rezension


Frederick Lubich, Wendewelten. Paradigmenwechsel in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte nach 1945, Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH, 2002

Frederick Lubich, der an der Old Dominion University in Norfolk unterrichtet, gehört zu den produktivsten der nach dem zweiten Weltkrieg geborenen und in den USA lehrenden Germanisten, die sich mit der Literatur der Nachkriegszeit beschäftigen. Bisher waren seine Veröffentlichungen nur in verstreuter Form, in verschiedenen Fachzeitschriften zugänglich. Dem hat nun der auch äußerlich sehr schöne Band Wendewelten. Paradigmenwechsel in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte nach 1945 abgeholfen, der Lesern verschiedene seiner schon früher veröffentlichten Arbeiten zugänglich. Er vereint in zwei Teilen „Fallstudien zur deutschen Nachkriegsliteratur“ mit „Deutsch-amerikanischen Rückblicken in die Zukunft“, die sich in Form von Rezensionen, Interviews und einer Ballade zum Berlin des Jahres 2000 darbieten.

Typisch für alle Beiträge des Sammelbandes ist es, daß sie sich den großen Themen unserer Zeit zuwenden. Moderne und Faschismus sowie deren Nachwirkungen in der Bundesrepublik sind es, die Lubich interessieren. Die erste und die letzte Arbeit dieses Bandes beschäftigt sich mit jeweils einem Text Thomas Manns, der 1943 geschriebenen Novelle Das Gesetz und seinem Zauberberg. Während Lubich die Novelle als „eine komplexe Textmontage sieht, in der sich mythische Volks- und Kulturgründung und moderne Volks- und Kulturzerstörung vielfach gebrochen ineinander spiegeln“ und dabei einen übersehenen Beitrag zur Faschismuskritik leistet, ist Manns großer Bildungsroman für ihn ein „elegischer Schwanengesang auf die untergehenden Kulturen der Zaren- und Kaiserreiche Mittel- und Osteuropas.

Eine Reihe von Beiträgen zur Literatur nimmt die literarische Behandlung der Nachkriegszeit unter die Lupe. Zu nennen wäre hier u. a. Bernhard Vespers „Kultbuch der 68iger Revolution“ das autobiographische Romanfragment Die Reise, das sechs Jahre nach dem Freitod des jungen Autors im Jahre 1977 erschien war und sofort zu einem Verkaufserfolg wurde. Lubich interpretiert die Vespersche Beschreibung der Loslösung von seinem Vater, einem bekannten nationalsozialistischen Autor, dessen Drogenerfahrung und Beziehung zu Gudrun Ensslin, mit der er sich 1962 verlobt hatte, als eine repräsentative Fallstudie zur „Psychopathologie des deutschen Totalitarismus.“

Außerdem gehören sein Essay zu Günter Grass’ Kopfgeburten zu dieser Gruippe von Beiträgen zur Nachkriegsliteratur, wie auch seine Arbeit „Bester Vater – Bestie Vater: Familienromane der Töchter in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur", die „fiktionalisierte Vater-Tochter-Beziehungen der Schriftstellerinnen Ingeborg Bachmann, Gabriele Eckart, Anja Lundholm und Alissa Walser untersucht“.

Zu nennen wäre auch der Aufsatz zu Max Frischs 1957 erschienen Roman Homo Faber, den Lubich als einen Initiationstext liest, der „auf modellhafte Weise den Umbruch einer modernen, rationell-technologisch orientierten Weltanschauung in eine zunehmend intuitiv-mythologisch inspirierte Weltvision chiffriert.“ Die Reihe bemerkenswerter Arbeiten ließe sich fortsetzen. Es soll aber noch auf seine Interviews mit bedeutenden Autoren, Wissenschaftlern und Zeitzeugen verwiesen werden, wie zum Beispiel auf die mit Elisabeth Alexander, Guy Stern und John Woods, die gut lesbar Wichtiges zur Sprache bringen.

Insgesamt ein lesens- und überlegenswertes Buch.

Wolfgang Müller
Dickinson College