rezension


Die Vergrößerung der kalten Heimat -- Zu Felicitas Hoppe, Paradiese, Übersee. Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek (2003)

„Am Vorabend des zweiundzwanzigsten Zwölften betraten der Ritter und der Pauschalist das Festland von der Nordseite her.“ Mit diesem Satz beginnt das dritte Buch von Felicitas Hoppe: „Paradiese, Übersee“. Es handelt sich um einen Roman, aber was heißt das schon? Das Buch wäre nicht von Felicitas Hoppe, wenn man seinen Inhalt kurz erzählen könnte. Nach den Familien- und sonstigen Erlebensfallgrotesken des fulminanten Debüts Picknick der Friseure von 1996 und dem koboldhaften Romanbericht von einer Weltreise zur See, 1999 erschienen, der den Namen von Magellans Chronisten Pigafetta trägt, folgt nun ein Drittes, das als Ritterroman zu bezeichnen, wahrscheinlich vorschnell wäre.

Auf dem Umschlag prangt zwar ein Reiter, aber er ist ohne Rüstung, und wurde uns im übrigen von Werner Tübke geschenkt. Eine der Hauptfiguren der Erzählung wird tatsächlich als Ritter bezeichnet, nur, ein weiterer ist Pauschalist, also ein Zeitungsschreiber, und ein Dritter, der große abwesende, um nicht zu sagen längst abgereiste Dr. Stoliczka, Wissenschaftler. Selbstverständlich gibt es einen sprechenden Hund, der später unter dem Namen Munter auftreten wird. Nicht ganz unwichtig erscheint auch ein Zimmermädchen aus Lissabon, die sich, wie es im Buch heißt, „in einen Ritter verliebt“ habe, „in einen dieser unmöglichen Menschen, die ihre Rüstung auch nachts im Bett nicht ablegen, zu denen man folglich nicht vordringen kann. Sie hat sich wirklich und allen Ernstes von einem Mann hinreißen lassen, der weder Zeitungen liest noch weiß, wie man Karten spielt.“ (S. 106).

In dem Buch stecken gleich mehrere Romane. Das Grundmotiv mag die Reise sein, aber ihr Ziel lässt sich nicht genau verorten und ihr Zweck schon gar nicht eingrenzen. Der Ritter ist vielleicht auf dem Wege zum Gral, aber was ist der Gral, und wieso nach Indien und alles mit dem Schiff? Um das Berbiolettenfell zu finden? Sie haben richtig gelesen: das Berbiolettenfell.

Der Pauschalist mit seinem Diktiergerät ist ebenfalls der Erkenntnis auf der Spur, nicht anders der Forschungsreisende Stoliczka, aber dieser scheint eher einem Kolonialroman entsprungen. Er ist sogar eine belegbare historische Figur des 19. Jahrhunderts.

Der Text ist auf drei Teile aufgefächert, die jeweiligen Erzähler scheinen, auf den ersten Blick, der Pauschalist, der Ritter, der Forscher und, man höre und staune, ein Kleiner Baedeker zu sein. Ein beiläufiges Ich mischt sich gelegentlich ein, übernimmt, mit dem zweiten Teil, ausdrücklich die Erzählfäden. Wer aber ist dieses Ich? Spätestens mit dem Auftauchen des Kleinen Baedeker, der sich als Bruder des Pauschalisten erweist, und der Leserentdeckung, dass das Zimmermädchen die Schwester der beiden ist, wird das Verwirrspiel offensichtlich. Es stellt sich heraus, das manche der Personen eigentlich Travestien sind, aber was ist schon ein Original? „Der Pauschalist war nämlich verliebt in Vergleiche und in das Motiv des Verrats, und so hatte er kurzerhand beschlossen, den Hund in ein Motiv zu verwandeln, wie er sich alles, was ihm zu nahe trat oder auf unbestimmte Weise lästig wurde, unterwarf, indem er es zum Motiv oder Bild erklärte, gelegentlich auch zu einer Metapher oder zu einem Symbol.“(S. 13).

