kenne ich diese Gottähnlichen: sie wollen, dass an sie geglaubt werde, und Zweifel Sünde sei. Allzugut weiss ich auch, woran sie selber am besten glauben … ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding an sich”. Ich dachte natürlich an die Gottähnlichen, die in Berlin-Wandtliz wohnten, und ahnte plötzlich, warum Nietzsche dort, wo ich herkam, verboten werden musste. Das Wichtigste jedoch, was ich beim Studium Nietzsches lernte, war perspektivisch zu denken. Um eine Sache herumgehen und sie aus verschiedenen Winkeln betrachten. Die gegensätzlichen Aussagen, die dabei zustandekommen, gelten lassen, statt sie mittels eines dominierenden Signifikanten etwa dem “Standpunkt der Arbeiterklasse” durchzuideologisieren. An einer Stelle seines Buches fragt Edwin Kratschmer, wie schuldig ist ein Schriftsteller an der ideologischen Benutzbarkeit seiner Schriften durch totalitäre Ideokratien? Ich hüte mich in Nietzsches Fall, diese Frage allzu vorschnell zu beantworten.

Ewin Kratschmers provokantes Buch hat eine Bibliographie, aber es fehlt ihm ein Index. Nicht nur für Namen von Autoren, sondern auch für wichtige Begriffe wie “Sklavensprache” oder “Gewissen”. Viele der Definitionen sind so prägnant, dass man als Scholar, der Artikel schreiben muss, gern zitieren möchte; mit einem ausführlichen Index wären sie leichter zu finden.

Gabriele Eckart,
Southeast Missouri State University