literarische texte


Helga Kurzchalia

Abendmahl
I.
Von der Wand lächelt der Vater
im goldenen Rahmen der Weimarer Jahre.
Hier kochen sie nach seinen Rezepten.
Hier könnte auch London sein,
New York oder Amsterdam.
Hier steht jeden Geburtstag
die Welt zur Debatte, zwischen Filet
und Schokoladentorte.
Hier altern die Freunde seiner Tochter
Jedes Jahr in gleicher Besetzung.

II.
Niemandem traut er.
Nicht Frau, nicht Geliebter.
Weder Mutter noch Tochter.
Keinem Volk, keinem Staat.
die Welt
Ein TrümmerLeichenBerg
Die Albright hatte keine Ahnung.
Der Fischer hat uns alle verraten.
Die Serben haben sie totgeschossen.
Im Kaukasus ist der Teufel los.
Um Ruanda scherte sich niemand.
Was bauen sie auch so große Türme!

III.
Ich kanns nicht mehr
Halt ein
Und schweig
Bitte
Red nicht weiter
Ach halts
Maul Kein
Sterbenswörtchen Und
Der Leichengeruch
Bist doch von
Sinnen Ich
Fürcht mein
Kopf wird und
Das Herz mir

IV.
Strunz ist auch Therapeut
Er tritt im Fernsehen auf.
Er tritt erst mit dem Ballen auf.
Er rät jedem,
Es ihm nachzutun
Er ist auch Therapeut.
Er hat blondes Haar.
Er macht viel Geld.
Er steht früh auf.
Er hat Stroh im Kopf.
Alle laufen ihm nach.
Er tritt mit dem Ballen auf.
Ein Verrückter ist er.
Er ist auch Therapeut.
Und Deine Patienten?

V.
Mutter erklärt die Welt.
Der Sohn schweigt sich eins.
Er lächelt fein.
Er teilt Suppe aus.
Er fragt etwas.
Er stellt Teller hin.
Er kocht thailändisch.
Er nimmt sich noch.
Er schlingt zu rasch.
Er räumt schon ab.
Er geht hinaus.
Er sitzt am Telephon.
Er lacht durch die Wand.
Er kehrt zurück
und bemuttert uns.
Während Großvater
Einen Blick auf ihn hat.

werd ich´s wissen?

wird dunkel sein oder tag
lau kalt naß warm
welche stunde welches jahr
fällt regen weht wind
schweigt die sichel
hält der himmel still
schreit das kind
wessen stimme höre ich
wessen hand berührt mich
werd ich zittern oder starr sein
wer wird noch da sein

ob sekunden oder
vieljahrelang du aber

wirst nicht bei mir sein.

ungereimtes

fast hätt ich dich nicht erkannt du
rufst auch viel zu selten an hast
du etwa lang gewartet ich kam
nicht weg vom radio legst du
deinen mantel ab in letzter
zeit friere ich leicht gefällt
dir meine neue tasche in tel
aviv gabs ein attentat hab ich
mein geld vergessen der
chef vom amt erwartet
mich ob er was im schilde führt heute
kam ein langer brief rufst
du die kellnerin der
mann stammt aus tempelhof sitzt
der rock zipfelt er hast
du die dünne frau da bemerkt kommt
sie dir auch sonderbar vor mutter
sah immer tadellos aus was
macht der junge nur in tel aviv ich
habe wieder ein stechen im ohr wo
ist bloß das schlüsselbund mein
lieber mann findet nie etwas hast
du die berliner zeitung gelesen unser
kind ist ganz wie er nimmst
du auch orangensaft nach
der torte erzählst du von dir nur eine
einzige frage noch

ist heute

ist heute
ist letztes jahr
bin ich du
oder sechs jahr
ist stumm oder warm
und die nacht schwarz
blau wie
die kammer nebenan

Ordnungsliebe

Abends
sammle ich
die Stunden ein,
die
wie vergessene Schuhe
auf dem Fußboden
liegen.

trauer

wenn
ich
hunger
habe
lese
ich
in
rezeptbüchern.
wenn
ich
sehnsucht
habe,
wandert
mein
blick
zu
dem
foto,
das
mit
dem
rücken
zur
wand
steht

Ich könnte Licht einschalten
Oder im Dunklen sitzen
Das Rollo ist zugezogen.

Ich könnte aufstehen
Oder liegenbleiben
Durch den Spalt dringt Licht.

Ich könnte Fenster putzen
Oder Geranien gießen
Draußen pfeift jemand.

Ich könnte zur Nachbarin gehen
oder den Kater suchen
Auf dem Asphalt nieselt es.

Ich könnte Brot abschneiden
Oder gar nichts essen
Auf der Straße dämmert es.

Ich könnte Zeitung lesen
oder weiter schlafen
Ein Lüftchen weht.

Ich könnte ein Bad nehmen
oder heiße Milch trinken
Der Himmel über mir

Ein Leichentuch.

Was ich möchte

Was ich möchte, will ich nicht
Wo ich war, bin ich nicht
Wie ich bin, werd ich nicht
Wohin ich geh, bleib ich nicht.