Es sind nicht nur mehrere Romane, die da erzählt werden, es ist darüber hinaus auch noch das Erzählen selbst, das unaufdringlich und jenseits aller Literaturwissenschaft zum Thema wird, in der untergründigen Frage wie Erzählung und Erzählstoff zueinander finden. Was Ritter-Kolonial oder Reiseroman zu sein vorgibt, entpuppt sich an vielen Stellen als Märchen. Es ist der Ton des Kunstmärchens, der die erzählerischen Ausuferungen grundiert. Als seien Marco Polo und Pinocchio zusammengekommen, um gemeinsam den großen Comic der kleinen Existenz zu erzählen. „Alles bleibt im Spiel, Freundschaft wie Feindschaft, sogar ein Handschuh auf der Straße von Straßburg, weil am Ende alles, jede Karte, jeder Handschuh und auch der kleinste Anflug von Zuneigung und Abneigung Teil der Geschichte werden muss, und wenn unterwegs trotzdem etwas verloren geht, ist es der Feigheit geschuldet und nicht mangelnder Erinnerung.“ (S.26).

Das Buch bringt Ferne und Nähe zusammen, und mit dem zweiten Teil, „Wilwerwiltz“, wird deutlich, dass es die Nähe ist, die eigentlich verhandelt wird, die Ferne aber mehr und mehr ein Projektionsfeld der Sehnsüchte darstellt, etwas was Paradiese für das abendländische Selbstverständnis immer schon waren. Wir denken stets an das eigene kleine Land, wenn wir vom Anderen sprechen, und die Untersuchung des Fremden meint immer wieder die Vergrößerung der kalten Heimat. Bei Felicitas Hoppe sind es die Ardennen und die winzigen luxemburgischen Orte, aus denen sich der Kleine Baedeker und seine Schwester davonmachen, um bleiben zu können. Was sie dabei tun und lassen, ist in der Anekdote aufgehoben und die Realität erscheint in Versatzstücken gefangen, mit denen die Autorin so souverän umgeht, das schließlich zwar immer noch nichts austauschbar, das meiste aber verstellbar erscheint. Der Reiseroman wird im Handumdrehen zum Familienroman, die Abenteuergeschichte zur Alltagslegende. Und da ist die Weihnachtszeit nicht weit. Bereits auf Seite 7, der bekanntlich ersten Seite eines Buches, wird sie als „Fest aller Tiere“ bezeichnet.

Erzählt wird in ihr und um sie herum. Eine Weihnachtsgeschichte? Der Ausgangspunkt ist der 22. Dezember. Die Autorin wäre nicht Felicitas Hoppe, wenn es nicht auch damit eine Bewandtnis hätte: es ist ihr Geburtstag. „...denn ich habe Geburtstag“, heißt es am Anfang des zweiten Teils, „und glaube fest daran, dass ich einmal im Jahr das Recht darauf habe, frei meine Ansichten zu äußern.“(S. 67).

Die große Wirkung aber geht von der Sprache aus. Sie hat den Zauber, der in der Regel den Autoren des 19. Jahrhunderts vorbehalten ist. Dabei zitiert die Autorin ungeniert aus den Epochen, bedient sich einer nicht unromantischen Ironie, und lässt auch immer wieder in abgründigen Sentenzen den philosophischen Roman erkennen. Wenn der Text die Grundfragen anklingen lässt: „Woher kommen wir, wo sind wir, wohin gehen wir?“(S.85), kennt er keinen Pardon. Parodie und Ernsthaftigkeit halten sich die Waage. Die Unterhaltsamkeit aber speist sich geradezu aus der Spannung, die, beim Lesen, zwischen der Neigung zum ernsthaften Gedanken und der Befürchtung auf das Glatteis einer Lügengeschichte geführt zu werden, entsteht.

Richard Wagner